1.

[175] Herr Thorstein in der Halle sitzt,

Der blinde Greis in Schmerzen,

Ein Enkel liegt in seinem Arm

Und weinet ihm am Herzen.


Wo ist dein Vater, kleines Kind? –

Sein Feind hat ihn erschlagen.

So tröste dich die Mutter dein! –

Tot ist sie von dem Klagen.


So hüte doch Allvater dich,

Lasse dich in Frieden schlafen,

Und wachsen hoch und werden stark,

Bis du den Feind kannst strafen!


In der Halle sitzt der blinde Greis,

Er segnet seinen Enkel:

»Mein Aug' ist dunkel, mein Arm ist schwach,

Es beben meine Schenkel.


O sänke nicht die welke Hand,

So oft ich sie will heben!

Was kann ich so in halbem Tod,

Und du mit halbem Leben?«


So sitzt der blinde Greis und klagt;

Da pocht es an die Pforte,

Und öffnet leis und ruft herein

Zur Schwelle die flücht'gen Worte:


»Die Braut sie mir raubten, es war dein Sohn

Dabei, den hab' ich erschlagen;

Und willst du ihn rächen, es werden dich

Die alten Füße nicht tragen.
[175]

Schnell ist mein Tritt, irr ist mein Gang,

Dem Wolf gleich in der Wüsten,

Es soll nach meinem roten Blut

Vergebens euch gelüsten.


Doch Buße biet' ich dir genug:

Du kannst den Beutel nicht schauen,

So höre rasseln des Silbers Klang,

Deinen Ohren magst du trauen!«


Er schwingt den schweren Beutel hoch,

Steht harrend unter der Schwelle;

Doch aus den blinden Augen springt

Dem Greis die zornige Quelle.


»Weh mir, daß ich nicht wandeln kann,

Wohl mir, daß ich nicht kann sehen!

Es darf in meiner Halle Thor

Des Sohnes Mörder mir stehen.


Er labt den Blick an meiner Faust,

Die nicht mehr weiß zu schlagen;

Er meint, daß ich das liebste Kind

Im Beutel müsse tragen.


Aus dem Herzen, wo den Sohn ich trag',

Aus dem Herzen hol' ich die Waffen;

Die Flüche schick' ich nach dir aus,

Die sollen mir Rache schaffen.


Den Fluch all' deinem Tritt und Schritt

Und deinem schnöden Gelde,

Ich hab' ihn längst hinaus gesandt,

Er harret dein im Felde.


Er gehet um in meinem Stamm,

Er schreit in Aller Ohren;

Du, wandle nur aus meinem Haus,

Bist überall verloren!«


So sitzt der blinde Greis im Stuhl,

Rührt keines seiner Glieder,

Und schlägt mit seiner Stimme Schall

Den Mörder doch darnieder.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 175-176.
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