2.

[176] Und draußen pfeift ihm zu der Sturm,

Es spinnt ihn ein der Regen,

Es sausen ihm die Speere nach,

Und klirren Schwerter entgegen.


In Wind und Wetter schickt nach ihm

Des Greisen Flüche der Norden;

Die Kämpfer hielten über ihn Tag,

Und friedlos ist er worden.


Er schweifet in den Klüften um,

Sucht Wohnung in den Wäldern,

In später Abenddämmrung Grau'n

Wagt er sich nach den Feldern.


Da kehrt er bei den Kämpen ein,

Läßt Salz und Brod sich geben,

Er deckt die Augen mit der Hand

Und ißt mit Hast und Beben.


Doch zündet man die Lampen an,

So fährt er auf vom Sitze,

Daß nicht verratend ihm der Stral

In's Mörderantlitz blitze.


Entwichen ist er auf die Flur –

Die mit ihm Brod gebrochen,

Sie wetzen das Messer hinter ihm;

Die Schuld will sein gerochen.


So scheucht's ihn in dem Land umher

Fünf schöne Jünglingsjahre;

Ihm kommt kein Becher mehr zur Hand,

Kein Kranz mehr in die Haare.


Bei seinen Feinden wohnt die Braut,

Er weiß nicht, was sie treibet.

Er weiß nicht, ob sie weint oder lacht,

Und ob sie ein Anderer weibet.
[177]

Und wie das fünfte Jahr ist um,

Wankt er zu Thorsteins Schwelle;

Der blinde Greis, dort sitzt er noch

Im Gram auf der alten Stelle.


Da stürzt der Jüngling vor ihn hin:

»Bei dir ist kein Vergeben,

Ich lege mein Haupt in deinen Schoos,

Dein Fluch läßt mich nicht leben.«


Dem Greise zuckt's wie Jugendkraft

In seinen welken Armen,

Die Fäuste fassen des Feindes Haupt,

Sie fassen es ohn' Erbarmen.


Doch als er hielt so fest gedrückt

Das Haupt an seinen Lenden,

Am warmen Leben schaudert's ihn

Den Fluch doch zu vollenden.


Da kommt sein junger Enkel auch

In Kindeslust gesprungen,

Und um den Fremdling, wie zum Schutz,

Hält er den Arm geschlungen.


Jetzt will dem Alten, aufgethaut,

Die Faust nicht länger sich ballen,

Jetzt läßt er über des Jünglings Haupt

Die Finger spielend wallen:


»Deine Wang' ist weich, deine Stirn' ist hoch,

Dein Haar ist lang und flachsen;

Es sitzt das Haupt am besten doch

Da, wo es ist gewachsen.


Ja, trag' es auf dem schlanken Hals

In meinem Hof und Garten:

Du sollst an Sohnes Statt mein Feld,

So lang' ich's will, mir warten!
[178]

Fäll' Holz aus meinem Walde dort,

Bau' dir ein Haus daneben!

Jetzt wird mir wohl und däucht mir gar,

Mein Kind sei wieder am Leben.«


Der Jüngling schnellte sein Haupt empor,

Hat rasch sich aufgeschwungen.

Dem blinden Greisen die Zähr' entquoll,

Die Thräne strömte dem Jungen.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 176-179.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon