Fünfter Auftritt.

[74] Margarethe rechts. Georg Mitte, Gaveston zu seiner Linken.


MARGARETHE spricht. Nur hier herein, mein Herr! Verzeiht, daß ich Euch so lange warten ließ.

GEORG. Ei, das hat gar nichts zu bedeuten, gute Frau. Ich habe mir indessen dieses alte prachtvolle Gebäude genau besehen – soweit es sich bei Nacht thun ließ. Dieses Schloß ist ja ein wahres Meisterstück der Baukunst. Er bemerkt Gaveston. Ah, verzeiht, mein Herr! Ihr seid es ohne Zweifel, dem ich diese gastfreie Aufnahme verdanke?

GAVESTON. So ist es, mein Herr! Beiseite. Doch mir fällt ein – wenn dies ein Fremder wäre, der mich bei der morgenden Versteigerung zu überbieten gekommen ist?

Margarethe fixiert fortwährend Georg, als ob er ihr bekannt vorkäme und sie ihn schon früher gesehen haben müsse.


GAVESTON. Und wen hab ich die Ehre, bei mir aufzunehmen?

GEORG. Einen Offizier des Königs, Unterlieutenant im fünfzehnten Infanterieregiment.

GAVESTON für sich. Ein Unterlieutenant? Da kann ich ruhig sein! Laut. Wie es scheint, seid Ihr kein Schotte?[74]

GEORG. Nein, ich bin zum erstenmale in diesem Laude. Doch fühle ich mich von allem, was ich sehe und höre, wunderbar angezogen.

GAVESTON. Und welcher Zufall führte Euch zu solch ungewöhnlicher Stunde in die Nähe dieses Schlosses?

GEORG. Das weiß ich selbst nicht recht, doch glaube ich beinahe, es geschah, um Euch einen Dienst zu leisten.

GAVESTON. Mir?

GEORG. Ja, Euch. Ein anderer würde Euch sagen, die Nacht, das schlimme Wetter habe ihn hierhergeführt – ich als Soldat sage immer die Wahrheit.

GAVESTON. Immer?

GEORG. Ja, mein Herr! Selbst in der Liebe bin ich von einer seltenen Aufrichtigkeit. Beim Regiment behaupten zwar alle, es hindere meine Beförderung. Doch das ist meine Sache. Reden wir von Euren Angelegenheiten. Ich hörte in der Gegend von nichts anderem, als von Geistern, vom Erscheinen einer weißen Frau sprechen und bin gekommen, eine Nacht auf diesem Schlosse zuzubringen, um ihre Bekanntschaft zu machen.

GAVESTON. Ich zweifle sehr, daß Ihr sie zu sehen bekommt, denn soviel ich weiß, hat sie sich vor Beherzten noch nie blicken lassen.

GEORG. Da mögt Ihr Euch doch wohl irren, denn sie selbst hat mich hierher bestellt.

GAVESTON. Ei, was Ihr mir sagt. Beiseite. Das ist ein Original, in dessen Kopf es etwas verworren auszusehen scheint. Laut. So lebt denn wohl, Herr Offizier, Mitternacht ist bald vorüber. Man soll Euch ein Lager in diesem Zimmer bereiten.

Margarethe nimmt vom Tisch rechts die Lampe und fixiert fortwährend Georg mit großer Aufmerksamkeit.


GEORG. Wo denkt Ihr hin! Ein Lehnstuhl thut dieselben Dienste. Ich schlafe da immer noch besser als auf freiem Felde. Übrigens könnten Eure Geister leicht Bergschotten aus der Bande Rob-Roys sein und es ist geratener, wenn ich sie stehenden Fußes erwarte.

GAVESTON. Nun, wie Ihr wollt! So gehabt Euch wohl! Gute Nacht! Und wenn die weiße Frau Euch zu besuchen[75] kommt, so sagt Ihr von mir – Nun, Margarethe, was starrt Ihr den Herrn so an?

MARGARETHE. Weil er ganz das Aussehen eines wackeren jungen Mannes hat – und weil seine Züge Erinnerungen in mir erwecken – Erinnerungen, die –

GAVESTON. Schon gut. Legt Euch mit Euern Erinnerungen zu Bett. Geht! Es ist spät! Zu Georg. Gute Nacht!

MARGARETHE. Nun ja, ich gehe schon! Zu Georg. Soll ich Euch das Licht dalassen?

GEORG. Nicht doch! Geister scheuen ja das Licht. Zu Gaveston. Gute Nacht, mein Herr! Morgen sollt Ihr von mir Neuigkeiten erfahren, kämen sie auch aus der andern Welt!

GAVESTON UND MARGARETHE letztere die Lampe mit sich nehmend, entfernen sich durch den Haupteingang. Gute Nacht!

Georg begleitet beide bis zur Thür.

Es wird völlig dunkel.

Man hört Gaveston nach Vorschrift der Partitur von außen die Thür verriegeln und verschließen.


Quelle:
Boieldieu, François-Adrien: Die weiße Dame, Leipzig [1892], S. 74-76.
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