Morgenlied

[103] Gott, unter deiner Vaterhut

Hab' ich die Nacht so sanft geruht,

Daß ich erquickt nun in die Höh

Der Morgensonn' entgegen seh.


Wohin ich blicke, redest du

Mit Wohlthat mir und Güte zu;

Mein erster Hauch sey Lobgesang,

Mein letzter Athemzug sey Dank.


Du gießest Freuden, wie ein Meer,

Um alle deine Kinder her;

Und nur allein der Thor vergißt,

Daß er ein Mensch mit Menschen ist.


Gib, daß ich diesen ganzen Tag

Mich deiner Güte freuen mag;[104]

Wend' Unglück ab nach deiner Huld,

Und wenn es kommt, gib mir Geduld.


Nur deine Hand theilt Segen aus,

Gib Segen in mein kleines Haus;

Laß gern mich nutzen jedermann,

Und willig helfen, wo ich kann.


Der Erde köstlichster Gewinn

Ist frohes Herz und reiner Sinn;

Und diesen, Vater, schenke mir,

So wall' ich ruhig hin zu dir.


Du hast mir wieder neue Kraft

Zu meinem Tagewerk geschafft;

Verjüngt sind wieder Fuß und Hand

Zu ihrer Arbeit leicht gespannt.


Wenn einst nach meines Todes Nacht

Zu deinem Licht mein Aug' erwacht,

Dann eil' ich, himmlischer erfreut,

In jenes Lebens Ewigkeit.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Gedichte. Wien und Prag 31810, S. 103-105.
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