Abendlied

[105] Schon glänzt dort hoch der Abendstern;

Lob' ihn, mein Geist, lob' ihn, den Herrn!

Es sank der Sonne goldnes Licht,

Doch seine Güte sinket nicht.


Er hat von meiner Jugend auf

Geleitet meines Lebens Lauf;

Er stand mir bey, wenn von Gefahr

Ich rund umher umgeben war.


Er war mein Trost, wenn Kummer sich

Um mein bethräntes Lager schlich;

Er hörte, wenn ich schwer und tief

Aus meiner Angst um Rettung rief.[106]


Nun sing' ich noch mit jeder Nacht,

Der Herr hat alles wohl gemacht:

Er schickt uns nur zu unsrer Ruh

Den bittern Kelch der Leiden zu.


Ich habe lang' und viel gelebt,

Und manche trübe Stunde schwebt

Noch einsam jetzt vor meinem Blick;

Doch dankbar denk' ich nur zurück.


Gott, sey mein Vater; steh mir bey,

Daß ich des Lebens Abend frey,

Wie ich ihn nunmehr vor mir seh,

Still, sanft und froh hinunter geh.


Laß fromm mich und von Tadel rein

Vor dir und vor den Menschen seyn,

Daß man, wenn mein Gebein einst ruht,

Noch herzlich sage, er war gut.


Laß meine Kinder, meiner werth,

Nur bleiben, wie ich sie gelehrt,

Sich deiner und der Tugend freun;

So ist ihr Erbtheil nicht mehr klein.[107]


So wall' ich ruhig, wie ich bin,

Zum stillen großen Schlafe hin,

Wo schlummerschwer mein Auge sinkt,

Wenn mir der Tod, dein Bothe, winkt.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Gedichte. Wien und Prag 31810, S. 105-108.
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