Stockholm, den 16. August

[788] Von Abo aus hat man noch einige Stationen bis an das Wasser des Bottnischen Meerbusens, über den man sich setzen lassen muß, wenn man nicht über Wasa und Torneo oben herum reisen will. Acerbi gibt die Seereise im Winter, auf dem Eise von Grißleham bis herüber ans finnländische Ufer, nur auf neun Meilen an; da kann ich denn seinen Weg nicht begreifen. Ich will Dir hier die Wasserreise hersetzen, wie ich sie gemacht habe, und wie sie gewöhnlich alle russischen Kuriere machen, die nicht des Wetters wegen über Torneo gehen müssen.

Von Helsing an dem finnländischen Ufer, zu Wasser über Turwessi nach Wartsala, 2 Meilen Schwedisch. Desgleichen über Wattn Skiftet nach Brando 21/2 M. S. Desgleichen über Lappwesi nach Kumlingen 21/2 M. S. Desgleichen über Delet nach Wargata 31/4 M. S. Desgleichen nach Bomarsund 1 M. S. Zu Lande nach Skarans 1 M. S. Zu Lande nach Haroldsby, Emkarby, Frebenby 3 W. S. Halb zu Lande, halb zu Wasser nach Eckeroe 11/4 M. S. Über Alandsholm zu Wasser nach Grißleham 7 M. S. Nun zähle einmal zusammen, wieviele Meilen herauskommen! Ich könnte Dir wohl die ganze etwas unbekannte Tour von Petersburg nach Stockholm geben; aber es ist entsetzlich langweilig, dergleichen Zeug der Länge nach aus dem Tagebuche zu schreiben. Du hast genug an dem Pröbchen durch die Inseln. Von Stockholm aus ist der Weg in mehreren Reisebüchern angegeben.

Die Fahrt über den Meerbusen ist gar nicht unangenehm, wenn man ein guter Elementer, nämlich an das Element gewöhnt ist. Ich nahm mir Zeit und habe zwei Nächte ganz ruhig bei den Ichthyophagen geschlafen. Mich deucht, ich muß auf der Überfahrt zum[788] wenigsten zweihundert Inseln gesehen haben, größere und kleine, fruchtbare und unfruchtbare, bewohnte und öde. Man windet sich oft durch ein sonderbares Netz von Inseln hin, die niemand als Möwen zu Besitzern haben. Als ich von Lappwessi ausfuhr, war es schon ziemlich spät; die Sonne ging bald unter und der Mond silbern auf. Meine Gondoliere waren zwei alte wackere schwedische Matrosen, die Weltteile gesehen hatten und ihren beiden jungen Kameraden von ihren Fahrten erzählten. Die Wirkung der späten Abendröte und des fast vollen Mondes auf der spiegelglatten stillen Wasserfläche zwischen unzähligen Granitinseln, die nur hier und da einiges Gestrüpp hatten, war außerordentlich magisch. Es war so hell, daß wir auf einer von den Inseln, wo wir zur Pause anhielten, Erdheeren suchen konnten, die jetzt hier noch herrlich dufteten. In Kumlingen blieb ich; und es war auf der kleinen Insel so freundlich, als es nur in einem Dörfchen am Zuger See sein kann. Überall hat man ein gutes, reinliches Bett, überall ohne Erinnerung sogleich frisch überzogen; eine Wohltat, die man in unserm Vaterlande nicht einmal in allen Städten findet! Von Kumlingen nach Wargata war eine große Wasserfläche von 31/4 M. S. Das Wetter war nebelig und kalt, der Sturm blies stark, die See ging hoch. Ich hatte diesmal drei Kerle und einen jungen weiblichen Matrosen, wie das vorher schon oft der Fall gewesen war. Die Fahrt mochte dem Mädchen zu heftig werden, das Wasser schlug reichlich in das Boot, und die Heldin ward seekrank durch alle Instanzen. Mir tat das fast wohl; denn nun konnte ich doch auch sagen, daß meinetwegen auch ein Mädchen krank geworden sei, welches mir nicht leicht zum zweiten Male begegnen wird. Vor mehreren Jahren hat mir zwar eine unserer schönen Landsmänninnen etwas[789] Ähnliches versichern wollen, ich fand aber nachher Ursache, es nicht zu glauben.

Auf einer andern Station der nämlichen Fahrt ward sogar ein Matrose seekrank. Dabei setzte ich mich denn ganz ernsthaft in meine Behaglichkeit und freute mich, daß mir das Element nichts anhaben konnte; es müßte mich denn ganz verschlingen, wie es wirklich einige Mal drohte. Die Überfahrt ist nicht ganz ohne Gefahr in lauter offenen Booten, wo die Windstöße wohl zuweilen Unglück anrichten können. Zwischen Bomarsund und Heroldsby steht das alte bekannte Schloß Kastelholm als eine stattliche Ruine, und rund umher sind die Inseln äußerst fruchtbar an schönem Getreide. Vorzüglich wächst in Eckeroe Gerste und Korn in seltener Güte. Von Eckeroe bis Grißleham ist die größte Station, sieben Meilen. Der Wind war äußerst widrig und sehr stark, und die Leute machten Schwierigkeit auszulaufen. Ich hatte sechs Matrosen und noch zwei Gehilfen, um nur aus dem Hafen zu kommen. Mitten auf der See begegnete mir ein Postschiff, die Leute legten mit vieler Mühe in einer kleinen Bucht auf einer kleinen Insel an und wechselten. Die Post ging nach Eckeroe mit meinem Boote, und das Postschiff nahm mich ein nach Grißleham. Drei Taler waren als das Fährgeld im Posthause zu Eckeroe angesetzt und ich mußte durchaus achthalb Taler bezahlen. Das müßte sein, meinten alle ohne Ausnahme, und bekümmerten sich nicht einen Pfifferling um das Postbuch in Eckeroe. Ich zahlte, denn wie hätte ich anders den Prozeß hier im Sturm auf der kahlen Felseninsel im Bottnischen Meerbusen endigen sollen? Die Skandinavier hatten mich ohne Protest in Händen. Ob das rechtlich ist, mögen sie mit dem Postbuche in Eckeroe ausmachen. Ich fand die Bezahlung freilich nicht zu hoch und hätte dafür nicht halb so weit gefahren,[790] aber es soll nur niemand etwas wider Ordonnanz tun.

Als ich nun so einsam auf meinem Tornister dasaß und von Halifax bis Syrakus manche Reise noch einmal reiste und manche Stunde noch einmal lebte, blieb ich, wie wohl schon einige Male geschehen war, bei Schiller und der Katastrophe seines Todes stehen, der mich allerdings in Petersburg ungewöhnlich überrascht harte. Ich zog mein Taschenbuch, dachte weder an widrige Winde noch an die Skandinavier, und unvermerkt lagen die Zeilen auf dem Pergamentblatt, die ich Dir hier als eine freundliche Nekropompe eines Mannes gebe, der uns beiden oft großen Genuß verschafft hat. Daß die Verse hier unter dem Getöse der Wogen geschrieben wurden, ist vielleicht, nächst ihrer Wahrheit, das einzige, was ihnen einigen Wert geben kann.


Wir erzählten traulich und durchliefen

Noch einmal das Leben Jahr für Jahr,

Da erschien ein Freund, und seine tiefen

Hohlen, ernsten Trauertöne riefen

Uns die Botschaft, die gekommen war:


Schiller ist gestorben! – Alle schwiegen

Drei Minuten feiernd, bis empor

In des Schmerzes schweren Atemzügen

Unserm Liebling Totenopfer stiegen,

Und die Pressung ihr Gewicht verlor.


Schiller ist gestorben! scholls in allen

Zirkeln an der Newa auf und ab,

Von dem Marmor in den Kaiserhallen.

Freund, so schöne Blumenkränze fallen

Selten nur auf eines Dichters Grab.[791]


Aber selten heiligen die Musen

Einen Geist auch so sich zum Altar,

Wohnen himmlisch so in einem Busen,

Wie vom Griechen bis zu dem Tongusen

Unser Liebling stets ihr Liebling war.


Von dem Rheine bis zum Oby haben

Tausende sich oft durch ihn erfreut,

Reicher sich gelebt durch seine Gaben,

Die er, ihren Seelendurst zu laben

Unerschöpflich um sich ausgestreut.


Mächtig klang dem Delier die Laute,

Wenn er ihre Saiten Schillers Hand,

Ihre Lieder seiner Brust vertraute;

Und die dichte stille Menge schaute,

Dann durch ihn sich in das Geisterland.


Seine Zauber öffneten die Pforte,

Daß der Blick in neue Welten ging;

Blumen schuf er, wo die Flur verdorrte,

Und der Sturm beflügelte die Worte,

Die er flammend von dem Gott empfing.


Groß und mit der Tugend hohem Mute,

Die den Männerwert in Lumpen ehrt,

Sprach er kühn und offen für das Gute,

Unbekümmert, ob der Tor verblute,

Der vom Mark der stillen Einfalt zehrt


Wem nicht er des Himmels Götterfunken

Aus des Wesens letzter Tiefe schlägt,

Wenn er göttlich singt und feuertrunken,

Bleibet, in des Stumpfsinns Nacht versunken,

Zu den Seelenlosen hingelegt.[792]


Liebenswürdig war der Mann als Dichter,

Und der Dichter es noch mehr als Mann.

Glücklich, wer wie er so viel Gesichter,

So viel Herzen, auch als strenger Richter,

Auf den guten Weg erheitern kann!


Schiller wird mit seinem Posa leben,

Leben, wenn der Undank ihn vergißt.

Niemand kann ätherischer uns heben,

Niemand besser zu genießen geben,

Was der Silberblick des Lebens ist.


Der Wind hatte sich während meiner Nekropompe etwas gelegt und gewendet, und ich kam noch zeitig genug in Grißleham an.

Wenn man den ganzen Tag recht tüchtig auf den Wogen herumgeworfen ist und dann eine gute Suppe, schöne frische Schollen, frisches Knackabroe, und zum Dessert ausgesuchte Erdheeren findet, so kann man wohl mit der Landung zufrieden sein, und ich war es. Hier sagte mir der Postmeister, ich müßte dem Bauer durchaus nur sechs Schillinge für das Pferd die Meile geben, aber durchaus bestand man auf zwölfen. Wie ich das zusammenreimen soll, weiß ich nicht. Ich finde zwölf Schillinge freilich noch billig genug und habe nachher erfahren, daß es die jetzige Taxe ist, aber wie konnte der Postmeister das andere sagen? Er ließ sich übrigens verhältnismäßig seine Mahlzeit selbst teuer genug bezahlen.

Nun fuhr ich rechts ab, über Ahlby und Broe nach Upsala. Dieses ist zwar nur eine Nebenstraße, aber sie ist auch durchaus gut. Afu den Inseln des Bottnischen Meerbusens hatte ich in allem drei Kirchen gesehen; hier standen die Kirchen ziemlich dicht; und die Kultur des Bodens war musterhaft gut, vorzüglich bei[793] Ahlby. In Petersburg hat man einige Eichenpflanzungen, die wohl älter sein müssen als von Peter dem Ersten, wie man vorgibt. Man sagte mir dort, ich würde in Russisch-Finnland wenigstens eine Menge Eichengestrüpp finden, aber trotz aller Aufmerksamkeit hatte ich bis jetzt weiter kein Eichenblatt gesehen. Birken und Erlen waren das gewöhnliche Laubholz, nicht weit über Abo oben sahe ich zuerst wieder Haselstauden. Desto erfreulicher war mir die Erscheinung der Eichen, die von Grißleham an sich sogleich in Menge und ziemlicher Vollkommenheit zeigten.

In Edingen, einer Station zwischen Grißleham und Upsala, machte man Anstalt, mich geradezu nach Upsala zu bringen, und forderte dafür nicht weniger als sechs Reichstaler. Die Posttaxe machte noch nicht einen ganzen. Ich berief mich auf das Postbuch, wo ich auch schon meinen Namen eingeschrieben hatte, und wollte durchaus nicht mehr zahlen als die Posttaxe, zwölf Schillinge die Meile. Die Leute stritten hoch und sprachen viel von einem russischen Kurier, der entsetzlich langsam gefahren sei, den Weg sogar über Gothenburg genommen und gewaltig viel bezahlt habe, und schienen ihn halb und halb für einen Spion zu halten. Ich konnte nicht alles so recht fassen, da ich kein sonderlicher Schwede bin, und die Bauern vermutlich nicht den besten Dialekt sehr schnell sprachen. Ich nahm meinen Tornister, den ich schon an die Karriole geschnallt hatte, hastig auf den Rücken und erklärte, ich würde nicht mehr bezahlen als die Posttaxe. Endlich wollten sie dafür fahren; ich war aber schon im Gange und sagte, ich würde mich nun gar nicht aufsetzen. Sie kratzten sich am Kopfe, und ich ging fort.

Einige Stunden war ich schon gegangen, als ich erst überrechnete daß ich zu Fuß nicht nach Upsala[794] kommen würde, wohin ich doch gern wollte. Ich trat also in ein Haus nicht weit von der Straße, das ich für das Posthaus hielt, und bat um Pferde und erzähle meine Geschichte. Das war aber keine Post, sondern ein Familienlandhaus. Das Hauspersonal waren vier Damen, von denen zwei etwas Französisch sprachen, denn ich nahm meine Zuflucht zum Französischen, da es mit dem Schwedischen nicht recht fort wollte. Man versprach, mir Pferde zu schaffen, ob es gleich kein Posthaus war. Die Damen bewirteten mich mit Knackabroe, herrlichem Eingemachten von Beeren und gutem Bier, ein Artikel, der mir seit Friedrichsham nicht vorgekommen war! Aber die Pferde kamen sehr spät, und ich traf erst um Mitternacht bei Mondschein in Upsala ein.

Upsala hat einen großen Namen und ist eine kleine Stadt, wohl nicht größer als unser Lützen, wo der Wohltäter Upsalas starb. Busser von Linköping hat, wie ich höre, ein großes Buch über die kleine Stadt geschrieben. Die Kathedralkirche ist so groß, daß man wohl die Bevölkerung einer halben schwedischen Provinz hineinbringen kann. Linnes Monument ist darin ganz demütig versteckt, es steht so in einem Winkel, daß ich es nicht gesehen habe, ob ich gleich zweimal fast nur deswegen hineingegangen bin. Ich habe dafür eine Menge Grabmäler großer und kleiner Männer dort gefunden, um die ich mich so viel nicht bekümmerte, sie mochten hinter dem Altar oder in den Seitenhallen stehen. Das merkwürdigste war für mich das Monument des Grafen Stenbock, der das Kriegsrecht etwas zu strenge an Altona ausübte und dafür dann eine beträchtliche Zeit feine Mechanik in Kopenhagen trieb. Es war, als ob ich meinen Freund Stenbock von Warschau vor mir sähe, so auffallend war die Ähnlichkeit. Ich liebe Familiengesichter; sie sind immer besser und bedeutender als die Wappen.[795]

Den andern Morgen ging ich hinaus zu Thunberg, der auf seinem Landhause eine halbe Stunde von der Stadt wohnt; und er hatte die Güte, mir den folgenden Morgen selbst den neuen botanischen Garten zu zeigen. Die Herren von Palermo sagten mir, als ich dort war, sie hätten das Modell zu ihrem botanischen Hörsaal von dem linneischen in Upsala genommen. Da haben sie nun aber große Veränderungen gemacht, wenn das wahr ist. Weder der neue noch der alte linneische Hörsaal sieht dem palermitanischen sehr ähnlich. Das neue botanische Gebäude hier besteht aus einer Front mit Säulen nach dem Garten und zwei auswärts greifenden Flügeln. In der Front oder im Fond, nachdem man sich stellt, ist der Hörsaal und in den Flügeln sind das Museum und die warmen Zimmer für die Pflanzen. Auch der Professor hat eine ganze gute Wohnung darin. Die Säulen sind aus Sandstein von Gothenburg. Granit wäre wohl besser gewesen. Den Grund der Mauern hat man mit Granitquadern sehr schön angefangen, ihn aber nur mit unbehauenen Granitstücken fortgeführt, welches der Solidität und der Schönheit schadet.

In dem Museum sind vorzüglich die Sachen, die Thunberg von seinen Reisen mitgebracht und der Akademie geschenkt hat, und die nun nicht, wie Linnes Sammlung, ins Ausland gehen werden. Für einen Privatmann war es ein außerordentlicher Reichtum, und es sind viele Seltenheiten dabei. Besonders merkwürdig waren mir drei große Gazellen aus Afrika, ein Kasuar, ein kleiner Büffel aus Afrika, und eine kleine, seltene Art von Löffelgans. Der Garten ist ziemlich groß und in guter Ordnung. Als etwas Ungewöhnliches wurde mir noch ein Zuckerahorn gewiesen, der sehr selten so hoch nordwärts fortkommen soll.[796]

Du kannst wohl glauben, daß ich auch die Bibliothek besuchte, wo für mich die sogenannte silberne Handschrift des Ulphilas das einzige war, wonach ich mich umsah. Ich habe sie in den Händen gehabt und, ohne etwas davon zu verstehen, einige Minuten säuberlich darin geblättert. Schon dieser Umstand beweist Dir, daß sie nicht so sehr abgegriffen und zerrissen sein kann, als der verstorbene Küttner erzählt, weil man sie ohne Schwierigkeit und ohne Erinnerung einem gewöhnlichen Fremden in die Hände gab. Es haben nur wenige Blätter so gelitten, daß man sie für unleserlich erklären müßte. Ich verstehe freilich garnichts von dem Idiom. Daneben liegt die Ausgabe des Eduard Lyn, vielleicht kommt nun auch die schöne Ausgabe unsers Landmannes hin. Die Geschichte des Buchs, und woher der Name silberne Handschrift kommt, ist Dir bekannt, hier wäre es zu weitläuftig, mehr davon zu sagen. Die übrigen Merkwürdigkeiten der Bibliothek übergehe ich, bis auf die Toilette, welche die Stadt Augsburg, glaube ich, der jungen Christine geschenkt hat. Die Künstler sollten sie wohl sehen, welche zuweilen die mittelmäßigsten Produkte unserer Zeit ausposaunen. Herr Samuel Torner, der Kustos der Bibliothek, war ein gefälliger, unterrichteter Mann; und nachdem wir ziemlich lange zusammen Französisch und hier und da auch etwas Englisch gesprochen hatten, machte ich erst die Entdeckung, daß er auch Deutsch verstand, da er mir zum Andenken ganz richtig einen Vers aus Haller aufschrieb.

In meinem Zimmer hier in Upsala hingen die Köpfe von Biörnstahl, Stenbock und Linné, von Bernigeroth recht brav gemacht; und die Helden aus dem Siegwart, kläglichen Andenkens, gar jämmerlich anzuschauen; von Bumburg del. Schleich engraved.

Die Merkwürdigkeiten von Upsala sind, wenn man[797] kein Stockgelehrter ist, in einigen Stunden überschaue. Da ich aber zu Ehre der schwedischen Akropolis Minervens einige Tage dableiben wollte, setzte ich mich ganz gemächlich Siegwarts Mariane unter dem Spiegel gegenüber und las die Aristophanes Ekklesiazusen und seine Lysistrata, die ich mir nach den Wolken und nach den Rittern und den Fröschen zum Antinarkotikum erkieset hatte. Auch der Schönsprecher Seneka half mir hier und da ein Stündchen angenehm zubringen, meistens auf seine eigenen Kosten. Alle Augenblicke trat mir Tacitus vor das Gedächtnis, und ich zog unwillkürlich die Parallele zwischen ihm und Burrhus, wo denn der ehrliche Schulbeutel wie ein Tertianer vor einem vollendeten Manne zurücktrat. Er scheint aber auch gewissenhaft in seinen Busen gegriffen zu haben, indem er seine Apologie auf eine ganz naive Weise macht. »Non sum sapiens«, sagte er, »et ut malevolentiam tuam pascam, nec ero. Exigo itaque a me, non ut optimis par sim, sed ut malis melior. Hoc mihi satis est, quotidie aliquid ex meis vitiis demere et errores meos objurgare.« Das ist nun freilich wenig genug für einen Stoiker zur Zeit der Schande und allgemeinen Verdorbenheit, aber es ist doch offenherzig; und wir sind nun selbst Schuld daran, daß wir den Schulmeister so apotheosiert und den wackern Burrhus so ziemlich über ihm vergessen haben.

Noch einen Spaziergang machte ich hinaus nach Altupsala, das ungefähr eine Stunde von der neuen Stadt liegt. Dort soll bekanntlich die Residenz der alten heidnischen Könige gewesen sein; und man zeigt noch zwei Hügel als Grabmäler. Das ist wahrscheinlich genug; sie sehen ganz den übrigen sogenannten Hünengräbern ähnlich. Die jetzige Kirche daselbst soll nicht allein die älteste in ganz Schweden, sondern[798] auch noch aus dem tiefsten Heidentume sein. Die frommen Faseler lassen sie sogleich nach der Sintflut entstehen und würden sie noch gern auch hinter die Flut hinausrücken, wenn es nur die Bibel einigermaßen erlauben wollte. Strabo soll wenigstens schon davon sprechen. Das weiß ich nicht. Tacitus sagt aber von den alten Deutschen, zu denen man doch wohl die Bewohner der dortigen Ufer auch zählen muß: »Caeterum nec cohibere parietibus deos, nec in ullam humani oris speciem assimilari ex magnitudine coelestium putant«; wie die Parsen auch dachten. Das magst Du nun nach Deiner Weisheit untersuchen. Übrigens merkst Du wohl, daß ich in Upsala war. Ich glaube, ich habe seit zehn Jahren kaum so viel Latein geschrieben.

In einer Gesellschaft warf ich von ungefähr die Frage auf, woher wohl der Name Upsala käme; denn ich reite gern auf dem Steckenpferde der Etymologie. Solltest Du wohl glauben, daß die anwesenden Herren von Upsala ihre Unwissenheit gestanden? Eine solche Schande ließen deutsche Gelehrte nimmermehr über ihr Athenäum kommen; eher faselten sie eine ganze Atlantis von Aberwitz ab. Ich fragte weiter: »Wie heißt denn der hier vorbeiziehende kleine Fluß?« Antwort: »Die Sale.« »Also ist ja wohl ziemlich natürlich Upsala Upon the Sala.« Wir schlugen etwas Gelehrtes nach, und ich hatte das Vergnügen zu sehen, daß schon Nordheck meine Vermutung als die wahrscheinlichste aufgestellt hatte. Wenn ich nur fleißiger wäre und mehr Applikation zum Dienst hätte, sagen die alten preußischen Hauptleute, könnte ich wohl noch ordentlich die kritische Wurfschaufel führen lernen.

Der Weg von Upsala hierher ist äußerst angenehm und eine wahre Spazierfahrt zuweilen an dem Mälar[799] herab, zuweilen über kleine Anhöhen durch die schönsten Gruppierungen. Die Dörfer sind in Schweden klein; oft stehen nur einige Häuser zusammen, oft ist nur ein einziges, nachdem es der Boden leidet. Das gibt bei eben keiner starken Bevölkerung der Gegend doch ein freundliches, lachendes Ansehen. Das Nämliche ist einigermaßen der Fall in Liefland; nur sind dort die Häuser Troglodytenhöhlen und die Einwohner Bilder des Jammers. Von der Nettigkeit einer schwedischen Bauernwirtschaft hat man selbst in Deutschland keine Begriffe.

Und nun hier Stockholm? Stockholm wird nicht mit Unrecht das Paradies des Nordens genannt, wenn man die schöne Gruppierung der Gegend nimmt. Man kann es vielleicht kaum eine Stadt nennen, denn man merkt fast nirgends, daß man eingeschlossen ist und überall hat man die Aussicht ins Freie. Stockholm ist einer der lieblichsten Plätze, die ich gesehen habe: und wenn der Mälar die Sonne des Arno hätte, würden hier mehr Elysium sein als in Florenz. In Beschreibungen bin ich nicht stark und nicht glücklich, will also auch keine versuchen. Du magst die ganz gute Abbildung davon in Küttners Reise nachsehen. Acerbi steht mit Vergnügen auf der Brücke vor dem Schlosse. Dort ist es allerdings schön. Aber ich suche gern die Höhen, und da ist mir kein Punkt reizender vorgekommen als jenseits des Sees oben ein Garten neben der Katharinenkirche, der zugleich ein Gasthaus ist und Mosebak, oder Mosesberg heißt. Von hier übersieht man am besten die ganze große Szene, aufwärts und abwärts am Mälar, mit dem ganzen wogenden Getümmel zu Wasser und zu Lande. Der Aubergist des Gartens hat das Eigene, daß er mehrere Sorten Bier von Beeren braut, die hier für etwas Köstliches gelten und für gewisse Gaumen es auch sein[800] mögen. Ich ließ mir eine Flasche Himbeerbier geben, konnte es aber kaum trinken, so stark war es; und ich erinnere mich nicht, jemals ein so starkes Getränk dieser Art versucht zu haben. Ich trinke nur gegen den Durst und überlasse den Schmeckern die Würdigung dieser Art von Industrie. Das Wörtchen Mosebak hat übrigens ein gleiches Schicksal mit dem Namen der ersten Station von hier nach Norköping; nur daß die Zweideutigkeit hier nicht ganz so unartig und katullisch ist als dort auf der Post.

Sergel ist wieder ganz wohl, so gut man es nämlich von einem Mann in seinen Jahren erwarten kann. Ich ging nicht zu ihm, weil ich nicht glauben konnte, daß ihm die Störung von einem wildfremden Menschen Vergnügen machen würde; ob man mich gleich nachher versichert hat, ich würde ihn sehr freundlich gefunden haben. Seine Statue von Gustav dem Dritten ist fertig und wird jetzt von einem Franzosen vergoldet und poliert. Der Franzose selbst war äußerst poliert; wenn Sergel nur dafür sorgt, daß es die Statue nicht zuviel werde. Das Werk macht seinem Meister Ehre und wird unten am Wasser auf dem großen Platze hinter dem Schlosse, der schönen Pyramide gegenüber, sich sehr gut machen, wo auch schon das Piedestal gesetzt ist. Ich bin sonst gar nicht Liebhaber von Mischung des Antiken und Modernen, sie wirkt in Berlin auf dem Wilhelmsplatze sehr unangenehm; aber hier ist die Abweichung so sanft und noch so sehr im Geist der Antike, daß sie sehr gefällig erscheint und das Werk doch noch ernst bleibt. Das schwedische Kostüm ist dem Künstler schon willkommener als das deutsche.

Die schönsten Häuser in Stockholm, nächst dem Schlosse, sind wohl das Opernhaus und gegenüber das Haus der Prinzessin. Die Statue Gustav Adolfs[801] auf dem Platze dazwischen tut durch die unten eingelegten kolossalischen Medaillons seiner Minister und Generale keine schöne Wirkung. Der Huf von dem Pferde des Königs scheint fast die Stirne des Ministers einschlagen zu wollen, ein Anblick, der eben so grell und widerlich ist als die Sklaven unter dem ehemaligen Ludwig in Paris und auf der Spreebrücke in Berlin. Sind denn die Menschen so weggeworfen, daß sie keine Größe denken können ohne Herabwürdigung ihrer Natur? Ich kann mir keine mit ihr denken. In dem Palast der Prinzessin sind an den Treppen vier Säulen von Granit, die eine feine, glänzende Politur haben und vielleicht das Schönste sind, was man nicht allein in Schweden, sondern wohl überhaupt in dieser Art hat. Ich spreche nur von der Politur. Hier und da an den Brücken und an den Toren sieht man denn doch auch einen Anfang, daß man in Granit arbeiten will und kann. In Petersburg versteht man es besser. Das neue akademische Gebäude in Abo und diese Säulen hier in Stockholm sind das Beste, was ich an Granitarbeit in Schweden gesehen habe, sind aber mit den herkulischen Unternehmungen dieser Art in Petersburg nicht zu vergleichen.

Im Opernhause führte man mich durch die ganze unglückliche Maskerade, vom Anfang bis zu Ende, wo der vorige König das Leben verlor. Der Raum ist ziemlich klein, und wenn Ankarström nicht die Unbesonnenheit gehabt hätte, eben diese Pistolen zu gebrauchen, wäre er in der Menge der Mitwisser und Mithelfer wohl schwerlich entdeckt worden. Es drängt sich ein eigenes Gefühl auf in diesem Hause, sowie in dem Michailowschen Schlosse an der Newa, wo zwei Männer, von denen ihr Zeitalter sehr ungleich urteilte, sich selbst die Szene ihrer letzten Katastrophe bauten. Mir war das kleine Zimmer sehr merkwürdig, wo Gustav die[802] letzten Momente seines Lebens mit fester Besonnenheit zur Erhaltung eines politischen Gebäudes anwendete, von dem es noch sehr ungewiß ist, ob es zum Besten des Reichs und seines eigenen Hauses aufgeführt wurde. Ein guter König kann nie zu viel Gewalt haben, und ein schlechter hat bei der größten Einschränkung immer noch zu viel. Wer trifft nun die Mittelstraße? Freilich ist es immer das Sicherste, in öffentlichen Verhältnissen mehr auf das Schlimme im Menschen zu rechnen. Denn fast immer lehrt die Geschichte, daß in diesem Falle unter der Maske allgemeiner Philanthropie und in dem Namen der Gesetzlichkeit alles Böse geschieht, wozu die Macht da ist. Pleonexie scheint die einzige Erbsünde der Menschen zu sein. Nur wo der Eigennutz gar keinen Vorteil sieht, nimmt er sich nicht die Mühe, ungerecht zu sein, und macht sich dann kein kleines Verdienst aus dem schönen Kleide der Mäßigung, das er trägt.

Der Weg hinaus in den Park, rechts am Wasser hin in das Bad und links auf der andern Seite wieder herein, ist ein so romantischer Gang, als man ihn sich kaum in Hesperien denken kann. Es sind dort eine große Anzahl Landhäuser, unter denen sich die Sitze des spanischen, des englischen und des russischen Gesandten auszeichnen. Aber was mir mehr zusprach als alle Einrichtungen des Luxus, sind die großen schönen Eichen, die hier einen wirklich heiligen Hain bilden, wenigstens erweckt er dieses Gefühl, wenn man von den Hyperboreern herunterkommt. Zur Dokumentierung seines echten Geschmacks hat der spanische Gesandte einen schönen Teil davon niederschlagen lassen, um etwas eben nicht sehr Schönes auf die Stelle zu bauen. Kannst Du denken, daß ich einen Ball im Parke ausschlug, wo ich die Hoffnung hatte, die ganze schöne schwedische Welt, so viel[803] nämlich der August haben kann, beisammen zu sehen? Dafür lief ich erst draußen in den Felsenstücken herum und setzte mich dann zu Hause zu meinem ungezogenen Attiker Aristophanes. Was gehen mich die Bälle an? Ich tanze und spiele nicht, und bin schon vorher überzeugt, daß die Schweden artig und brav und ihre Frauen schön und liebenswürdig sind. Wenn ich länger hier bliebe, wollte ich auch ihre Bälle besuchen.

Eine neue, nicht unwichtige Erscheinung ist hier die Bearbeitung des Porphyrs oben am Elfdahl an der norwegischen Grenze. Der Stein ist von vorzüglicher Schönheit und die Politur vortrefflich. Eine Gesellschaft hat, wie ich höre, die Unternehmung auf Aktien gemacht, welsches insofern wohl nicht sehr gut ist, da man wahrscheinlich auf Gewinn sehen und dem Institut durch teuere Preise schaden muß. Man kann aus fremden Gegenden Bestellungen machen und seine eigenen Zeichnungen einschicken, die nach bestimmten Preisen recht gut ausgeführt werden. So viel ich weiß, ist der Porphyr in Europa höchst selten; und wenn der Schatz gehörig benutzt wird, kann er für Schweden noch eine wahre Wohltat werden. Die Formen haben noch nicht ganz die Zierlichkeit und Leichtigkeit, die man erst durch lange Übung in der Arbeit gewinnt, aber es ist auf alle Fälle ein Artikel, der sich bei dem bekannten Kunstsinn der Schweden zu einer hohen Vollkommenheit bringen läßt und die Aufmerksamkeit des ganzen nördlichen Europa verdient. Der Oberaufseher der Unternehmung ist der Münzdirektor Hjelm, ein Mann, der in dem Kredit gründlicher Kenntnisse und eines feinen Geschmacks steht.

Nun kommt eine kleine, für mich etwas demütigende Geschichte. Ich bin mehrere Male in Weimar gewesen,[804] und meine Freunde wollten mich wiederholt zu der schönen Dichterin Imhof führen. Aber wenn ich spazieren wandle, ist mein Aufzug selten so, daß ich mit einigem Anstand in die Schlösser der Fürsten treten kann, wo sie damals wohnte, ich hatte sie also nie gesehen. Hier am Mälarsee war ich billig weniger besorglich wegen der Förmlichkeiten des Aufzugs, und da ich hörte, daß sie in Marienburg wohne, nahm ich ein Boot und ließ mich hinausrudern. Man wies mich in ein stattliches Haus; ich gab meine Karte ab und wartete eine Minute. Es erschien eine junge, artige Dame und sagte mir nicht unfreundlich, ganz naiv und unbefangen und ohne alle Vorrede: »Ich habe Ihren Namen in meinem Leben nicht gehört.« Das war mir nun freilich eben nicht angenehm. »Habe ich die Ehre«, fragte ich, »mit der Frau von Hellwig zu sprechen?« »Meine Schwester ist krank«, sagte die Dame schnell, »und Sie können sie nicht sehen.« »Das tut mir leid«, sagte ich. »Wenn Sie in acht Tagen wiederkommen wollen«, sagte sie, »kann es vielleicht geschehen.« »Das kann ich nicht«, war meine Antwort. Sie zuckte die Schultern und ich unwillkürlich ein klein wenig auch, und ging. Siehst Du, das ist nun so immer mein Schicksal, wenn ich mich einmal zwinge, artig zu sein. Ich dachte ungefähr so, da du nun hier bist, mußt du denn doch die Frau sehen, die uns die lieblichen Schwestern von Lesbos gegeben hat, das glaubte ich, der deutschen Muse und meinem eigenen Geschmacke schuldig zu sein. Nun, nun; man tut seine Pflicht am Mälar und an der Arethuse, geht dann ruhig weiter und – tröstet sich. Ich habe Ihren Namen in meinem Leben nicht gehört, war der wörtliche Bescheid, der mir noch im Geiste einige Minuten im Boote nachtönte. Wenn aber meine Eitelkeit gar zu sehr dadurch gekränkt worden wäre, würde ich Dirs hier nicht erzählen,[805] da es außer meinem dienstbaren Mephistopheles aus Stockholm niemand hörte, und dieser verstand nicht Deutsch. Eben hatte ich die Sache mit ihrer Nutzanwendung gehörig durchmoralisiert, so hielten meine Bootsweiber – denn diese machen hier meistens die Gondelführer – rechts am Zollhause und meldeten, daß sie nichts Accisbares hätten, eine Ordonnanz, die mir sehr überflüssig scheint, da man nach Stockholm von hundert Ecken Contreband bringen kann und ihn gewiß nicht auf dem Mälar einführen wird. Also hat man denn doch auch hier auf die nämliche Weise die Art christlich israelitischer Beschneidung.

Von ihrem Könige sprechen die Stockholmer Schweden nicht viel; und über den letzten Reichstag wird hier und da etwas gebrummt. Es mag freilich nicht ganz erbaulich dort hergegangen sein, wie man hört. Sie haben dabei das Solamen miserorum miserum, daß es anderwärts wohl noch kaum so vernünftig hergeht. Man beklagt sich doch noch etwas, daß der König zu wenig freundlich und leutselig sei und vorzüglich gegen die Hauptstadt eine sichtbare Abneigung zeige. Wenn das wahr ist, so versteht der König freilich nicht ganz seinen Vorteil; denn ich dächte, die Stockholmer wären ein ganz gutmütiges Völkchen und durch Popularität leicht zu gewinnen. Man muß freilich die Sache auch etwas psychologisch würdigen. Der König war, als die Katastrophe mit seinem Vater eintrat, in den Jahren, wo die Ereignisse mehr auf die Nerven und die Empfindungen als auf den Verstand wirken. Die Fertigkeit der Stimmung in beiden über naheliegende große Begebenheiten bleibt, ohne daß der Verstand eine festere Herrschaft darin gewinnen könnte, zumal wenn ein rastloser Tätigkeitstrieb in engere Grenzen eingeschlossen ist.[806] Drotningholm hat mir besser gefallen, als Haga, nicht weil es größer und prächtiger ist, sondern weil ich die Lage am See schöner und gesunder finde. Die Gärten sind sehr weitläufig, aber ohne schöne, freiere Anordnung. Es sind sogar viel teuere Spielereien da, die ins Kleinliche gehen. Jetzt werden sie sehr vernachlässigt. Haga hat zwar eine liebliche, einsiedlerische Lage, muß aber der Gesundheit nicht sehr vorteilhaft sein, denn ich habe in dem Wasser umher eine Menge Sumpfpflanzen gesehen; und der Grund der Gebäude erhebt sich nur sehr wenig über die Wasserfläche. Man zeigt natürlich allen Fremden noch mit vieler Heimlichkeit das Fenster, wo die Verschworenen einige Zeit vor der Redoutenkatastrophe mehrere Tage lauerten, um ihren Vorsatz auszuführen.

Das schwedische Militär hat mir vor allen übrigen wohl gefallen. Die Leute sind gut gekleidet und gut genährt, haben Wendung und Anstand und zeigen große Geschicklichkeit. Es tut mir leid, daß ich etwas zu spät gekommen bin, um noch einige Übungen in Schonen zu sehen. Die Kleidung der Offiziere ist vorzüglich sehr ernsthaft und ästhetisch, nicht wie der neue russische und preußische Schnitt, der mir immer nur aussieht wie die personifizierte Armut und dem Offizier höchstens die Gestalt eines Solotänzers gibt, die diätetischen Einwendungen gar nicht zu erwähnen. Das vernachlässigte heilige Bein ist nach dem Ausspruch der Ärzte nur zu oft die Ursache zu den Erkältungsübeln, Koliken, Fiebern, Gichten und wie die ganze Kohorte heißen mag. Mir ist es eine sonderbare Erscheinung, einen alten wackern Stabsoffizier zu sehen, der seine etwas stattliche Korpulenz vorzüglich des mittleren Hinterteils mit der neuen Ordonnanz kaum decken konnte. Die Stutzerei bringt freilich dabei noch ihre Übertreibung an. Dem gemeinen Soldaten[807] hat man zum Glück nicht so viel zugemutet, und er ist verhältnismäßig etwas zweckmäßiger gekleidet. Gegen die jetzigen russischen Beinkleider habe ich einzuwenden, daß sie nicht über den Stiefel gehen und den Fuß nicht vor dem Einfallen des groben Sandes und der kleinen Steine schützen; eine Hauptsache bei dem Marsche! Daran scheint der Kaiser bei Abschaffung der Potemkinschen Ordonnanz nicht gedacht zu haben, dort war der Fuß gehörig gesichert.

Mit Acerbis Reise sind die Schweden sehr übel zufrieden; leugnen aber doch nicht, daß viele Wahrheiten darin stehen, und daß das Buch mit Geist und Leben geschrieben ist. Mehrere Irrtümer habe ich sogar auf meinem kurzen Durchzuge zu entdecken Gelegenheit gehabt, die ihm noch nicht alle gerügt worden sind. Es ist indessen nicht zu leugnen, er hat in so kurzer Zeit viel bemerkt, und man muß sich wundern, daß sein Buch, da es in so kurzer Zeit so viel enthält, nicht noch mehr Unrichtigkeiten hat.

Daß die Schweden nichts von deutscher Literatur wissen, ist eine ziemlich laute Klage. Es fragt sich, ob wir die ihrige besser kennen. Von scientifischen Dingen sind sie gewiß unterrichtet, sobald etwas Wichtiges in irgend einem Fache bei irgend einer Nation erscheint; in vielen gehen sie voraus. Wer kann ihnen aber zumuten, alle unsere Dichter und Romanschreiber näher zu kennen, deren vorzügliches Interesse doch nur für die Nation selbst und oft für diese nur sehr ephemerisch ist? Ich habe aber weit von Finnland oben herunter auch auf dem Lande viele Übersetzungen aus dem Deutschen gesehen, worunter besonders Lafontaines Romane waren. Man hat mir eine Anekdote von dem Regimentssekretär Leopold erzählt, welche auch hierher gehört. Er war im Schauspiel, als eben eine Übersetzung von Kotzebues Menschenhaß[808] und Reue gegeben wurde. Der Mann ist seiner Nation selbst als guter Dichter und strenger Kritiker bekannt, und er lärmte und fluchte bei der Vorstellung über Kotzebue mit vieler Heftigkeit und weinte abwechselnd bei dieser und jener Stelle die hellen Tränen. »Aber mein Gott«, sagte man ihm, »was Sie für ein Widerspruch sind, so bitter zu schelten und so gerührt zu sein.« »Aber ich bin kein Widerspruch«, sagte er: »der Tadel gilt dem Ganzen, und die Rührung ist von dem Einzelnen. Vieles Einzelne ist vortrefflich, und das Ganze ist nicht gut.«

Einige aufgefundene Landsleute hielten mich noch einige Tage länger hier. In Reyer, dem sächsischen Chargé d'affaires, fand ich einen alten Universitätsbekannten, und es war natürlich, daß wir das Andenken der an der Pleiße zusammen verlebten Stunden am Mälar feierten.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Prosaschriften. Köln 1962, S. 788-809.
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