Zweite Szene

[268] Ein Zimmer im Gefängnis.


Der Schließer und Pompejus treten auf.


SCHLIESSER. Kommt einmal her, Bursch; könnt Ihr wohl einem Menschen den Kopf abschlagen?[268]

POMPEJUS. Wenn der Mensch ein Junggesell ist, Herr, so kann ich's; ist's aber ein verheirateter Mann, so ist er seines Weibes Haupt; und ich kann unmöglich einen Weiberkopf abschlagen.

SCHLIESSER. Hört, Freund, laßt die Narrenspossen und antwortet mir geradezu. Morgen früh sollen Claudio und Bernardino sterben; wir haben hier im Gefängnis unsern gewöhnlichen Scharfrichter, der einen Gehülfen im Dienst braucht: wenn Ihr's übernehmen wollt, ihm beizustehn, so sollt Ihr von Euem Fußschellen loskommen; wo nicht, so habt Ihr Eure volle Zeit im Gefängnis auszuhalten, und beim Abschied noch ein unbarmherziges Auspeitschen, denn Ihr seid ein stadtkündiger Kuppler gewesen.

POMPEJUS. Herr, ich bin seit undenklicher Zeit ein unzünftiger Kuppler gewesen; aber jetzt will ich mir's gefallen lassen, ein zünftiger Henker zu wer den. Es soll mir ein Vergnügen sein, einigen Unterricht von meinem Amtsbruder zu erhalten.

SCHLIESSER. Heda, Grauslich! Wo stecktst du, Grauslich?


Grauslich kommt.


GRAUSLICH. Ruft Ihr, Herr? –

SCHLIESSER. Seht einmal, hier ist ein Bursch, der Euch morgen bei der Hinrichtung helfen soll; wenn's Euch recht ist, so nehmt ihn an auf ein Jahr und behaltet ihn hier bei Euch; wo nicht, so braucht ihn für diesmal und laßt ihn gehn. Ihr könnt euch wegen der Ehre nicht unter einander zanken, denn er ist ein Kuppler gewesen.

GRAUSLICH. Ein Kuppler? Pfui, da verunehrt er unsre Kunst.

SCHLIESSER. Ach, geht nur! Ihr wiegt gleich viel; eine Feder wird auf der Waage den Ausschlag geben. Ab.

POMPEJUS. Wollt Ihr nicht eine Ausnahme mit mir machen? Denn bis auf Eure hängenden Augen nehmt Ihr Euch sehr gut aus. Ihr nennt also Eure Hantierung eine Kunst?

GRAUSLICH. Ja, Herr, eine Kunst.

POMPEJUS. Das Malen, Herr, habe ich sagen hören, sei eine Kunst; und da die Huren, Herr, unter deren Regiment ich gedient habe, sich aufs Malen verstehn, so folgt, daß meine[269] Hantierung eine Kunst sei: aber was für eine Kunst im Hängen sein sollte – und wenn Ihr mich hängen wolltet –, das kann ich nicht einsehn.

GRAUSLICH. Herr, es ist eine Kunst.

POMPEJUS. Beweis?

GRAUSLICH. Jedes ehrlichen Mannes Anzug muß für einen Dieb passen.

POMPEJUS. Freilich; denn sind Anzug und Halsschmuck ihm auch zu eng, der ehrliche Mann hält sie doch für weit genug; und findet Euer Dieb sie zu vollständig und derb, der ehrliche Mann hält sie für eng genug. Auf diese Weise muß jedes ehrlichen Mannes Anzug für den Dieb anpassend sein.


Der Schließer kommt zurück.


SCHLIESSER. Nun, seid ihr einig?

POMPEJUS. Herr, ich will ihm dienen; denn ich sehe, so ein Henker hat doch ein bußfertigeres Gewerbe als so ein Kuppler; er bittet öfter um Vergebung.

SCHLIESSER. Ihr da, haltet Euer Beil und Euern Block auf morgen um vier Uhr in Bereitschaft!

GRAUSLICH. Komm mit, Kuppler, ich will dich in meiner Hantierung unterrichten; folge mir!

POMPEJUS. Ich bin sehr wißbegierig, Herr, und ich hoffe, wenn Ihr einmal Gelegenheit habt, mich für Euch selbst zu brauchen, Ihr sollt mich rührig finden; und wahrhaftig, Herr, Ihr habt so viel Güte für mich, daß ich Euch wieder gefällig sein möchte.

SCHLIESSER.

Ruft mir jetzt Bernardin und Claudio her: –


Grauslich und Pompejus gehn ab.


Der tut mir leid, doch jener Mörder nicht,

Und wär's mein Sohn, verfiel er dem Gericht.


Claudio tritt auf.


Hier ist dein Todesurteil, Claudio, lies!

Jetzt ist es Mitternacht; um acht Uhr früh

Gehst du zur Ewigkeit. – Wo ist Bernardin?

CLAUDIO.

So fest im Schlafe wie schuldlose Arbeit,[270]

Wenn sie des Wandrers Glieder schwer belastet;

Er wird nicht wach.

SCHLIESSER.

Ihm kann auch keiner helfen.

Nun geht, bereitet Euch! – Horcht, welch Geräusch?


Man hört klopfen. Claudio geht ab.


Gott woll' Euch Trost verleihn! Schon gut, ich komme! –


Ich hoff', es ist Begnad'gung oder Aufschub

Für unsern guten Claudio. – Willkommen, Vater! –


Der Herzog tritt auf.


HERZOG.

Der Nacht heilsamste, beste Geisterschar

Umgeb' Euch, guter Schließer! War hier niemand?

SCHLIESSER.

Seitdem die Abendglock' ertönte, niemand.

HERZOG.

Nicht Isabella?

SCHLIESSER.

Nein.

HERZOG.

Dann kommen sie.

SCHLIESSER.

Ist Trost für Claudio?

HERZOG.

Ein'ge Hoffnung bleibt.

SCHLIESSER.

Das ist ein harter Richter! –

HERZOG.

Das nicht! Das nicht! Sein Leben folgt genau

Der strengen Richtschnur seines ernsten Rechts.

In heiliger Enthaltsamkeit bezwingt er

An sich, was seine Herrschermacht mit Nachdruck

In andern strebt zu dämpfen. Schwärzt' ihn selbst,

Was er bestraft, dann wär' er ein Tyrann;

Doch so ist er gerecht. – Jetzt sind sie da. –


Es wird geklopft. Schließer ab.


Der Mann ist mild! Und selten, daß geneigt

Der harte Schließer sich dem Menschen zeigt!

Was gibt's? Wer pocht? Das ist ein hast'ger Geist,

Der so mit Klopfen schlägt ans stille Tor! –


Der Schließer kommt zurück und spricht zu einem draußen.


SCHLIESSER.

Laßt ihn noch warten, bis der Pförtner kommt

Ihn einzulassen; er ist unterwegs.[271]

HERZOG.

Ward der Befehl noch nicht zurückgenommen?

Muß Claudio morgen sterben?

SCHLIESSER.

Keine Änd'rung!

HERZOG.

Wie nah die Dämm'rung, Schließer, dennoch hoff' ich,

Vor Tagesanbruch hört Ihr mehr.

SCHLIESSER.

Vielleicht

Wißt Ihr etwas. Doch fürcht' ich sehr, ihm wird

Begnad'gung nicht. Nie ward solch Beispiel kund;

Und überdies hat selbst vom Richterstuhl

Lord Angelo dem Ohr des ganzen Volks

Das Gegenteil erklärt.


Ein Bote kommt.


HERZOG. Ein Diener des Regenten!

SCHLIESSER. Der bringt für Claudio die Begnadigung.

BOTE. Mein Herr sendet Euch diese Zeilen, und durch mich den mündlichen Auftrag, daß Ihr nicht von dem kleinsten Punkt derselben abweichen sollt, weder in Zeit, Inhalt, noch sonst einem Umstand. – Guten Morgen, denn ich denke, der Tag bricht schon an. Bote geht ab.

SCHLIESSER. Ich werde gehorchen.

HERZOG.

Sein Gnadenbrief! Erkauft durch solche Sünden,

Die den Begnad'ger selbst als Frevler künden!

Da blüht den Lastern schnell und leicht Gedeihn,

Wo Macht und Hoheit ihnen Schutz verleihn.

Wirkt Sünde Huld, wird zu viel Huld geübt,

Weil sie des Frevels halb den Frevel liebt. –


Nun, Herr? Was schreibt er Euch?

SCHLIESSER. Wie gesagt, Lord Angelo, der mich vermutlich nachlässig im Dienst glaubt, ermuntert mich durch dies ungewöhnliche Treiben. Mir scheint dies seltsam, denn es war früher nie seine Gewohnheit.

HERZOG. Ich bitt' Euch, laßt doch hören!

SCHLIESSER liest. »Was Ihr auch immer vom Gegenteil hören mögt, laßt Claudio um vier Uhr hinrichten, und nachmittags den Bernardin. Zu besserer Versicherung schickt mir Claudios Kopf um fünf. Laßt dies genau vollzogen werden, und seid eingedenk, daß mehr hieran liegt, als wir Euch für jetzt[272] mitteilen dürfen. Verfehlt daher nicht, Eure Pflicht zu tun, indem Ihr auf eigne Gefahr dafür stehen müßt.« – Was sagt Ihr dazu, Herr? –

HERZOG. Wer ist der Bernardin, der diesen Nachmittag enthauptet werden soll?

SCHLIESSER. Ein Zigeuner von Geburt, doch hier im Lande erzogen und groß geworden; er sitzt schon seit neun Jahren gefangen. –

HERZOG. Wie kommt es, daß ihn der abwesende Herzog nicht entweder in Freiheit setzte oder hinrichten ließ? Wie ich höre, pflegte er immer so zu verfahren.

SCHLIESSER. Seine Freunde wirkten beständig Aufschub für ihn aus, und in der Tat ward sein Verbrechen erst unter Lord Angelos Regierung unzweifelhaft erwiesen.

HERZOG. Ist es jetzt dargetan? –

SCHLIESSER. Ganz offenbar, und von ihm selbst eingestanden.

HERZOG. Hat er Reue im Gefängnis an den Tag gelegt? Scheint er gerührt zu sein?

SCHLIESSER. Ein Mensch, dem der Tod nicht fürchterlicher vorkommt als ein Weinrausch; sorglos, unbekümmert, furchtlos vor Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; ohne Scheu vor dem Tod, und ein ruchloser Mörder.

HERZOG. Ihm fehlt Belehrung.

SCHLIESSER. Die hört er nicht an; er hat jederzeit viel Freiheit im Gefängnis gehabt; man könnte ihm freistellen zu entfliehen, er würde es nicht tun. Er berauscht sich mehrmals am Tage; oft ist er mehrere Tage hinter einander betrunken. Mehr als einmal haben wir ihn geweckt, als wollten wir ihn zur Hinrichtung führen, und ihm einen vorgeblichen Befehl dafür gezeigt: es hat nicht den mindesten Eindruck auf ihn gemacht.

HERZOG. Hernach mehr von ihm. Auf Eurer Stirn, Kerkermeister, stehn Redlichkeit und Entschlossenheit geschrieben; lese ich nicht recht, so täuscht mich meine alte Erfahrung. Indes, im Vertrauen auf mein sichres Urteil will ich's drauf wagen. Claudio, für dessen Hinrichtung Ihr jetzt den Befehl habt, ist dem Gesetz nicht mehr verfallen als Angelo, der ihn verurteilt hat. Euch davon durch eine augenscheinliche[273] Probe zu versichern, bedarf es nur eines Aufschubs von vier Tagen, während dessen Ihr mir eine augenblickliche und gewagte Gefälligkeit erzeigen sollt.

SCHLIESSER. Und worin, ehrwürdiger Herr?

HERZOG. Indem Ihr seinen Tod verschiebt!

SCHLIESSER. Ach, wie kann ich das? Da mir die Stunde bestimmt und der ausdrückliche Befehl zugesandt ist, bei Todesstrafe seinen Kopf dem Angelo vor Augen zu bringen? Ich würde mir Claudios Schicksal zuziehn, wollte ich nur im geringsten hievon abweichen.

HERZOG. Bei meinem Ordensgelübde will ich Euch für alles einstehn, wenn Ihr meiner Leitung zu folgen wagt. Laßt diesen Bernardin heut morgen hinrichten und schickt seinen Kopf dem Angelo!

SCHLIESSER. Angelo sah sie beide und würde das Gesicht erkennen.

HERZOG. Oh, der Tod ist Meister im Entstellen, und Ihr könnt ihm zu Hülfe kommen. Schert ihm das Haupt, kürzt ihm den Bart, und sagt, der reuige Sünder habe dies vor seinem Tode so verlangt: Ihr wißt, daß der Fall häufig vorkommt. Wenn Euch irgend etwas hieraus erwächst, als Dank und gutes Glück: bei dem Heiligen, dem ich mich geweiht, so will ich's mit meinem Leben vertreten.

SCHLIESSER. Verzeiht mir, guter Pater, es ist gegen meinen Eid.

HERZOG. Schwurt Ihr dem Herzog oder seinem Statthalter?

SCHLIESSER. Dem Herzog und seinem Stellvertreter.

HERZOG. Ihr würdet nicht glauben, Euch vergangen zu haben, wenn der Herzog dies Verfahren billigte?

SCHLIESSER. Aber welche Wahrscheinlichkeit hätte ich dafür?

HERZOG. Nicht nur eine Möglichkeit, nein, eine Gewißheit. Doch weil ich Euch furchtsam sehe, und weder meine Ordenstracht, meine lautre Gesinnung, noch meine Überredung Euch gewinnen können, so will ich weiter gehn, als ich mir's vorgesetzt, um alle Furcht in Euch zu vernichten. Seht her, Freund! Hier ist des Herzogs Handschrift und Siegel. Ihr kennt die Schrift ohne Zweifel, und das Petschaft wird Euch nicht fremd sein.[274]

SCHLIESSER. Ich kenne sie beide.

HERZOG. Dieser Brief meldet des Herzogs Rückkehr; Ihr sollt ihn sogleich nach Gefallen durchlesen, und werdet sehn, daß er binnen zwei Tagen hier sein wird. Dies ist ein Umstand, den Angelo nicht weiß; denn eben heut erhält er Briefe von sonderbarem Inhalt: vielleicht daß der Herzog gestorben, vielleicht daß er in ein Kloster gegangen sei; aber wohl nichts von dem, was hier geschrieben steht. Seht, der Morgenstern macht den Schäfer schon munter. Staunt nicht zu sehr, wie alles dies zusammenhängt; alle Schwierigkeiten sind leichter, wenn man sie kennt. – Ruft Eure Scharfrichter, und herab mit Bernardinos Haupt; ich will sogleich seine Beichte hören und ihn für ein beßres Leben vorbereiten. Ich sehe, Ihr seid noch erstaunt; aber dies muß Euch durchaus zur Entschließung bringen. Kommt mit, es ist schon lichte Dämmerung.


Beide ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975, S. 268-275.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Maß für Maß
Measure for Measure/ Mass für Mass [Zweisprachig]
Maß für Maß: Zweisprachige Ausgabe
Maß für Maß. Measure for Measure. Englisch-deutsche Studienausgabe
Romeo und Julia / Maß für Maß
Measure for Measure / Mass für Mass: Englisch-deutsche Studienausgabe (Engl. / Dt.) Englischer Originaltext und deutsche Prosaübersetzung

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon