Zweite Szene

[946] Straße.


Lucius kommt mit drei Fremden.


LUCIUS. Wer, Lord Timon? Er ist mein sehr guter Freund, und ein ausgezeichneter Ehrenmann.

ERSTER FREMDER. Wir kennen ihn nicht anders, obwohl wir ihm fremd sind. Aber ich kann Euch etwas sagen, Mylord, was ich durch das allgemeine Gerücht gehört habe. Timons glückliche Tage sind vergangen und verschwunden, und sein Besitztum wird ihm ungetreu.

LUCIUS. Nein, glaubt das nicht; um Geld kann er nie in Verlegenheit sein.

ZWEITER FREMDER. Aber glaubt mir dies, gnädiger Herr, daß vor kurzem einer seiner Diener bei Lord Lucullus war, um ich weiß nicht wie viele Talente zu borgen; ja, und noch mehr, sehr in ihn drang, und die Notwendigkeit zeigte, die ihn zu diesem Schritt bewog, und doch abgewiesen ward.

LUCIUS. Wie?

ZWEITER FREMDER. Ich sage Euch, abgewiesen!

LUCIUS. Wie seltsam ein solches Beginnen! Nun, bei den Göttern, ich muß mich dessen schämen. Den würdigen Mann abzuweisen! darin zeigte er wenig Gefühl für Ehre. Was mich betrifft, ich muß bekennen, ich habe einige kleine Liebeszeichen von ihm erhalten, Geld, Silbergeschirr, Edelsteine und dergleichen Kleinigkeiten, nichts in Vergleich mit je[946] nem; doch, hätte er ihn übergangen und zu mir gesendet, ich hätte seinem Bedürfnis diese Talente nicht geweigert.


Servilius tritt auf.


SERVILIUS. Ei sieh, zum guten Glück, da ist ja der edle Lucius; ich habe schwitzen müssen, ihn zu finden. – Verehrter Herr!

LUCIUS. Servilius! Gut getroffen! Lebe wohl! – Empfiehl mich deinem edlen, tugendhaften Herrn, meinem allerteuersten Freunde!

SERVILIUS. Mit Euer Gnaden Erlaubnis, mein Herr sendet –

LUCIUS. Was sendet er? Ich bin deinem Herrn schon so sehr verpflichtet; er sendet immer. O sage mir, wie kann ich ihm wohl danken? Und was sendet er mir jetzt?

SERVILIUS. Nur sein augenblickliches Ersuchen sendet er Euch jetzt, mein gnädiger Herr; und bittet Euch, ihm sogleich mit so vielen Talenten auszuhelfen, als hier geschrieben stehen.

LUCIUS.

Ich weiß, der gnäd'ge Lord scherzt nur mit mir;

Nicht fünfzig, hundert fehlen ihm Talente.

SERVILIUS.

Doch fehlt ihm jetzt die weit geringre Summe.

Bedürft' er's nicht zum Äußersten, Mylord,

Würd' ich nicht halb so eifrig in Euch dringen.

LUCIUS. Sprichst du im Ernst, Servilius?

SERVILIUS. Bei meiner Seele, Herr, es ist wahr.

LUCIUS. Welch ein gottvergessenes Tier war ich, mich eben vor einer so gelegenen Zeit vom Gelde zu entblößen, da ich mich hätte als einen Mann von Ehre zeigen können! Wie unglücklich trifft es sich, daß ich durch einen kleinen Einkauf am Tage zuvor nun einen großen Teil meiner Ehre einbüßen muß! – Servilius, ich rufe die Götter zu Zeugen, ich bin nicht imstande, es zu tun; um so mehr Vieh, sage ich noch einmal! – Ich wollte soeben selbst Timon ansprechen, das können diese Herren bezeugen; aber jetzt möchte ich um alle Schätze von Athen nicht, daß ich es getan hätte. Empfiehl mich angelegentlich deinem liebevollen Gebieter; ich hoffe, sein Edelmut wird das Beste von mir denken, da es nicht in meiner Macht steht, mich ihm freundlich zu bezeigen. – Und[947] sage ihm von mir, ich halte es für einen der größten Unglücksfälle, die mich treffen konnten, daß ich solchem edlen Mann nicht dienen kann. Guter Servilius, willst du mir so viele Liebe erzeigen, meine eigenen Worte gegen ihn zu gebrauchen?

SERVILIUS. Ja, Herr, das werde ich.

LUCIUS. Ich werde daran denken, dir einen Gefallen zu tun, Servilius.


Servilius geht ab.


Grad' wie Ihr sagt: mit Timon will sich's neigen;

Wem man nicht traut, der kann nie wieder steigen.


Lucius geht ab.


ERSTER FREMDER.

Bemerkt Ihr dies, Hostilius?

ZWEITER FREMDER.

Nur zu gut.

ERSTER FREMDER.

Dies ist

Der Geist der Welt; und grad' aus solchem Tuch

Ist jedes Schmeichlers Witz. Ist der noch Freund,

Der mit uns in dieselbe Schüssel taucht?

Timon, ich weiß, war dieses Mannes Vater,

Es rettete sein Beutel ihn vom Fall;

Hielt sein Vermögen, ja, mit Timons Geld

Bezahlt er seiner Diener Lohn; nie trinkt er,

Daß Timons Silber nicht die Lipp' ihm rührt;

Und doch (o seht, wie scheußlich ist der Mensch,

Wenn er des Undanks Bildung an sich trägt!)

Versagt er nun, verglichen dem Empfangnen,

Was ein barmherz'ger Mann dem Bettler gibt.

DRITTER FREMDER.

Die Fömmigkeit seufzt leidend.

ERSTER FREMDER.

Was mich betrifft

Ich habe nie von Timon was genossen,

Noch teilte mir sich seine Güte mit,

Als Freund mich zu bezeichnen; doch beteur' ich,

Um seines edlen Sinns erlauchter Tugend

Und seines adeligen Wesens halb, –

Wenn er in seiner Not mich angegangen,

Mein ganz Besitztum hätt' ich hingeopfert,

Daß ihm die größte Hälfte wiederkehrte,[948]

So lieb' ich sein Gemüt. Doch merk' ich wohl,

Man muß mit zartem Sinn zu geben wissen;

Denn Klugheit thront noch höher als Gewissen.


Sie gehn ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4, Berlin: Aufbau, 1975, S. 946-949.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Timon von Athen
Timon von Athen (Theatralische Werke in 21 Einzelbänden, Bd.7)
König Lear /Macbeth /Timon von Athen
Timon of Athens / Timon von Athen: Englisch-deutsche Studienausgabe (Engl. / Dt.) Englischer Originaltext und deutsche Prosaübersetzung
Timon von Athen

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon