[990] Vor den Toren von Athen.
Trompeten. Alcibiades tritt auf mit seinem Heer.
ALCIBIADES.
Blast dieser feigen, schwelgerischen Stadt
Ins Ohr mein schrecklich Nahn!
Trompeten. Die Senatoren erscheinen auf den Mauern.
Bis jetzt gelang es euch, die Zeit zu widmen
Mit Maß der Willkür; Satzung war allein,
Was gut euch dünkte; ich und andre schliefen
Im Schatten eurer Macht, und wanderten,
Kreuzweis die Arm', und seufzten unser Leid
Vergeblich nur. Nun ist die Zeit erwachsen,[990]
Das Lasttier darf im Dienst sich kräftig fühlen
Und schreit von selbst: »Nicht mehr!« In Polsterstühlen
Wird jetzt bequem geschmähte Kränkung ruhn,
Und der goldschwere Übermut wird keuchen,
In Furcht und grauser Flucht.
ERSTER SENATOR.
O edler Jüngling,
Als deine erste Kränkung noch Gedanke,
Eh' du 'Gewalt hatt'st und wir Grund, zu fürchten,
Kam Botschaft dir, mit Balsam deine Wut,
Mit Liebe unsern Undank auszutilgen,
Mehr zahlend als die Schuld.
ZWEITER SENATOR.
Auch luden wir
Zu unsrer Stadt den umgeschaffnen Timon,
Demütig flehend, liebevoll versprechend.
Nicht alle fehlten, drum verdienen alle
Des Krieges Geißel nicht.
ERSTER SENATOR.
Hier diese Mauern,
Sie wurden nicht durch deren Hand gebaut,
Die dich gekränkt; noch ist so groß die Kränkung,
Daß diese Türm' und Tempel fallen sollten
Um Schuld der einzelnen.
ZWEITER SENATOR.
Auch sind sie tot,
Die Ursach' waren, daß du dich schied'st von hier:
Scham über ihren Fehl, in Übermaß,
Zerbrach ihr Herz. So zieh' denn, edler Feldherr,
Mit fliegendem Panier in unsre Stadt:
Laß, durch das Los bestimmt, den Zehnten sterben;
Hungert dein Rachgefühl nach dieser Speise,
Vor der Natur ergraut, nimm du den Zehnten;
Wie, durch Geschick, des Würfels Flecken fallen,
So falle der Befleckte!
ERSTER SENATOR.
Alle fehlten nicht;
Nicht billig ist's, für die Verstorbnen Rache
An Lebenden zu nehmen: Sünde erbt
Sich nicht, wie Land und Gut. Drum, teurer Landsmann,
Führ' ein dein Heer, doch laß die Wut da draußen:
Schon' deiner Wieg', Athens, verwandten Bluts,
Das deines Zornes Sturm vergießen würde[991]
Mit dem der Schuldigen: gleich einem Schäfer
Nah' deiner Hürd', und sondre das Erkrankte,
Doch nicht erwürge alles!
ZWEITER SENATOR.
Was du foderst,
Wirst du mit deinem Lächeln eh' erzwingen,
Als mit dem Schwert erhaun,
ERSTER SENATOR.
Setz' nur den Fuß
An dies bollwerkte Tor, so springt es auf,
Hast du dein mildes Herz voraus gesandt
Als Freundesboten.
ZWEITER SENATOR.
Wirf den Handschuh her;
Gib jedes andre Unterpfand der Ehre,
Daß du zur Herstellung den Krieg nur nutzest
Und nicht zu unserm Sturz, – so nimmt dein Heer
Wohnung in unsrer Stadt, bis wir bewilligt
Dein vollestes Begehr.
ALCIBIADES.
Hier ist mein Handschuh:
Tut auf das unbewehrte Tor, steigt nieder!
Die, welche Timons Feind' und meine sind,
Und die ihr selbst zur Strafe ziehen sollt,
Die einzig fallen: eure Furcht soll tilgen
Mein Ehrenwort, daß nicht ein Mann verläßt
Sein Standquartier, den Strom auch keiner trübe
Des hergebrachten Rechts in eurer Stadt:
Geschieht's, so zieh' ihn eure eigne Satzung
Zur strengen Rechenschaft!
BEIDE.
Ein edles Wort!
ALCIBIADES.
So steigt herab und haltet das Versprechen!
Die Senatoren steigen herab und öffnen die Tore.
Ein, Soldat tritt auf.
SOLDAT.
Mein edler Feldherr, Timon ist gestorben
Und an des Meeres ödem Strand begraben.
Auf seinem Grabstein fand ich diese Schrift;
Ich prägte sie in Wachs, des sanfte Form
Dir deute, was ich selbst nicht lesen kann.
ALCIBIADES liest.
»Hier liegt der traurige Leib, dem der traur'ge Geist entschwebt;[992]
Forscht meinen Namen nicht: Fluch allem, was da lebt!
Hier lieg' ich, Timon: da ich lebt', haßt' ich, was Leben hegt:
Geh, fluch' von Herzen, aber mach', daß fort dein Fuß dich trägt!«
Wohl drückt dies aus, was du zuletzt gefühlt:
Hast unser menschlich Leid du auch verachtet,
Die Tränenflut, die Tropfen, welche karg
Die Rührung fallen läßt: doch lehrte dich
Dein reicher Witz, Neptunus selbst zu zwingen,
Daß er nun ewig weint gesühnte Fehler
Auf deinem niedern Grab. Gestorben ist
Der edle Timon; künftig mehr von ihm!
Führt mich in eure Stadt, und mit dem Schwert
Bring' ich den Ölzweig: Krieg erzeuge Frieden,
Und Frieden hemme Krieg; jeder erteile
Dem andern Rat, daß eins das andre heile! –
Rührt eure Trommeln!
Alle gehn ab.[993]
Ausgewählte Ausgaben von
Timon von Athen
|
Buchempfehlung
Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.
546 Seiten, 18.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro