An meine Tochter

Karoline Beate, vermählte Duncker

[170] Dein gedenk' ich, wenn am jungen Tage

Rosenglanz die Silberwolken malt,

Wenn bei Philomelens spätem Schlage,

Luna mir in's öde Zimmer stralt;

Dein gedenk' ich, wenn der junge Frühling

Mir zu neuen süssen Freuden winkt,

Dein gedenk' ich, wenn mein Geist entfesselt,

Sich empor zu seinem Schöpfer schwingt!


Dein gedenk' ich, wenn, im Hochgefühle

Einer schönen That, mein Busen glüht;

Dein gedenk' ich, wenn im Weltgewühle

Hier und da mir noch ein Blümchen blüht;

Dein gedenk' ich, wenn in heil'ger Stille

Holder Musen Nähe mich entzückt,

Mich in hohen dichterischen Träumen

Eine neugeschaffne Welt beglückt!


Dein gedenk' ich, wenn die laute Freude

Die Natur in ihre Arme nimmt,

Dein gedenk' ich, wenn im Schmuck der Freude

Der Olymp in Rosengluten schwimmt,

Wenn im Schauer ernster Mitternächte

Furcht und Zweifel wechselnd mich ergreift,

Und der Engel mit gesenkter Fackel

Die Phantome meines Geistes häuft!
[171]

Dein gedenk' ich, wenn in dunklen Tagen

Bange Schwermuth traurig mich beschleicht,

Und Dein Name tönt in meine Klagen,

Wenn durch Körperschmerz mein Leiden steigt;

O! dann hebet zärtliches Verlangen,

Dich zu sehn, empor die bange Brust,

Träumend seh' ich Dich an meinem Herzen,

Im Entzücken lang' entbehrter Lust!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 170-172.
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