Im Mondenlichte

[29] Dem Andenken meines ältesten Bruders geweiht


Der Abend dämmert, Berge rauchen,

Aetherische Gestalten fliehn,

Der hohen Wälder Gipfel tauchen

In Lunens Glanz ihr dunkles Grün,

Sie webt der Nacht den heil'gen Schleier,

Ihr glüht auf der gestirnten Bahn

Der kühne Adler und die Leyer,

Der stolze königliche Schwan!


Wie sanft umleuchtet nicht ihr Bogen

Der stillen Schöpfung weites Reich;

Sie malt des weiten Meeres Wogen,

Und ruht auf sanft umgrüntem Teich,

Sie stralet dir auf öder Haide,

Begleitet dich durch Wald und Thal,

Und glänzt beim trauten Fest der Freude

Im goldnen schäumenden Pokal!
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Sie theilt mit dir der Liebe Schmerzen,

Von Mitempfindung spricht ihr Blick,

Beruhigt wunde bange Herzen

Durch Hoffnung auf ein schön'res Glück;

Sie steigt zu den gestirnten Kreisen

Voll Majestät vom Wolkensaum,

Streut Schlummer-Körner um den Weisen,

Zum langen süssen Morgentraum!


Sie wallt um die bemoosten Hügel

Im trauernden Zypressenhain,

Und windet traulich ihre Flügel

Um Aschenkrug und Leichenstein;

Dort, wo an Seelands weisser Küste

Er ruht, mein Bruder und mein Freund,

Umarmt sie hold die kalte Büste,

Wenn weit entfernt mein Auge weint!


Heb', Zephyr! schmeichelnder die Flügel,

Wo an der fernen Schelde Strand

Mein Albrecht, unterm Blumenhügel,

Der Ruhe süssen Schlummer fand!

Bald wird ein Tag uns froh vereinen,

Schon seh' ich ihn verklärt und schön

In Edens lichtumflossnen Hainen

Mir sehnsuchtsvoll entgegen gehn!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 29-31.
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