Meinem theuren Freunde,

Herrn Doktor Willebrand zu Hamburg

[56] An dem Tage, da die Morgenröthe

Mir zum erstenmal die Wange küsste,

Barg mein guter Genius sich weinend,

Flehte: Rufe nicht sie, Gott! ins Daseyn!

Und es sank herab auf Rosenäther

Von des Himmels Erstgebornen Einer,

Sah die Thränen, die mein Engel weinte,

Und er trocknete sie sanft und milde;

Dann befahl er ihm mit ernsten Tönen:

Nimm die Harfe mit den goldnen Saiten,

Gieb sie hin zur Trösterin der Armen,

Dass sie ihre Klagen in die Töne,

Die des Herzens Angstgefühl' entströmen,

Die es tröstend lindern, leise hauche.

Und dann führe ihr die holde Freundschaft

Auf dem Felsenpfade ihres Lebens

In der Güte holdem Bild entgegen!

Trocknen soll sie ihre bittren Thränen,

Lindern soll sie all' die tausend Schmerzen,

Die die Gottheit ihr befahl zu tragen![57]

Lass sie weinen auf die goldne Harfe;

Trösten wird sie dann die heil'ge Freundschaft!

Sieh'! da schwebte meinem trauten Schutzgeist

Auf des Abendwindes leisem Wehen

In verklärtem Glanz dein Bild entgegen:

Willebrand! dein Bild, das oft so tröstend

Balsam der Religion mir reichte,

Und die sel'ge Ahnung ew'ger Freuden

In den tiefgebeugten Geiste weckte;

Noch am Grabe werd' ich Dir es danken,

Dass des Todes Hauch nicht früher wehte!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 56-58.
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