An meinen Freund Willebrand zu Hamburg

[53] An dem Tage, da die Morgenröthe

Mir zum erstenmal die Wange küßte,

Barg mein guter Genius sich weinend,

Flehte: »Laß sie schlummern, Gott! im Grabe.«

Und es sank herab auf Rosenäther

Von des Himmels Erstgebohrnen Einer,

Trocknete die Thränen meines Engels,

Und befahl ihm dann mit leisen Tönen:

»Nimm die Harfe mit den goldnen Saiten,

Gieb sie hin zur Trösterin der Armen,

Daß sie ihre Klagen in die Töne,

Die des Herzens Angstgefühl entströmen,

Mit zerrißnem Herzen leise hauche,

Und dann führe ihr die holde Freundschaft

Auf dem Felsenpfade ihres Lebens

Ueber Dorngewinden sanft entgegen;

Trocknen soll sie all' die blut'gen Thränen

Lindern soll sie all' die tausend Schmerzen,[54]

Die zu tragen ihr von ew'ger Vorsicht

Weisheitsvoll und gütig sind gewogen!

Laß sie weinen auf die goldne Harfe;

Trösten wird sie dann die heil'ge Freundschaft!«

Sieh, da schwebte meinem trauten Schutzgeist,

Auf des Abendwindes leisem Wehen,

In verklärtem Glanz' Dein Bild entgegen;

Willebrand! Dein Bild, das oft so tröstend

Balsam der Religion mir reichte,

Und die sel'ge Ahnung ew'ger Freuden

In dem tiefgebeugten Geiste weckte;

Noch am Grabe werd' ich Dir es danken,

Daß des Todes Hauch nicht früher wehte.

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 53-55.
Lizenz:
Kategorien: