Einunddreißigstes Capitel.

[346] Mein Wunsch und meine Hoffnung, während der Conferenz in der Verborgenheit bleiben zu können, sollten auf die seltsamste Weise getäuscht werden. Ich war dazu ausersehen, eine Rolle, und noch dazu keine unbedeutende, in dem Familien-Drama zu spielen.

Die Gäste waren angekommen und in der nicht eben geräumigen Wohnung des Directors schicklich untergebracht. Am Abend war gemeinschaftliche Tafel gewesen, an welcher auch Doctor Snellius teilgenommen hatte. Er war am nächsten Morgen in aller Frühe bei mir, um sein volles Herz auszuschütten.

Doctor Snellius war sehr aufgeregt; ich hörte es beim ersten Worte, denn er setzte noch eine Terz höher als gewöhnlich ein.

»Ich wußte es ja«, krähte er. »Es war ein Unsinn, sich diesen Heuschreckenschwarm auf den Hals zu laden; sie werden mir meinen armen Humanus, an dem so nicht mehr viel grüne Blätter sind, vollends auffressen. Ist das eine Gesellschaft! Sie haben mir noch nicht den hundertsten Theil von dem Schlimmen gesagt, das selbst ein so lammfrommes Gemüth, wie das meine, von diesen Menschen sagen kann und muß und will. Menschen! Es ist ein Scandal, wie man mit dem Worte umgeht! Warum Menschen? Weil sie auf zwei Beinen gehen? Dann wären die gräulichen Geschöpfe, die Gulliver in dem Lande der edlen Pferde traf, auch Menschen gewesen. Aber der englische Skeptiker wußte es besser und nannte sie Yahoos. Und das sind unsere lieben Gäste, oder es giebt keine Naturgeschichte! Der Commerzienrath mit seinem dicken Bäuchlein, seinen zwinkernden, schlauen Aeuglein ist einer. Ich habe ihm genau auf die kurzen, plumpen Finger gesehen; ich glaube, der Kerl hat sich die Vorderglieder in seinem Golde abgewühlt. Und der Herr Steuerrath ist auch einer, obgleich er sich verzweifelte Mühe giebt, als ein Mensch zu erscheinen. Er hat lange Finger, sehr lange; aber hat je ein Mensch so lange Finger so langsam übereinandergedreht und einen solchen langen, geschmeidigen Katzenbuckel dazu gemacht und ein solches weißes, glattes, lächelndes, falsches[347] Diebsgesicht? Von der gnädigen geborenen Baronesse Kippenreiter glaubt ein Jeder auf's Wort, daß sie in der Republik jener bezaubernden Geschöpfe einen hohen Rang eingenommen hat und erst mit dem letzten Schiffe in Europa angekommen ist. Sie kann sich nicht verleugnen; sie fletscht ihre langen, gelben Zähne noch allzu ursprünglich yahoohaft! Hm, hm, hm!«

»Und Fräulein Duff?« fragte ich, während sich der Doctor herabstimmte.

»Duff?« rief er; »Wer ist Fräulein Duff?«

»Die Gouvernante der kleinen Hermine.«

»Der kleinen Schönheit, zu der ich gerufen wurde? Die heißt Fräulein Duff? Sehr guter Name! Könnte auch Duft sein und wäre dann richtiger. Blühende Reseda in Töpfen und vertrocknete zwischen den Flanelljacken in der Commode; vergilbte Bänder, vergilbte Stammbuchblätter und ein schmales, goldenes Ringlein, das nicht einmal sprang, als der Undankbare Elviren verließ. Heißt sie nicht auch Elvire? Sie muß so heißen. Amalie, sagen Sie? Ist entschieden ein Druckfehler; nichts bei ihr erinnert an die ›Räuber‹, es müßten denn die langen Schmachtlocken sein, die zweifellos gestohlen sind.«

»Und weshalb wurden Sie zu der Kleinen gerufen?«

»Sie hatte unterwegs zu viel Apfelkuchen gegessen. Als ob einer kleinen Millionärin so etwas schaden könnte! Ja, wenn es Commisbrod gewesen wäre! So sagte ich auch dem betrübten Vater. Sie hat in ihrem Leben noch keine Krume Commisbrod gegessen, rief das Ungethüm und patschte sich auf das spitze Bäuchlein. Wer nie sein Brod mit Thränen aß! seufzte die Gouvernante und fügte hinzu: Das sei eine ewige Wahrheit. Der Henker mag wissen, was sie damit gemeint hat.«

Der Doctor ging seine Kranken zu besuchen; ich machte mich auf den Weg nach dem Bureau, drückte mich an der Mauer hin und schlich mich durch die Hinterthür in das Haus, aus Furcht, von irgend einem der Gäste gesehen zu werden. Aber es sah mich Niemand.

Dafür sollte ich sie im Laufe des Vormittags der Reihe nach aus der Verborgenheit meines Fensters her zu sehen bekommen. Zuerst den Commerzienrath, der, eine lange Pfeife im Munde, seine Morgen-Promenade durch den Garten[348] machte. Er schien über wichtige Dinge nachzudenken. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und starrte minutenlang vor sich hin. Ohne Zweifel rechnete er; ich bemerkte, wie er mit den plumpen Fingern multiplicirte und dann mit der Spitze der Pfeife das Facit in die Luft schrieb. Einmal schmunzelte er höchst behaglich; was mochte er herausgerechnet haben?

Der Zweite war der Steuerrath. Er ging eine Stunde später mit seinem Bruder durch den Garten. Der Steuerrath sprach sehr eifrig, er legte wiederholt seine Rechte betheuernd auf die Brust. Der Director hatte die Augen gesenkt; der Gegenstand des Gespräches schien ihm peinlich zu sein. Als sie in die Nähe meines Fensters gekommen waren, blickte er mit einiger Unruhe hinüber und zog den Bruder hinter eine Hecke. Augenscheinlich wünschte er mich nicht zum Augenzeugen der brüderlichen Gesticulationen.

Ich hatte mich wieder mit dem bitteren Gefühle, der Ueberflüssige, der Lästige zu sein, über meine Arbeit gebeugt, als plötzlich die Thür, welche aus dem Bureau in den Garten führte, geöffnet wurde und der Steuerrath schnell hereintrat. Ich schrak zusammen, wie auch der Muthige erschrickt, wenn eine Schlange unversehens über seinen Weg schnellt. Der Steuerrath lächelte sehr gütig und streckte mir seine weiße, wohlgepflegte Hand entgegen, die er dann, als ich keine Miene machte, einzuschlagen, mit einer graziösen Schwenkung zurückzog.

»Mein lieber, junger Freund,« sagte er, »daß wir uns so wiedersehen müssen!«

Ich antwortete nicht; was hätte ich antworten sollen auf eine Phrase, in der jedes Wort und jeder Ton eine Lüge war?

»Wie würde ich Sie bedauern,« fuhr er fort, »hätte Sie das Schicksal nicht hierher zu meinem Bruder geführt, der ohne Zweifel einer der edelsten, besten Menschen ist, die existiren, und der mir noch eben, als wir draußen promenirten, so viel Liebes und Gutes von Ihnen gesagt hat. Ich mußte Ihnen die Hand bieten, obgleich ich ahnte, daß Sie nach dem Vorgange Ihres Vaters sich von dem abwenden würden, den das Schicksal wahrlich schon genug verfolgt hat.«

Und der Schicksal-Verfolgte warf sich in den Armstuhl und bedeckte seine Augen mit der langen, weißen Hand, deren[349] Goldfinger mit einem ungeheuerlichen Siegelring geschmückt war.

»Ich will ihm daraus keinen Vorwurf machen, Gott bewahre! Ich kenne ihn ja seit so vielen Jahren! Er ist einer von den strengen Menschen, deren Abscheu vor der Uebertretung so groß, aber auch so blind ist, daß in ihren Augen der Angeschuldigte immer zugleich als der Schuldige erscheint.«

Diese letzte Bemerkung war zu richtig, als daß ich ihr nicht innerlich und wahrscheinlich auch mit dem Ausdrucke meiner Miene hätte beistimmen sollen, denn der Steuerrath sagte mit einem melancholischen Lächeln:

»Sie wissen ja auch ein trauriges Lied davon zu singen! Nun, nun, ich will nicht an die Wunde rühren, die Sie mehr schmerzt als alle übrigen; aber Sie haben schließlich nur früher erfahren, was wir Alle einmal erfahren müssen, daß wir bei denen, die uns am allernächsten stehen, am wenigsten auf ein Verständniß unserer Absichten und Ansichten, ja selbst unserer Lage rechnen dürfen.«

Auch darin lag etwas Wahres, und ich konnte mich nicht enthalten, etwas freundlicher auf den Mann zu blicken.

»Da habe ich eben noch eine Probe davon gehabt. Mein Bruder Ernst ist, wie ich schon sagte, einer der besten Menschen, und doch, welche Mühe kostet es ihn, sich in meine Situation zu versetzen! Freilich, er, der von jeher in so rangirten Verhältnissen gelebt hat, er weiß nicht, was es heißt, über Nacht die Hälfte seiner Einnahmen zu verlieren, die so schon kärglich genug bemessen waren – er weiß nicht, was es heißt, mit seinen Gläubigern accordiren zu müssen – seine und der Seinen Existenz auf dem Spiele zu sehen, ach! und was das Bitterste ist, von dem guten Willen eines hartherzigen Geldmenschen abhängig zu sein!«

Hier zerdrückte die beringte weiße Hand eine Thräne, die sich in dem inneren Winkel des rechten Auges gebildet zu haben schien, und glitt dann resignirt in den Schooß, während ein sanftes Lächeln über die aristokratischen Züge des auf Wartegeld Gesetzten spielte.

Er erhob sich und sagte: »Verzeihen Sie mir: aber der Unglückliche fühlt einen unwiderstehlichen Zug zu dem Unglücklichen, und Sie sind immer ein Freund meines Hauses und der beste Kamerad meines Arthur gewesen. Sie dürfen[350] dem armen Jungen nicht bös sein, wenn ihn die Freude über sein Porteépée ein wenig närrisch gemacht hat. Sie kennen ihn ja! sein Herz weiß das zehntemal erst, was seine Zunge schwatzt, und er hat mir schon gestanden, daß er sich in dem Wahne, es seiner Fähnrichswürde schuldig zu sein, recht albern gegen Sie benommen habe. Sie müssen ihm wirklich verzeihen.«

Er lächelte wieder, nickte mit dem Kopfe, wollte mir die Hand reichen, besann sich, daß ich dieselbe vorhin ausgeschlagen, lächelte abermals, aber sehr traurig, und schritt nach der Gartenthür, die er leise öffnete und leise hinter sich zudrückte.

Ich blickte ihm mit einem aus Verwunderung und Beschämung seltsam gemischten Gefühl nach. War dieser sanft redende Mann, der in meiner Gegenwart über seine Lage weinen konnte, derselbe, zu dem der Knabe wie zu einem Halbgott emporgeblickt? Und wenn seine Lage so verzweifelt war – und sie mochte es, nach Allem, was ich davon wußte, sehr wohl sein – ich hätte mich freundlicher gegen ihn benehmen, hätte ihm ein Wort des Bedauerns gönnen, hätte vor Allem seine Hand nicht zurückweisen sollen.

Meine Stirn wurde heiß; es war das erstemal, daß ich einen Bittenden schroff zurückgewiesen. Ich fragte mich wieder, ob mich die Gefangenschaft doch nicht schlechter gemacht habe, und ich freute mich, daß ich über Alles, was ich von dem Verhältnisse des Steuerraths zu seinem verstorbenen Bruder wußte, so reinen Mund gehalten und besonders das Geheimniß jenes Briefes so treu bewahrt hatte, selbst dem Director gegenüber, dem ich doch sonst unbedingt vertraute. Ahnte der Steuerrath, daß ich hätte sprechen können, wenn ich gewollt, und war er heute Morgen gekommen, mir für mein Schweigen zu danken?

Der Steuerrath erschien mir plötzlich in einem ganz anderen und viel günstigeren Lichte. Man fühlt eine gewisse Zuneigung zu den Leuten, die man sich zu Dank verpflichtete, wenn sie die Klugheit haben, uns merken zu lassen, daß sie von dem Gefühle ihrer Verpflichtung vollkommen durchdrungen sind.

Ich werde auch Arthur zu verstehen geben, daß ich ihm seine Albernheit vergeben habe. Der Steuerrath hat Recht; er weiß es wirklich das zehntemal erst, wann ihm seine Zunge durchgeht.[351]

Indem ich diesen großmüthigen Entschluß faßte, klopfte es abermals – diesmal an der Thür, die nach dem Flur führte, und ich hätte beinahe laut gelacht, als sich auf mein »Herein« der Commerzienrath auf der Schwelle präsentirte, aber nicht mehr in Schlafrock und Pantoffeln, die lange Pfeife im Munde, wie vorhin, sondern im blauen Frack mit goldenen Knöpfen, hohem schwarzen Halstuch, aus dem die spitzigen Vatermörder vier Zoll hoch hervordrohten, buntgeblumter Weste, die dem spitzen Bäuchlein das Dasein nicht verkümmerte und dem sauber gebügelten Jabothemde die Aussicht nicht verwehrte, schwarzen Beinkleidern, die nicht so lang waren, daß man nicht hätte sehen können, wie fest die beiden Plattfüße in ihren blank gewichsten Stiefeln standen. Genau in demselben Anzuge wanderte der Mann durch die Erinnerungen meiner frühesten Jugendjahre, und vielleicht war es, weil ich damals in meiner kindischen Unschuld über die nach meinem Geschmack groteske Erscheinung gelacht hatte, daß mich jetzt – wo es sich allerdings weniger für mich schickte – wiederum die Lust zum Lachen anwandelte.

»Wie geht es Ihnen, mein lieber junger Freund?« sagte der Commerzienrath im Tone Jemandes, der sich nach dem Befinden eines Todkranken erkundigt.

Er hatte sich in denselben Stuhl gesetzt, aus welchem der Steuerrath eben aufgestanden war, und blickte mich von unten herauf wehmüthig an, wobei er den Kopf tief auf die Seite neigte, ungefähr wie eine Gans, wenn es aus heiterem Himmel donnert. Das sah so unendlich komisch aus; ich mußte nun wirklich lachen, und lachend erwiederte ich:

»Danke für die gütige Nachfrage, Herr Commerzienrath; recht gut, wie Sie sehen.«

»Sie sind ein Tausendsassa,« rief der Commerzienrath, indem er sofort auf meine Stimmung einging. »Aber das ist recht, wir leben nur einmal; man muß es nehmen, wie's kommt. Ich habe das noch vorgestern zu Ihrem Vater gesagt, dem ich auf der Straße begegnete. Du lieber Himmel, habe ich gesagt, was ist es denn so Großes? Wir sind Alle einmal jung gewesen, und Jugend hat keine Tugend. Warum sind Sie aus der Ressource ausgetreten? habe ich gesagt. Er hat ja nicht Zuchthaus; die National-Cocarde ist ihm nicht aberkannt; er hat ja blos Gefängniß. Das kann schließlich Jedem passiren; und Sie, habe ich gesagt, sind ein[352] solcher Ehrenmann, daß es uns Allen eine Ehre wäre, mit Ihnen Boston zu spielen, und wenn Sie vier Söhne im Zuchthause hätten.«

Des Commerzienraths Kopf sank wieder auf die Seite; ich mochte wohl bei seinen letzten Worten ein sehr ernstes Gesicht gemacht haben.

»Freilich,« sagte er, »Manche nehmen es leichter. Da ist mein Herr Schwager. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, trotzdem sein Vater ein ehemaliger Reichsfreier und der meine ein ganz gewöhnlicher Nadler war. Die Untersuchung hat ihn nur mit einem blauen Auge davokommen lassen. Man sollte meinen, er hätte für sein Lebtag genug; aber er kann das Intriguiren nicht lassen. Mein Gott, es ist eine Schande, wie viel mich diese Familie schon gekostet hat. Der Zehrendorfer und seine Wechsel! A propos! hat er Ihnen nie gesagt, daß er mir ganz Zehrendorf bereits vor Jahren verschrieben hat? Besinnen Sie sich doch einmal; er hat es Ihnen gewiß bei dieser oder jener Gelegenheit gesagt. Er gehörte nicht zu denen, die ein Blatt vor den Mund nehmen! Und nun der Steuerrath! Was habe ich für den Mann nicht schon gethan; und jetzt diese Ansprüche! Entschädigung! Unsereiner will doch auch leben! und wenn man auch keinen Sohn hat, der sich natürlich sein Brot nicht verdienen kann, so hat man doch eine Tochter, die man nicht verhungern lassen will. Solltet machen, daß Ihr frei kommt, alter Junge! Das Mädel frägt des Tages zehnmal nach Euch! Habt's ihm angethan! Tausendsassa, Ihr!«

Und der Commerzienrath, der sich erhoben hatte und jetzt mit Hut und Stock in der Hand neben mir stand, versetzte mir einen sanften Stoß in die Seite.

»Das ist sehr gütig von dem Fräulein,« erwiederte ich.

»Gott, wie das noch roth werden kann!« sagte der Commerzienrath; »ist recht; ganz wie bei mir. Respect vor den Damen! nur kein lockerer Zeisig! so Einer bringt's sein Lebtag zu nichts. Aber Fräulein dürft Ihr nicht zu meinem Hermann sagen; das leidet Mamsell Duff nicht, die durchaus Fräulein genannt sein will, trotzdem sie beide kleine Finger darum gäbe, wenn sie sich weder Mamsell noch Fräulein mehr nennen zu lassen brauchte.«

Und der Commerzienrath kniff die Augen ein, blies die Backen auf und stieß mich sanft in die Seite.[353]

»Ich werde schwerlich Gelegenheit dazu haben,« sagte ich.

»Puh!« sagte der Commerzienrath, »nur nicht tragisch! Wir sind ja hier ganz unter uns. Habe schon mit meinem Schwager gesprochen; Ihr müßt nothwendig heute Abend mit uns essen. Hermann – Ihr wißt: ich nenne sie Hermann! – will Euch durchaus sehen! Adieu!«

Und der Commerzienrath küßte die Spitzen seiner plumpen Finger und verließ das Zimmer, indem er mir noch in der Thür einen zwinkernden Blick zuwarf.

Was hatten diese Besuche zu bedeuten? Was wollten der hoffärtige Herr Steuerrath und der geldstolze Herr Commerzienrath bei dem Gefangenen? Darüber würde ich mir wohl vergeblich den Kopf zerbrochen haben, wenn nicht der Director, der am Nachmittage in das Bureau kam, ein Wort hätte fallen lassen, welches mir das Räthsel löste.

»Ich wollte, die nächsten drei Tage wären erst vorüber,« sagte er, »Sie glauben nicht, lieber Georg, wie widerwärtig mir diese Verhandlungen sind, die für mich ein materielles Interesse gar nicht haben. Man will mich eigentlich auch nur als Schiedsrichter und schmeichelt mir in der Hoffnung, mein Urtheil von vornherein gefangen zu nehmen. Und hätte ich doch nur ein Urtheil; aber wie ist das möglich bei einer Sache, die man nicht übersehen kann und die von den Parteien noch geflissentlich verdunkelt wird? Man rechnet auch auf Sie, lieber Georg, da Sie der Einzige sind, der meinem unglücklichen Bruder in der letzten Zeit nahe gestanden hat und möglicherweise über gewisse Punkte, die man aufzuklären wünscht, Auskunft geben kann. Und nun kommen Sie mit in den Garten; Snellius und Sie – Ihr müßt mir nothwendig die Gesellschaft unterhalten helfen. Meine arme Frau und ich bringen das wahrlich nicht fertig.«

Mit diesen Worten ergriff er lächelnd meinen Arm und ließ sich von mir die Stufen hinab in den Garten und den Gang hinauf zum Belvedere führen, von wo uns schon weither der Jubel der Kinder entgegenschallte. Es war das erstemal seit meinem Unglück, daß ich in eine eigentliche Gesellschaft treten sollte. Ich hatte in der Gefangenschaft Manches gelernt, worauf ich stolz war, aber auch Einiges, dessen ich mich schämte, zum Beispiel, die Beklommenheit, welche mich befiel, als die Stimmen der Redenden näher und näher an mein Ohr schlugen und ich die Gewänder der Damen[354] durch die von den Herbstwinden bereits sehr gelichteten Hecken schimmern sah.

Ich konnte mit dem Empfange zufrieden sein; die Knaben stürzten auf mich zu und Kurt rief, ich solle mit ihnen spielen, denn Cousin Arthur bleibe bei Hermine und Paula, und das sei langweilig und Hermine sei auch erst zehn oder elf Jahre und brauche gar nicht so stolz zu thun.

»Hermine thut nicht stolz, aber Ihr seid zu wild,« sagte Paula, die Hermine an der Hand hielt, während Arthur etwas weiter zurück stand und mit sichtbarer Verlegenheit die Erstlinge seines Schnurrbärtchens drehte.

Ich hatte die Knaben, einen nach dem anderen, sieben Fuß hoch gehoben und meine Verlegenheit damit, so gut es gehen wollte, verdeckt, während meine Augen unverwandt auf Hermine blickten. Aber es war auch nicht wohl möglich, etwas Zierlicheres und Lieblicheres zu sehen, als dies kleine, holde Geschöpf in seinem weißen Kleidchen, das richtig wieder mit kornblumblauen Bändern geschmückt war, wie damals auf dem Dampfschiffe. Und dabei blickten ihre großen blauen Augen so eifrig zu mir herüber, und der rothe Mund war halb geöffnet, als hätte sie plötzlich den Prinzen im Märchen in höchsteigener Person gesehen.

»Ist er das?« hörte ich sie halblaut Paula fragen, »und kann er wirklich Löwen bezwingen?«

Ich hörte nicht, was Paula auf diese sonderbare Frage antwortete, denn ich mußte mich jetzt zu Frau von Zehren wenden, die zwischen ihrer Schwägerin und Fräulein Duff auf der Bank saß. Frau von Zehren sah noch blasser als gewöhnlich aus, und ihre armen, blinden Augen richteten sich hilfesuchend auf mich, während ein verlegen-schmerzliches Lächeln um ihre feinen Lippen irrte.

Sie streckte mir sogar die Hand entgegen und richtete sich halb von der Bank auf, besann sich dann aber, daß sie wohl sitzen bleiben müsse, und lächelte noch schmerzlicher.

Ich wünschte die geborne Baronesse Kippenreiter mit den langen, gelben Zähnen und die Erzieherin mit den langen gelben Locken, die mich Beide mit der Lorgnette vor den Augen anstarrten, in's Pfefferland.

Der Director war ebenfalls herangetreten und sagte:

»Willst Du nicht meinen Arm ein wenig nehmen, Elise? Es wird Dir zu kühl, die Damen werden Dich gewiß entschuldigen.«[355]

»Ueberlassen Sie es mir, die liebe Frau spazieren zu führen!« rief die geborne Kippenreiter, indem sie entschlossen aufsprang. Der Director zuckte kaum merklich die Achseln. »Sie sind selbst nicht die Stärkste, liebe Schwägerin,« sagte er.

»Ich bin stark, sobald es die Pflicht erfordert,« entgegnete die geborne Kippenreiter, indem sie die arme Frau von Zehren mit sich fortzog.

»Das ist ein großes Wort!« seufzte Fräulein Duff. »Wer das auch von sich sagen könnte!« und die blasse Gouvernante schüttelte wehmüthig ihre gelben Locken, wendete dann die matten Augen auf mich und lispelte: »Richard, oh, wie aus der Sage heraus! ah! daß der Blondel fehlen muß! aber verzweifeln Sie nicht; suche treu, so findest du, das ist auch eine ewige Wahrheit!«

»Wie befinden Sie sich, Fräulein Duff?« fragte ich, um doch etwas zu sagen.

»Und immer noch diese schöne Fähigkeit, teilzunehmen an dem Schicksale der Anderen bei dem eigenen traurigen Geschick! Das ist schön, das ist groß,« flüsterte die Erzieherin; »ich muß, wahrlich ich muß einen Versuch machen, mich in Ihr Herz zu stehlen –«

Sie legte drei Fingerspitzen auf meinen Arm und deutete mit ihrem Sonnenschirm schüchtern nach der Richtung, in welcher die ganze Gesellschaft mittlerweile den Platz unter den Platanen verlassen hatte.

»Und wie leben Sie hier?« flüsterte sie weiter, während wir in den Garten hinabstiegen; »aber, was frage ich? still und harmlos, wie Wilhelm Tell! Es ist ja Alles hier Idylle! Sprechen Sie mir nicht von Gefängniß! Die Welt ist überall ein Gefängniß! ich weiß es am besten!«

»Ich dachte, Fräulein Duff, die Erziehung eines so lieblichen Geschöpfes –«

»Ja, sie ist lieblich!« erwiederte die blasse Dame mit einem Anfluge von wirklicher Wärme; »lieblich wie ein Maienmorgen; aber Sie wissen ja: des Lebens ungetrübte Freude! – daß dieses Kind einen solchen –«

Sie blickte sich scheu um und fuhr mit hohler Stimme fort:

»Denken Sie sich, er nennt sie Hermann und fragt sie dreimal am Tage, warum sie kein Kna – fi donc! es läßt[356] sich nicht sagen. O, es zerreißt mein Herz, wenn so rohe Hände in den zarten Saiten dieser jungfräulichen Seele wühlen! Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen! wer wüßte es nicht! nur sollte der eigene Vater – freilich, ich bin die Letzte, die sich über ihn beklagen sollte. Er hat mir – Sie sind ein edler Mensch, Carlos! – an Ihren Busen werf' ich mich – er hat mir Hoffnungen erweckt, die eine weniger starke Seele, als die meine, schwindlig machen könnten. Eine Million zu erkämpfen, ist groß; sie wegwerfen, ist göttlich – und Mutter dieses Kindes, das, denk' ich öfters, das müßte himmlisch sein; aber was werden Sie sagen, daß ich nur immer von mir spreche; was werden Sie Ihrem satyrischen Freunde sagen!«

»Meinem satyrischen Freunde?«

Fräulein Duff trat einen Schritt zurück, beschattete sich die Augen gegen den Schein der Abendsonne mit der durchsichtigen Hand und sagte mit kokettem Lächeln:

»Carlos, Sie spielen falsch. Gestehen Sie, Sie wollen in dieser Schlangenwindung mir entgehen! Es giebt nur Einen hier, auf den die Bezeichnung paßt, aber dieser Eine ist ein Riese – an Geist! Es ist immens! es ist sublim! es hat mich wahrlich überwältigt! Und einen solchen Giganten nennen Sie Ihren Freund, und Sie beklagen sich, daß Sie im Gefängnisse sind! O, mein Lieber, wer möchte, um solche Freunde zu erwerben, nicht gern seine Freiheit gegen Ihre Gefangenschaft umtauschen!«

Fräulein Duff drückte ihr Taschentuch gegen die Wimpern und kreischte dann laut auf, als sie sich hinterrücks festgehalten fühlte, und, sich umwendend, Herminens Wachtelhündchen sah, das seine spitzen Zähne in den Saum ihres Kleides geschlagen hatte und sie mit seinen großen, schwarzen Augen böswillig anstarrte. In demselben Momente kam von verschiedenen Seiten die ganze Gesellschaft herbei, so daß die Gouvernante in ihrem Kampfe mit dem kleinen, langhaarigen Ungethüm plötzlich eine große Zuschauerschaft hatte. Ich bemühte mich, sie zu befreien, und machte die Sache nur noch schlimmer, denn Zerline wollte nicht loslassen und schüttelte und riß aus Leibeskräften; die Knaben thaten, als ob sie mir helfen wollten, und hetzten in der Stille; es konnte sich Niemand des Lächelns enthalten; der Commerzienrath lachte überlaut. Fräulein Duff blieb unter diesen Umständen nichts[357] übrig, als in Ohnmacht und Doctor Snellius, der, von dem Lärm herbeigelockt, eben herantrat, in die Arme zu fallen.

»Aengstigen Sie sich nicht, meine Herrschaften,« sagte der Commerzienrath, »das passirt ihr alle Tage dreimal!«

»Barbar!« murmelte die Ohnmächtige mit blassen Lippen und richtete sich aus den Armen des Doctors auf, der trotz seiner ihm nachgerühmten Sublimität in diesem Augenblicke ein sehr hämisches Gesicht machte. Fräulein Duff versuchte durch den Thränen-Nebel hindurch, der aus ihren wasserblauen Augen aufgestiegen war, dem Spötter einen vernichtenden Blick zuzuwerfen, wies den angebotenen Arm des Doctors mit den Worten: »Ich danke Ihnen, ich werde allein in's Haus kommen!« zurück und eilte, sich das Tuch vor das Gesicht drückend, dem nahen Hause zu, während Zerline mit freudigem Gebell und triumphirendem Wedeln der langhaarigen Ruthe an ihrer kleinen Herrin emporsprang.

»Ich glaube, sie schnappt noch einmal über,« sagte der Commerzienrath, gleichsam als Erläuterung der eben stattgehabten Scene.

»Umsomehr sollten Sie sie schonen, vorzüglich in Gegenwart Anderer,« sagte der Director.

Ich hatte die Gelegenheit benützt, mich von der Gesellschaft loszumachen, und irrte eben in den weiter abgelegenen Gängen des Gartens umher, als ich Paula und Hermine in einiger Entfernug daher kommen sah. Paula hatte der Kleinen eine Hand auf die Schulter gelegt, die wiederum einen Arm um ihre Taille schlang. Hermine sprach sehr eifrig zu der großen Paula hinauf. Paula lächelte freundlich herab und sagte von Zeit zu Zeit etwas, das den Widerspruch der Kleinen hervorzurufen schien.

Das bildschöne Kind mit dem glänzenden, braunen Haar und den großen, glänzenden, blauen Augen, das reizende Gesichtchen vom Feuer ihres lebhaften Geistes durchhellt, und das schlanke Mädchen mit dem sanften Lächeln auf den feinen Lippen – die beiden reizenden Gestalten, getroffen von einem Strahle der rothen, herbstlichen Abendsonne, die eben hinter die Mauer des Gartens tauchte – wie oft, wie oft in späteren Jahren habe ich dieses Augenblickes denken müssen!

Jetzt sahen sie mich; ich hörte, wie Paula sagte: »Frag' ihn doch selbst!« und Hermine antwortete: »Das will ich auch!«[358]

Sie ließ Paula los, kam auf mich zugehüpft, blieb vor mir stehen, schaute mit den großen Augen keck zu mir auf und fragte:

»Können Sie Löwen bezwingen oder können Sie es nicht?«

»Ich glaube nein,« entgegnete ich lächelnd, »warum?«

»Ja oder nein?« fragte sie, indem sie ein ganz klein wenig mit dem Fuße stampfte.

»Nun denn, nein!«

»Sie sollen es aber können,« entgegnete sie mit einem zornigen Blicke, »ich will es.«

»Wenn Sie es wollen, will ich mir bei vorkommender Gelegenheit die möglichste Mühe geben.«

»Siehst Du, Paula!« rief die Kleine, indem sie sich triumphirend umwendete, »ich habe es ja gesagt, ich habe es ja gesagt,« und sie klatschte in die Hände und sprang wie eine kleine Bacchantin umher, in der Wette mit Zerlinen, dann ging es im vollen Laufe über die Beete davon, Zerline hinterher mit lautem Gekläff.

»Was will das Kind nur mit seiner sonderbaren Frage?« sagte ich zu Paula.

»Es scheint, daß Fräulein Duff Sie wiederholt mit Richard Löwenherz verglichen hat,« erwiederte Paula lächelnd.

»Mit Richard Löwenherz, mich?«

»Nun ja, weil Sie blond und gefangen und so groß und stark sind; nun hat sich Hermine in den Kopf gesetzt, Sie müßten Löwen bezwingen können. Ob es ihr damit Ernst ist, oder ob sie scherzt? Ich glaube, sie weiß das manchmal selbst nicht. Aber ich wollte Ihnen noch danken, daß Sie heute in den Garten gekommen sind. Es ist recht lieb von Ihnen, denn daß Sie sich in der Gesellschaft nicht behaglich fühlen, habe ich wohl gesehen.«

»Und Sie selbst?«

»Ich darf nicht fragen, ob ich mich behaglich fühle. Es sind ja unsere Verwandten.«

»Und das entschuldigt freilich Alles.«

Ich hatte das im Hinblick auf ihre Freundlichkeit gegen Arthur nicht ohne Bitterkeit gesagt, fühlte mich aber sehr beschämt, als sie ihre sanften, lieben Augen zu mir erhob und unschuldig fragte: »Wie meinen Sie?«

Glücklicherweise wurde mir die Antwort erspart, denn[359] Doctor Snellius kam auf uns zu, schon von weitem »Fräulein Paula! Fräulein Paula!« rufend.

»Ich muß in's Haus,« sagte Paula, »es ist noch Manches zu besorgen, und bitte, schauen Sie nicht so bös drein; Sie sind in letzter Zeit gar nicht so freundlich gewesen wie sonst; sind Sie mit mir unzufrieden?«

Ich hatte nicht den Muth, »Ja« zu antworten, als ich in das ernste Gesicht blickte, das zu mir aufschaute.

»Wem wäre das möglich,« sagte ich, »Sie sind tausendmal besser, als wir Alle.«

»Das ist sie auch,« sagte Doctor Snellius, der die letzten Worte gehört hatte. »Gott segne sie!«

Er sah der Enteilenden nach, und ein tief wehmüthiger Schatten zog über sein groteskes Gesicht. Dann stülpte er mit beiden Händen zugleich seinen Hut über den kahlen Schädel bis auf die Ohren und sagte ärgerlich:

»Hol's der Teufel! Sie ist viel zu gut, sie ist so gut, daß es ihr gar nicht anders als schlecht gehen kann. Die Zeit ist vorüber, wo den guten Menschen alle Dinge zum Besten dienen sollen, wenn es eine solche je gegeben hat. Schlecht muß man sein, grundschlecht; heucheln muß man, lügen, betrügen, seinem Nächsten ein Bein stellen, die ganze Welt als sein Erbgut betrachten, das aus Versehen in fremde Hände gekommen ist, und das man sich zurückerobern soll. Aber zu dem Zwecke muß man erzogen sein, und wie erzieht man uns? als ob das Leben eine Geßner'sche Idylle wäre. Bescheidenheit, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe! Versuch's doch Einer damit! Ist der Herr Commerzienrath bescheiden, liebt er seinen Nächsten, liebt er die Wahrheit? nicht für einen Pfifferling! Und der Mann ist Millionär, und seine Nachbarn ziehen die Mütze ellentief vor ihm und die Fama posaunt ihn aus als einen der edelsten Menschen, weil er von Zeit zu Zeit einen Thaler, der nicht in die volle Börse geht, den Armen zuwirft! Aber, werden Sie sagen, in seinem Innern, da ist die Hölle. Ja prosit Mahlzeit! Er hält sich für einen grundguten, prächtigen, humoristischen Kerl, und wenn er sich des Abends zu einem achtstündigen Schlaf zu Bett legt, sagt er: Das hast du wieder einmal ehrlich verdient! Gehen Sie mir mit Ihrer hungerleiderischen, hektischen Ehrlichkeit!«

»Ich habe noch kein Wort dafür gesagt, Doctor!«[360]

»Aber Sie haben, während ich declamirt habe, gelächelt, als wollten Sie sagen: so seien Sie doch unehrlich! Sehen Sie, das ist ja eben die Bosheit, die ich habe! Man ist in Folge dieser elenden Erziehung so verehrlicht, daß man kein Lump sein kann, so gern man es sein möchte, daß man ehrlich sein und bleiben muß, trotz der besseren Einsicht. Und wenn wir nicht darüber wegkommen können, wie sollen es die Weiber!«

Der Doctor blickte starr in die Richtung, in welcher Paula in den Büschen verschwunden war und nahm dann seine große, runde Brille ab, deren Gläser irgendwie trüb geworden waren.

»Sie sollten nicht auf die Weiber schelten, Doctor,« sagte ich; »Fräulein Duff –«

»Hat mir in aller Form einen Antrag gemacht,« sagte Doctor Snellius, indem er rasch seine Brille wieder aufsetzte, »und dort kommt Jemand, der Ihnen einen machen will. Hüten Sie sich vor diesem uniformirten Danaer!«

Der Doctor drückte den Hut in die Stirn und eilte davon, ohne den allerfreundlichsten Gruß zu erwiedern, mit welchem Arthur aus einem Nebengange auf uns zutrat.

»Es ist mir lieb, daß er uns allein läßt,« sagte Arthur, an meine Seite kommend und ganz wie in alter Zeit meinen Arm nehmend; »ich habe mit Dir zu sprechen oder vielmehr: ich habe Dir etwas abzubitten; mein Vater hat es allerdings schon für mich gethan, aber es kann nicht schaden, wenn ich es auch noch thue. Du weißt, was ich meine.«

»Ja,« sagte ich.

»Ich habe mich albern benommen, weiß es Gott,« fuhr der Fähnrich fort, »aber Du darfst mir es wirklich nicht so übel nehmen. Ich dachte, ich sei das dem Ding da schuldig – und er gab seinem Degen mit dem linken Bein einen Stoß.«

»Arthur,« sagte ich, stehen bleibend und meinen Arm freimachend; »ich bin nicht ganz so klug wie Du, aber für ganz dumm mußt Du mich auch nicht halten. Du hast Dich von mir losgesagt, lange ehe Du die Spadille da an der Seite hattest. Du hattest es gethan, weil Du mich nicht mehr brauchen konntest, weil es Dir zweckmäßig schien, im Chor mit den Anderen mich schlecht zu machen, weil –«

»Nun ja,« unterbrach mich Arthur, »ich leugne es ja[361] gar nicht. Ich war in einer so verdammt abhängigen Lage, daß ich wohl mit den Wölfen heulen mußte. Hätte ich meine wirkliche Meinung gesagt, Lederer hätte mich Ostern sicherlich durch das Abiturienten-Examen rasseln lassen, und der Onkel hätte nun und nimmer meine Fähnrichs-Ausstattung bezahlt.«

»Und jetzt,« sagte ich, »bläst der Wind vermuthlich von einer anderen Seite und wir müssen in Folge dessen andere Segel aufziehen.«

»Ach was!« rief Arthur lachend; »Du mußt mit mir nicht so streng in's Gericht gehen. Ich rede Manches, was ich nicht verantworten kann. Das weißt Du von altersher und bist mir doch gut gewesen; ich habe mich nicht verändert, weshalb wolltest Du mir auf einmal bös sein? Du kannst es glauben, ich bin der Alte trotz der neuen Schabracke, die ich, nebenbei gesagt, wohl nicht allzulange mehr tragen werde. Es hat schon heillose Mühe gekostet, daß man mich überhaupt in dem Regimente aufnahm; der Oberst hat mir selbst gesagt, er habe es nur dem Onkel hier zu Gefallen gethan, der sein Kamerad vom Freiheitskriege her sei, und daß er nur um dessen willen die Gerüchte, die über meinen Vater circulirten, nicht berücksichtigen wolle, wie es eigentlich seine Schuldigkeit sei. Aber damit bin ich noch nicht über alle Berge. Des Papa's Angelegenheiten stehen so schauderhaft schlecht, seine Gläubiger wollen nicht warten; wenn jetzt nicht eine günstige Wendung eintritt, ist er ruinirt und ich natürlich mit ihm; mein Name würde sofort von der Officiers-Aspiranten-Liste gestrichen.«

»Worin soll die günstige Wendung bestehen?« fragte ich.

»Ja, mein Gott, ich weiß es auch nicht so recht,« erwiederte Arthur, indem er mit der Scheide seines Degens ein paar Sträucher klopfte. »Der Onkel Commerzienrath soll dem Papa seinen Erbschaftsantheil, vom Großpapa her, auszahlen, den er ja nie bekommen hat, und nun wieder, was aus der Hinterlassenschaft vom Onkel Malte auf uns kommt. Aber der alte Judas will nichts herausrücken; er sagt, mein Papa wäre schon fünf- und zehnmal bezahlt. Na, wie gesagt, ich kann nicht daraus klug werden; ich weiß nur, daß ich noch keinen Groschen baares Geld Zuschuß vom Onkel bekommen habe, und daß ich meinen Kerl von Burschen beneide, der sich doch wenigstens satt essen kann.«[362]

Ich blickte meinen alten Freund von der Seite herab an; er kam mir wirklich auffallend blaß und mager vor. Mein Appetit hatte längst seine frühere Stärke wieder erreicht, und sich nicht satt essen zu können, erschien mir als ein sehr ernstliches Uebel.

»Armer Kerl!« sagte ich und nahm jetzt den Arm, den ich vorhin hatte fahren lassen.

»Das ist noch das Wenigste,« fuhr Arthur in kläglichem Tone fort. »Ihr Vater ist ein Schuldenmacher, hat der Oberst gesagt, so wie ich merke, daß Sie in seine Fußtapfen treten, sind wir geschiedene Leute. Aber ich frage Dich, wie soll man bei den paar Groschen täglich keine Schulden machen? Ich muß morgen einen kleinen Wechsel bezahlen, den mir ein verdammter Hebräer abgeschwindelt hat; ich habe es dem Papa, ich habe es der Mama gesagt; sie sagen Beide, sie hätten nicht das Geld für die Rückreise, geschweige denn Geld für mich; ich solle und müsse sehen, wie ich fertig würde. Nun ja, ich werde wohl fertig werden, aber in anderer Weise, als sie meinen.«

Und der Fähnrich pfiff durch die Zähne und blickte düster vor sich nieder.

»Wie viel brauchst Du, Arthur?« fragte ich.

»Eine Lumperei, fünfundzwanzig Thaler.«

»Ich will sie Dir geben.«

»Du?«

»Ich habe in der Gefängnißkasse ungefähr so viel stehen; und für das, was etwa fehlt, habe ich bei dem Cassirer Credit.«

»Das wolltest Du wirklich, Du lieber, guter, alter Georg,« rief Arthur, indem er meine beiden Hände nahm, und einmal über das anderemal drückte.

»Aber mache doch nicht so viel Wesens daraus,« sagte ich, indem ich mit sehr gemischten Empfindungen die ungestüme Dankbarkeit des Fähnrichs von mir abzulehnen suchte.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 346-363.
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