Einundzwanzigstes Capitel.

[245] Ich war im Begriff, den Enteilenden nachzustürzen, um auf jeden Fall ein paar der Laternenträger und einen der Wagen zurückzuhalten, als mir ein grell aufleuchtender, lange anhaltender Blitz das Hünengrab zeigte, welches links von der Stelle, wo ich stand, ungefähr hundert Schritt entfernt lag, und das ich bis dahin nicht bemerkt hatte. Wollte ich von jenem Punkte aus einen freieren Blick gewinnen? war es eine Ahnung? war es Beides? – aber ich stand in der nächsten Minute an dem Fuße des kleinen Hügels zwischen den mächtigen Steinen. Abermals flammte ein blendend heller Blitz auf, und ein Grausen durchzuckte mich, und meine Haare begannen sich zu sträuben. Da, oben, neben den vom Sturm zerzausten Haselbüschen, stand, umflossen von der gespenstischen Helle, mit flatternden Haaren, das arme Mädchen, das nach dem Geliebten ausschaute, der im Sumpf ertrunken war. Und nun wieder rabenschwarze Nacht um mich her, und dann ein krachender Donner, in welchem mein lauter Angstruf verhallte. War ich wahnsinnig geworden? Aber noch während der Donner krachte, inmitten der Finsterniß, die mich rabenschwarz umgab, kam es wie eine himmlische Erleuchtung über mich, daß mein Herz hoch hüpfte und mein Mund laut aufjauchzte, und ich war oben, ich hatte sie gefunden, ich hob sie in[245] meinen Armen in die Höhe und jauchzte wieder, und sie schlang ihre Arme um mich, und schmiegte sich an meine Brust, fest, so fest! und dann kniete ich vor ihr und sie beugte sich zu mir und sagte: »Schnell, schnell, jetzt im Dunkeln, wo ich Dich nicht sehe: ich liebe Dich! ich liebe Dich!«

»Und ich Dich!«

»Mich ganz allein?«

»Ja, ja!«

»Ganz allein mich? Ganz allein mich? und wenn die Erde sich jetzt aufthäte und uns verschlänge, ganz allein mich?«

»Ja, ja!«

Wieder flammte ein Blitz auf, secundenlang Alles in Tagesklarheit hüllend. Sie lachte und jubelte laut auf und rief, sich in meine Arme stürzend: »Nun sehe ich Dich, nun darf ich Dich sehen! O, wie schön das ist! wie schön Du bist! So! trag' mich den Hügel hinunter; nur bis zu den Steinen! Jetzt laß mich los, Du Starker, Du mein Held! Du mein Alles!«

»Laß mich Dich weiter tragen, ich kann es!«

»Ich weiß es, würde ich Dich sonst so lieben? aber laß mich. Du darfst nicht glauben, daß ich ein Schwächling bin!«

Ich hatte sie aus meinen Armen auf einen der großen Steine gleiten lassen; sie legte mir die Hand auf die Schulter – ich sah einen Moment dicht vor mir ihr süßes, trotziges Gesicht und ihre wie sonst zornig leuchtenden Augen – und sie sagte durch die Zähne: »vergiß es nicht, vergiß es nie, daß ich kein Schwächling bin, wie die andern Weiber, und daß, wenn Du nicht gekommen wärst, mich zu suchen, ja, wenn Du auch mich nur nicht gefunden hättest, ich mich hier im Sumpfe ertränkt hätte, und daß ich mich in dem Augenblick tödten werde, wo Du mich nicht mehr liebst! Und nun komm!«

Sie warf sich an meine Brust, und glitt aus meinen Armen herab auf den Boden. Wir gingen Hand in Hand über die Haide, wo uns die fortwährend aufleuchtenden Blitze den pfadlosen Pfad zeigten, wo uns die Donner umrollten, und der Regen, der so lange gezögert hatte, in immer dichteren, schweren, warmen Tropfen und dann in Strömen herabzurauschen begann. Was war uns Sturm und Gewitter?[246] was war uns, daß wir auf öder Haide, von allen andern Menschen verlassen, gegen Sturm und Gewitter ankämpften? Es war eben die größte Seligkeit für mich: zu wissen, daß ich sie beschützen durfte, daß ich sie beschützen konnte daß ich wahrlich Kraft genug hatte, die Geliebte, wenn es sein mußte, bis nach Trantowitz und nach Zehrendorf zu tragen; – für sie, sich von mir beschützen zu lassen, den sie so lange geliebt, der jetzt ihr eigen war, und es geworden war, ganz so, wie ihr trotziges Herz, wie ihr phantastischer Sinn es verlangten. Und das kam nun Alles, Alles auf ihre Lippen, in abgerissenen wirren Sätzen, in Gedanken und Bildern, die aufleuchteten und verschwanden, wie die Blitze um uns her, und bald diese Erinnerung wach riefen und bald jene, gerade wie die Gegenstände um uns her aus dem Dunkel aufleuchteten, und wieder im Dunkel verschwanden: die braune Haide, das blinkende Moorwasser, und dann im Walde die Büsche rechts und links und die riesigen Stämme der Bäume, deren mächtige Zweige jetzt von der daherstürmenden Windsbraut wild durcheinander gepeitscht wurden, daß es ein Knarren und Aechzen und Stöhnen und donnerndes Rauschen war, als sollte die Welt untergehen. Aber je wilder es um uns her tobte, desto lauter jubelte sie auf, und lachte wie toll, wenn Keines mehr vor dem Lärmen um uns her die Worte des Andern verstand, und wir uns, was unverständlich blieb, von den Lippen küßten. Ja, sie wurde ganz zornig, als jetzt, nachdem wir den Wald fast schon durchschnitten hatten, ein paar Laternen aufleuchteten, die sich schnell auf uns zu bewegten.

»Wollen wir davonlaufen,« sagte sie ernsthaft; und dann klatschte sie in die Hände, als wir jetzt des guten Hans mächtige Stimme: »halloh, halloh!« schreien hörten.

»Er ist's,« rief sie, »mein guter Hans, mein lieber Hans, mein bester Hans! Er soll der Erste sein, der es erfährt. Es hat keiner ein besseres Recht darauf.«

Da war auch schon Hans, der den beiden Knechten vorausgeeilt war, uns mit hochgehaltener Laterne in das Gesicht leuchtend, und abermals mit der ganzen Kraft seiner Lunge: halloh, schreiend, diesmal aber vor Freude, daß er uns so glücklich gefunden. Ja, so glücklich! – so glücklich, daß er die Laterne auf den Boden setzen, und erst Hermine, und dann mir, und dann wieder ihr und nochmals mir die Hände schüttelte und immer wieder schütteln mußte, indem er dabei[247] fortwährend: »so, so!« sagte, als ob wir ein paar eigensinnige, junge Pferde wären, mit denen er sich lange abgequält und die er endlich zur Raison gebracht.

Die beiden Knechte waren ebenfalls herangekommen. »Die armen Menschen,« sagte Hermine; »sie müssen auch vergnügte Gesichter machen. Gieb mir schnell, was Du bei Dir hast; und Sie, Hans, es ist ganz gleich, gebt nur, gebt!«

Ich mußte meine Börse – es war nicht viel darin – in ihre Hände ausschütten und Hans suchte in allen Taschen herum und fand einige zerknitterte Tresorscheine, die sie ebenfalls nahm und den beiden Leuten gab, die mit offenem Munde dastanden und nicht wußten, wie ihnen geschah. Ein paar Thaler waren hingefallen. Die Leute sagten: »es wäre eine Sünde, das liebe Geld da liegen zu lassen,« und fingen an zu suchen, während wir Drei weiter gingen und Hans berichtete, daß die ganze Gesellschaft jetzt bei ihm zu Hause sei und daß er bereits anspannen lasse, um sie auf Leiterwagen – andere hatte Hans nicht – nach Zehrendorf fahren zu lassen, wohin er auch bereits einen reitenden Boten geschickt habe, damit man dort seine Vorkehrungen treffe.

»Wir Beide gehen!« rief Hermine; »nicht wahr, Georg? aber ansehen wollen wir uns die Gesellschaft; es muß ein sonderbares Bild sein, und jetzt habe ich den Humor dazu. O, ich bin so glücklich, so glücklich!«

Es war in der That ein sonderbares Bild, das sich uns darbot, als wir das verfallene Herrenhaus von Trantowitz erreichten. Auf dem weiten, kahlen Flur, in Hans' enger Stube, in dem Heiligthum seines Schlafgemaches sogar, in der Küche, zu der man von dem Flur gelangte, irrten und wirrten Hausleute, die helfen sollten, und die verunglückten Vergnügungsfahrer durcheinander, rufend, scheltend, weinend, lachend, je nachdem sie sich in die Situation zu finden wußten oder nicht. Zu den Ersteren gehörte ohne Zweifel Fritz von Zarrenthien und seine kleine Frau, die von Hause aus die lustigsten, vergnüglichsten und zugleich harmlosesten Geschöpfe waren, wenn sie auch in dem Sturm auf der Haide sich nicht viel besser gehalten hatten als die Andern. Jetzt aber prahlte Fritz, während er in der Küche, mit Hülfe der Köchin, einen Weinpunsch braute, von den Heldenthaten, die er, wenn man ihm glauben durfte, im Verlauf des Abends ausgeführt hatte und seine kleine, behende, lachlustige Frau[248] bemühte sich um die Damen, die außer ihr sämmtlich in der bösesten Laune und freilich auch in der traurigsten Verfassung waren. Die Steuerräthin saß in Hans' Lehnstuhl, wie eine Königin, welche der Sturm der Revolution vom Throne gefegt und welcher bei der Gelegenheit die falschen Haare zerzaust und die Schminke von den Backen gewischt hat. Auf dem Sopha hielten sich die beiden Eleonoren innig umschlungen und weinten, eine an dem Busen der anderen, die heißesten Thränen, ohne daß irgend Jemand, vielleicht auch sie selbst nicht, zu sagen gewußt hätten, worüber; es wäre denn über ihre durchweichten Strohhüte und ihre verregneten Kleider gewesen, die ihr Unschuldsweiß von heute Morgen mit einer absolut unbestimmten Farbe vertauscht hatten. Die derbe Frau von Granow stand vor Fräulein Duff, welche halb ohnmächtig auf Hans' Stiefelkiste kauerte und bewies ihr, daß in solchem Fall sich Jeder selbst der Nächste sei, und daß, wenn Fräulein Hermine wirklich in dem Sumpfe ertrunken wäre, ihr – der Gouvernante – daraus kein vernünftiger Mensch auch nur den geringsten Vorwurf machen könne.

»Nein, Duffchen, nicht den geringsten Vorwurf!« rief Hermine, welche eben mit uns durch die offene Thür hereingetreten war und die letzten Worte gehört hatte; »Duffchen, liebes, einziges Duffchen!«

Und die Aufgeregte fiel ihrer alten, treuen Gouvernante um den Hals und drückte und küßte sie unter leidenschaftlichen Thränen.

Wenn eine so sensitive Natur, wie die Fräulein Duff's, für die Bedeutung solcher Liebkosungen, solcher Thränen noch einer Erklärung bedurft hätte, so wurde ihr dieselbe jetzt in der großen Gestalt eines Mannes, der in dem Rahmen der Thür stand und mit vermuthlich leuchtenden Augen auf die Gruppe blickte. Sie streckte ihm beide Arme entgegen und rief, aller ausgestandenen Leiden vergessend: »Richard, habe ich es nicht gesagt: suche treu, so findest Du!«

Dieses Wort, das die gute Dame mit der Stimme eines Heroldes, der den Ausgang des Turniers verkündet, überlaut ausgerufen hatte, schreckte die im Zimmer Befindlichen jäh empor. Die beiden Eleonoren ließen einander aus den Armen, sahen hin, sahen sich an; die zweite ließ ihren Kopf auf die Schulter der ersten sinken und murmelte etwas, wovon ich nur die Worte: »der Verräther!« verstand.[249]

Das war nun vielleicht, Alles in Allem, ein rührendes Bild; aber ein erschreckliches gewährte die Steuerräthin. Die Ahnung eines hereindrohenden Unheils hatte auf ihrer schmalen durchfurchten Stirn, auf ihren eingefallenen, entschminkten Wangen, in ihren starren, runden Schlangenaugen gelegen; sie hatte es kommen sehen den ganzen Tag. Vergebens, daß sie mit mütterlichen Armen den lieben Sohn zu schützen versucht hatte vor den Pfeilen der bösesten Laune, welche das stolze, unwillige Mädchen auf ihn abgeschossen; vergebens, daß Arthur sich in der Ananas-Bowle frischen Muth in so schwerer Bedrängniß und Standhaftigkeit zur Ertragung seiner Leiden zu schöpfen versucht hatte – das Unglück war geschehen und hier, hier stand es vor ihren Augen, vor den Augen der geborenen Baronesse Kippenreiter, der Mutter des liebenswürdigsten aller Söhne, der leiblichen Tante dieses undankbaren Geschöpfes! Es war zu viel, zu viel! Die entthronte Königin schnellte empor, an allen Gliedern zitternd: warf, da sie unfähig war, ein Wort zu sprechen, einen vernichtenden Blick auf Hermine, die sich lachend in meine Arme stürzte und schwankte in die Kammer, wo, wie ich hernach erfuhr, der gebeugte Vater an dem Lager seines Kronprinzen wachte, dessen armselige Seele nicht einmal im Stande war, zu begreifen, was er und sein Haus unwiederbringlich verloren hatten.

Weg, weg, ihr Bilder! ihr Gestalten! ihr sollt mir nicht die schöne Erinnerung dieses Abends trüben! Ich will euch nicht ganz abweisen – weiß ich doch, daß ich es nicht könnte, wenn ich auch wollte! – aber drängt euch nur nicht vor! wollet mich nicht glauben machen, daß ihr es seid, um derenwillen wir leben, um derenwillen wir gedenken! Auch ihr müßt sein, freilich! und wohl dem, der das begriffen hat, und sich ein muthiges Gelächter bewahrt hat in der Brust, um euch wegzuspotten, wenn ihr euch nicht auf die Seite weisen lassen wollt. Auch ihr müßt sein! Aber um der schmutzigen, schwarzen Erde willen, die an den zarten Wurzeln hängt, graben wir sie nicht aus, der Liebe rothe Rose, tragen sie an unserm Herzen nach Haus, pflanzen sie im stillen, sonnigen Raum und pflegen und hegen sie, wie wir können! – Wer weiß, wie lange wir es können!

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 2, Leipzig 1874, S. 245-250.
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