Einem Mädchen

[194] Du über deren Lippen leis in linden

Frühsommernächten trunkne Worte schweben:

Nun will ich deinen jungen Leib umwinden

und deiner Seele süße Last entbinden

und aller Träume wundervolles Weben


in Märchenaugen rätselhaft gespiegelt

wie Lilien sich zu dunklen Wassern neigen –

Schon fühl ich schwankend in gelöstem Reigen

aus Purpurschächten zauberkühn entriegelt

ein Fremdes Ahnungsvolles wirkend steigen –


Schon trägt vom jungen Morgenwind gezogen

das goldne Schiff uns auf geklärten Wellen

zu neuem Meer. Schon sehen wir im hellen

Dunstflor der Fernen weiß vom Gischt umflogen

die blauen Inselkuppen ladend schwellen


gestreift von früher Sonne scheuem Schein

in warmem Kranz die sanften grünen Buchten –

Schon steigen wir durch Tal und feuchte Schluchten

und schauen strahlend über schwarzem Hain

die Wundergärten die wir sehnend suchten –


und betten uns in goldne Blüten ein.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 194-195.
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