Hortensia.

[212] Eine Fabel.


Hortensia war so eitel und so eingebildet, daß sie sich für das schönste Mädchen in der Welt hielt. Es ist wahr, sie war sehr schön, aber um die Schönste zu seyn, fehlte noch viel. Täglich stieg ihre hohe Meinung von sich, weil die jungen Herren ihr schmeichelten und sie vollends ganz verdarben. Endlich ward sie so[212] unverschämt, die Göttin der Schönheit selbst, für kaum hübsch im Vergleich gegen sich zu finden, ja sie war dreist genug, ihre einfältige Meinung laut zu äussern. Um sie zu strafen, verwandelte sie die Göttin in eine Hortensia, eine Blume, die ein schönes Ansehen, aber keinen Geruch hat, und seitdem führt diese Blume ihren Namen. Hortensia hatte keinen, oder nur äusserst wenig Verstand, sonst würde sie nicht einen so einfältigen Vergleich angestellt haben, und sich mit den Göttern haben messen wollen.

Quelle:
Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 212-213.
Lizenz: