102.

[292] Der größte Philosoph, den die Franzosen gehabt haben, hätte in der Einsamkeit der Alpen leben müssen, an irgend einem weltfernen Orte, und von da sein Buch nach Paris schleudern, ohne selbst jemals hinzukommen. Helvetius war ein so einfacher, ehrlicher Mensch, daß gezierte und unnatürliche Leute wie Suard, Marmontel[292] und Diderot nicht begreifen konnten, daß er ein großer Philosoph war. Sie verstellten sich nicht, wenn sie seine tiefe Weisheit geringschätzten. Zunächst war sie einfach, was in Frankreich eine unverzeihliche Sünde ist, und dann zeigte der Verfasser, aber nicht sein Buch, eine Schwäche; er legte nämlich einen sehr großen Wert auf das, was man in Frankreich gloire (Berühmtheit) nennt, und wollte wie seine Zeitgenossen Balzac, Voiture und Fontenelle in Mode sein.

Rousseau hatte zu viel Empfindsamkeit und zu wenig scharfen Verstand, Buffon zu viel Heuchelei mit seinem botanischen Garten und Voltaire zu viel Kindereien im Kopfe, um den Grundgedanken des Helvetius richtig beurteilen zu können.

Helvetius hat den kleinen Fehler begangen, jenen Grundgedanken »Interesse« zu nennen, anstatt ihm den hübschen Namen »Vergnügen« zu geben.82 Was soll man über einen ganzen Literaturabschnitt denken, wenn er sich durch einen derartig geringen Fehler irreführen läßt?

Ein Mann von mittelmäßigem Geist, wie zum Beispiel der Prinz Eugen von Savoyen, wäre an Regulus Stelle ruhig in Rom geblieben und hätte sich am Ende über die Dummheit des Senats von Karthago lustig gemacht. Regulus kehrt nach Karthago zurück. Trotzdem wäre Prinz Eugen genau so seinem individuellen Interesse gefolgt wie Regulus.

In fast allen Ereignissen des Lebens sieht eine vornehme Seele die Möglichkeit einer Handlung, von der eine gewöhnliche Seele keine Ahnung hat. Im Augenblick, wo die vornehme Seele diese Möglichkeit erkennt, hat sie das Interesse, die Tat auszuführen. Wenn sie diese sich anbietende Tat unterließe, würde sie sich selbst[293] verachten, sie würde unglücklich werden. Unsere Pflichten hängen von der Tragweite unseres Geistes ab.

Der Grundgedanke des Helvetius ist wahr, selbst in den törichtsten Übertreibungen der Liebe, sogar beim Selbstmord. Es ist widernatürlich und unmöglich, daß der Mensch nicht immer und in jedem beliebigen Augenblicke das tun soll, was gerade möglich ist und was ihm den größten Genuß bereitet.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 292-294.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Liebe
Über die Liebe: Essay
Über die Liebe, Jubiläumsausgabe
Über die Liebe (insel taschenbuch)
Über die Liebe
Über die Liebe