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[275] Träumereien auf den Borromëischen Inseln. »Wenn eine wahre Leidenschaft auf Hindernisse stößt, so bringt sie aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Unglück als Glück hervor. Wenn diese Behauptung für eine feinsinnige Seele nicht unbedingt zutrifft, so ist sie doch für die Mehrzahl der Männer vollkommen richtig, insbesondere für kalte Philosophen, die im Gebiete der Leidenschaften nur von Neugierde und Eigennutz leben.«

Diese Worte richtete ich gestern abend an die Contessa Fulvia, als wir zusammen auf der östlichen Terrasse der Isola Bella in der Nähe der großen Pinie hin und her gingen. Sie antwortete mir:

»Das Unglück übt auf das menschliche Leben einen viel stärkeren Einfluß aus als die Freude.«

»Alles, was darauf Anspruch erhebt,« – meinte ich, – »uns Genuß zu gewähren, muß in erster Linie stark wirken. Da das Leben selbst nur aus Empfindungen besteht, könnte man vielleicht sagen, daß der allgemeine Drang aller Lebewesen nach Anlässen sucht, um in möglichst starken Empfindungen zu leben. Die Nordländer sind wenig lebhaft; das sieht man schon aus ihren langsamen Bewegungen. Das dolce far niente der Italiener hingegen beruht in der Freude am Genusse seelischer Regungen, während man sich gemächlich auf einen Diwan hinstreckt. Ein solcher Genuß ist unmöglich, wenn man den ganzen Tag über im Sattel oder im Wagen sitzt[275] wie der Engländer oder der Russe. Auf einem Diwan würden diese Menschen vor Langeweile sterben. Es gibt in ihrer Seele nichts zu beobachten.

Die Liebe gewährt die denkbar stärksten Empfindungen; ein Beweis dafür ist es, daß – physiologisch ausgedrückt – im Augenblicke der Entflammung das Herz jene Gefühlsmischung zustande bringt, die Philosophen wie Helvetius, Buffon und anderen so töricht erscheinen. Luizina ist, wie Sie wissen, neulich in den See gestürzt, als sie mit ihren Blicken ein Lorbeerblatt verfolgte, das von irgend einem Baume der Isola Madre ins Wasser gefallen war. Die Ärmste hat mir gestanden, daß einmal einer ihrer Verehrer im Gespräche mit ihr die Blätter eines Lorbeerzweiges abgerissen und mit den Worten in den See geworfen hat: ›Ihre Grausamkeit und die Verleumdungen Ihrer Freundin hindern mich, mein Leben auszunutzen und Ruhm zu erlangen.‹

Eine Seele, die durch große Leidenschaft, durch Ehrgeiz, Spiel, Liebe, Eifersucht oder Krieg Augenblicke der Herzensangst und des heftigsten Unglücks erfahren hat, verachtet in bizarrer Unverständlichkeit das Glück eines friedlichen und wunschlosen Lebens. Ein schönes Schloß in malerischer Gegend, großes Vermögen, eine gute Frau, drei hübsche Kinder, eine Menge liebenswerter Freunde: das alles ist nur eine kleine Lese dessen, was unser Wirt, General C***, besitzt, und doch wissen Sie, daß er uns erzählt hat, er sei nahe daran gewesen, nach Neapel zu gehen und den Oberbefehl über eine Guerillabande zu übernehmen. Eine für die Leidenschaften geschaffene Seele fühlt, daß ein solches glückliches Leben langweilig ist und vielleicht nur gewöhnliche Gedanken wachruft. ›Ich möchte,‹ sagte damals der General, ›daß[276] ich nie das Fieber der großen Leidenschaften kennen gelernt hätte; ich möchte mich gern mit dem scheinbaren Glücke begnügen, über das man mir täglich so törichte Komplimente macht, auf die ich zum Überdruß auch noch liebenswürdig antworten muß.‹ Ich als Philosoph füge hinzu: Wollen Sie einen tausendsten Beweis, daß wir nicht von einem guten Wesen erschaffen worden sind, so ist es der, daß die Freude kaum halb so viel Eindruck auf unser Ich macht als das Leid.«80

Die Contessa unterbrach mich: »Es gibt wenige seelische Leiden im Leben, die uns nicht durch die verursachte Erregung wertvoll würden. Wenn ein Körnchen Edelmut in der Seele vorhanden ist, so verhundertfacht sich der Genuß daran. Jener 1815 zum Tode verurteilte und durch Zufall gerettete Herr von Lavalette muß sich, wenn er damals mutig in den Tod gegangen ist, zehnmal im Monat jenen Augenblick vergegenwärtigen. Ein Feigling, der gleichfalls durch Zufall gerettet wird, kann sich im besten Falle nur deshalb mit Genuß an jenen Augenblick erinnern, weil er gerettet worden ist, aber nicht wegen des Schatzes an Edelmut, den er dabei in sich entdeckt und der ihn für immer von jeder Furcht befreit hat.«

Ich: »Die Liebe, selbst die unglückliche, verleiht einer edlen Seele, der Einbildung für Wahrheit gilt, den Schatz eines derartigen Genusses. Erhabene Phantasien von Glück und Schönheit bilden sich in ihr und versichern sie der Liebe des geliebten Wesens. Das sind Phantasiegebilde, die ein Verstandesmensch nie verstehen wird.«

Fulvia (gen Himmel blickend): »Gewiß, für Sie und für mich ist die Liebe, auch die unglückliche, das höchste Glück, vorausgesetzt daß unsere Verehrung für den Geliebten keine Grenzen kennt.«[277]

Fulvia war dreiundzwanzig Jahre alt und die berühmteste Schönheit von ***. Ihre Götteraugen waren, als sie so sprach, gegen den schönen Mitternachtshimmel des Lago Maggiore gerichtet; die Gestirne schienen ihr zu antworten. Ich sah zur Erde und hatte keine philosophischen Gründe mehr, um sie zu bekämpfen. Sie fuhr fort:

»Und alles das, was man auf Erben Glück nennt, wiegt ihre Leiden nicht auf. Ich glaube, allein die Verachtung kann von dieser Leidenschaft heilen. Die Verachtung darf indessen nicht allzu stark sein, sonst wird sie zur Qual, nicht anders zum Beispiel, wie ihr Männer sie empfindet, wenn ihr seht, daß die Angebetete einen rohen und prosaischen Mann liebt.«

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 275-278.
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