17. Kapitel

[36] Im Theater macht man an beliebten Schauspielern eine ähnliche Beobachtung: die Zuschauer sehen nicht mehr ihre wirkliche Schönheit oder Häßlichkeit. Lekain, der mager und auffällig häßlich war, wußte in hohem Maße die Leidenschaften zu entfachen, ebenso Garrick. Es gibt verschiedene Gründe dafür; der hauptsächlichste ist der, daß man die wirklichen Züge und Bewegungen der Schauspieler nicht mehr sieht, sondern nur die Schönheit, die ihnen die Phantasie gewohnheitsmäßig verleiht, in dankbarer Erinnerung an alle schon früher gewährten Genüsse. So reizt uns schon das Gesicht eines bekannten Komikers zum Lachen, sobald er nur die Bühne betritt.

Ein junges Mädchen, das zum ersten Male ins Théâtre français geführt wurde, mochte allerdings während der ersten Szenen eine gewisse Abscheu vor Lekain empfinden. Bald aber brachte er es zum Weinen und zum Zittern. Anfangs wirkte wohl seine Häßlichkeit ein wenig störend, doch sehr bald wurde dieser Eindruck durch die allgemeine Begeisterung und den für ein junges Herz[36] erschütternden Eindruck verscheucht.8 Nichts blieb von seiner Häßlichkeit übrig als ihr Ruf, und kaum dieser, denn man hörte Frauen enthusiastisch über Lekain ausrufen: »Wie schön ist er!«

Vergessen wir nicht, daß die Schönheit der Ausdruck des Charakters ist oder, mit anderen Worten, der innerlichen Eigenschaften, und daß sie infolgedessen leidenschaftslos ist. Wir bedürfen aber der Leidenschaft. Die Schönheit vermag uns nur Vermutungen über den Wert einer Frau einzugeben, am ersten die, daß sie kaltherzig sei. Dagegen ist das Antlitz einer Geliebten, das durch Blatternarben verunziert wird, holde Wirklichkeit, die alle Vermutungen überflüssig macht.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 36-37.
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