Hundertstes Kapitel.

[144] Die Franzosen werden gewiß mißverstanden, – ob die Schuld aber an ihnen liegt, weil sie sich nicht deutlich ausdrücken und nicht mit der Schärfe und Präcision reden, wie sie es über[144] einen so wichtigen Punkt thun sollten, – oder ob der Fehler auf unserer Seite zu suchen ist, indem wir ihre Sprache nicht hinreichend verstehen, um zu merken, was hinter den Wörtern versteckt liegt – darüber will ich nicht entscheiden; aber so viel leuchtet mir ein: wenn sie behaupten, »Jemand, der Paris gesehen habe, habe Alles gesehen«, so verstehen sie darunter nur den, der Paris bei Tage gesehen hat. –

Bei Lampenlicht mag ich nichts damit zu thun haben; schon vorher sagte ich, daß man sich darauf nicht verlassen kann, und ich wiederhole es hier, – nicht deshalb, weil Licht und Schatten zu scharf, oder weil die Farben verwischt sind – oder weil Schönheit und Haltung fehlt u.s.w., denn Alles das ist nicht der Grund; – sondern es ist insofern ein unsicheres Licht, weil kaum Einer unter Fünfzigen, in einem der fünfhundert großen Hôtels, die sie Euch in Paris aufzählen, an eins der fünfhundert guten Dinge, die sie enthalten (wobei nur eins auf jedes Hôtel kommt) und die bei Lampenlicht am besten gesehn, gefühlt, gehört und (mit Lilly zu reden) verstanden werden, – gelangen kann.

Das ist also bei der Behauptung, welche die Franzosen aufstellen, außer Acht gelassen; diese stützt sich einfach auf Folgendes:

Bei der letzten Aufnahme, welche im Jahre 1716 geschah, – und seitdem haben bedeutende Vergrößerungen stattgefunden, enthielt Paris neunhundert Straßen, nämlich:


im Quartier de la cité53 Straßen,

in St. Jacques des étaux55 Straßen,

in St. Oportune34 Straßen,

im Quartier du Louvre25 Straßen,

im Palais royal oder St. Honoré49 Straßen,

in St. Eustace29 Straßen,

in den Halles27 Straßen,

in St. Denis55 Straßen,

in St. Martin54 Straßen,

in St. Paul de la Mortellerie27 Straßen,

im Grève38 Straßen,

in St. Avoy oder la Verrerie19 Straßen,[145]

in den Marais oder im Temple52 Straßen,

in St. Antoine68 Straßen,

in der Place Maubert81 Straßen,

in St. Bénoît60 Straßen,

in St. André des arcs51 Straßen,

im Quartier du Luxembourg62 Straßen,

in St. Germain52 Straßen.


in die man alle hineingehen kann, und wenn man sie bei Tageslicht mit Allem, was dazu gehört, ordentlich besehen hat, mit ihren Thoren, ihren Brücken, ihren Plätzen und ihren Denkmälern, und durch alle Kirchen gewandert ist, wobei man St. Roche und St. Sulpice ja nicht auslassen darf – und dann zu guter Letzt noch die vier großen Plätze besucht hat, die man, wie es Einem gefällt, entweder mit oder ohne Statuen und Gemälden besichtigen kann –

dann hat man gesehen –

Aber, das brauche ich weiter nicht zu sagen, denn man kann es am Portikus des Louvre selbst lesen, da steht es mit folgenden Worten:


Die Erde hat kein solches Volk, kein Volk hat solche Stadt,

Wie dieses Volk und diese Stadt, die so viel Straßen hat.1


Die Franzosen haben doch eine heitere Art, das Große zu behandeln; da läßt sich weiter nichts sagen. –

Fußnoten

1 Non orbis gentem, non urbem gens habet ullam

– – – – – – – – – – – – ulla parem.


Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 144-146.
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