An die Unbekannte

1775.


An's Mägdlein sei dies Lied gericht't,

Die mich nicht kennt, und ich sie nicht,

Nicht weis, in welchem Land sie lebt,

Da doch mein Geist sie stets umschwebt.


Wenn ich aus dem Getümmel bin,

Erfüllt sie immer meinen Sinn;

Und wenn ich irre über Land,

Geht sie mit mir an meiner Hand.


Wenn's wohl mir wird in Wies' und Wald;

Der Mond durch lichte Wolken wallt,

Erhöht den seligen Genuß

Mein Mädchen mir durch manchen Kuß.
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Oftmal, mir selber unbekannt,

Drückt meine Hand dann ihre Hand;

Ich fühl's, und seufze, daß ihr Bild

Den heißen Wunsch so schwach erfüllt.


So sehnlich sucht' ich, und so lang'!

Nun wird's im Herzen trüb' und bang',

Daß ich das liebe, gute Kind,

Das für mich da ist, nimmer find'.


Wenn, Beste, du dies Liedchen siehst,

Und dir vom Aug' ein Thränlein fließt,

Und seufzest leis': der gute Mann!

Wie ich ihm nachempfinden kann!


So glaub', daß du mein Mädchen bist,

Das nur für mich geboren ist,

Und liebe mich, und sag' es mir,

So eil' ich, Beste, froh zu dir!

Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 1, Hamburg 1820, S. 72-73,79-80.
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