Der siebente November

1778.


An meinen Bruder.


Auf! mit des Adlers Schwingen, fleuch,

Hin zu ihm, mein Gesang, und mit dir

Mein frohlockender Morgengruß!

Hin zu ihm, der mir ist,

Was kein Sterblicher je Sterblichen war!


Röthliche Schimmer erwachen schon;

Sie verkündigen den Tag,

Ach! den entzückenden,

Der dich, Lieber, ins Leben rief!

Seht, wie er pranget im herbstlichen Schmuck!

Feiernd naht er, und stolz, umtanzt

Von der Stunden Reigen, und begrüßt

Von der Sonne, dem Mond und dem weilenden Stern!

Eile, der du mir schwebst

Auf der lechzenden Lippe,

Bruderkuß![219]

Schnell gleit' auf dem ersten Strahl,

Feuervoll, und erquickend, wie er,

Hin zu ihm, der mir ist,

Was kein Sterblicher je Sterblichen war!


Lagre behend auf seine Lippen dich,

Scheuche nicht den Morgentraum,

Der mit duftenden Kränzen,

Der mit windenden Epheuranken

Fesselt den Schlummernden!

Träufle deinen Honig, und laß das Bild,

Ach, mein Bild!

Vor seiner ahnenden

Seele schweben, und mit ihm

Schmachtende Sehnsucht, ach, nach mir!

Dann erweck' ihn ungestüm, mit dem Fittigschlag

Der Lieb', und ruf' es laut

Mit Flammenwort ihm zu:

Daß er mir sei,

Was kein Sterblicher je Sterblichen war!


Mein Bruder! Siehe, wie sie bebt

Der Freude Zähre,

Daß Du's bist, und daß Du

Mehr denn Bruder und Freund,

Daß du bist

Meines Herzens Vertrautester![220]

Sage, sproßte dir je,

Keimte mir je ein Gedank',

Dessen Hülle nicht Du

Hobest, nicht ich?


Wie, durch der heiligen Natur

Tief verborgne Wunderkraft,

Der unberührten Leyer Saite bebt,

Wenn des Sängers Stimme den Ton

Der Bebenden hallt;

O! so stimmte Mutter Natur

Unsrer Zwillingsseelen

Immer tönende Harmonie!

Tönend, wenn das Feuerblut

Lodert in der Jünglinge Brust,

Tönend, wenn der Rührung Zähre sanft

Ueber die blässere Wange rinnt.


Ach! Du, der du mir bist,

Was kein Sterblicher je Sterblichen war!

An der Begeistrung und der Muse Hand,

Deiner Vertrauten, zu denen du sprichst:

»Du bist meine Schwester! und du

Bist meine Braut!« –

Oft besucht ihr in stiller Nacht

Du, den Bruder, und du,

In der einsamen Halle,

Deinen Wonneberauschten,

Deinen Buhlen, o Göttliche! –
[221]

Ha! ich kenne sie auch!

Schwester, und Braut!

An ihrer Hand

Schweb' ich zu dir,

Ueber Länder und Meere, zu dir!

Schütte dir aus

Mein überströmendes Herz. –


Bruder! uns ist gefallen das Loos

Lieblich, unser Erb' ist schön!


Ach! aber warum träuft

In des Jubels Becher die Thräne?

Ach! warum sind wir getrennt?

Heute getrennt?


Wie nach dem Thau das Sommergefild',

Wie die Sonne lechzet nach des Meeres Schoos,

Wie der Weinstock nach der beschattenden

Ulme strebet;

O! so streb' ich, so lechz' ich nach dir,

Der du mir bist,

Was kein Sterblicher je Sterblichen war!


Kehre wieder, du der Freude Tag,

Segenschwanger, und triefend

Deine Tritte von Milch,

Von Honig,

Und von der Rebe Blut!
[222]

Immer komm', die Schläfe bekränzt

Mit herbstlichem Schmuck!

Ach, bald nahet auch uns

Unser Herbst!


Auch er komme, die Schläfe bekränzt

Mit herbstlichem Schmuck!

Und mit Früchten, o! mit Früchten,

Mit unvergänglichen

Reich beschwert!

Nimmer find' uns dann, schöner Tag,

Wie heute getrennt!


O! Erfüllung, Erfüllung!

Des sehnlichsten Wunsches Erfüllung!

Hell blickt mein Aug'

In der Zukunft Fern', es späht

Goldne Tag' am Ende der Bahn!


Endlich kommt der Winter einher,

Ein sanfter freundlicher Greis,

Beut uns beiden die Hand, und führt,

O der Wonn'! uns ungetrennt

Dorthin, wo, unter Lebensbäumen,

Wo, in Lauben der Himmlischen,

Ach! unter eurem fruchtbelasteten,

Ruhe gewährenden

Feigenbaume,[223]

Dorthin, ach! wo, unter eurem

Freud' und Schatten

Bietenden Weinstock,

Bester Vater! und du,

Die mich gebar, die mich säugte,

Beste Mutter!

Wechsellos blühet

Ewiger Lenz.

Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 1, Hamburg 1820, S. 190-191,219-224.
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