Rundgesang

[314] Der Jahreswechsel von 1814 und 1815.


Vorsänger.


Die ernste Feierstunde nah't,

Schon zieht die Mitternacht

Einher auf sternbesätem Pfad';

Und bald ist nun vollbracht,

Vollbracht – doch Großes hat's gethan –

Des Jahres Bahn,

Das nun verschlingt der Ocean,


Alle.


So schön wir's sah'n

Verschlingt der Vorzeit Ocean!


Vorsänger.


Du gabst uns Sieg und Siegsgesang,

Bekränztest uns mit Ruhm;

Dereinst dein hoher Name prang'

An Freiheits Heiligthum![315]

Das Götterkind verhieß Gedeihn:

Wohl über'n Rhein

Zog siegend unsrer Helden Reihn,


Alle.


Zum Feind hinein,

Am Ersten Jahrstag über'n Rhein!


Vorsänger.


Er kommt! Er kommt! Er schwebt heran,

Des Fittigs Schwünge schon

Den Himmelsjüngling künden an,

Des alten Jahres Sohn.

Aus Sternenreigen glänzt hervor,

Vom Stunden Chor

Umtanzt, das junge Jahr hervor!


Alle.


Es athm' empor

Ach, unsrer Segenwünsche Chor!


Vorsänger.


Des Wechsels Stunde schallt! – Auf's Knie!

Auf's Knie! und betet an

Ihn droben, der uns mehr verlieh

Als Dank Ihm danken kann.[316]

Auf unsers Heiligthums Altar

Ein Flämmchen klar

Bring Dank- und Sühnungs-Opfer dar.


Alle.


Das Zwilingspaar

Flamm' auf für's alt' und neue Jahr!


Vorsänger.


Er that's! Er hauchte Lebensgluth

In Jüngling und in Mann,

Daß neubeseeltes Deutsches Blut

In Aller Adern rann;

Und Glaub' und fromme Siegeslust

Auf Stirn' und Brust,

Des Himmelsschutzes wohlbewußt,


Alle.


Auf Stirn' und Brust,

Das Kreuz sich prägt auf Stirn und Brust.


Vorsänger.


In Ruhm und Segen, junges Jahr,

Dem alten eif're nach:

Sei strahlend wie's dein Vater war

Der unser Joch zerbrach.[317]

Web' uns der Deutschen Eintracht Band,

Der Freiheit Pfand

Besiegle du dem Vaterland.


Alle.


Schling du das Band

Um Eintracht, Freiheit, Vaterland!


Vorsänger.


Doch unsre liebe Stadt1 erlag,

Versank in Tigerklau'n;

Kein Auge thränenlos vermag

Die Gräu'l noch anzuschaun. –

Den Frevlern, sich der Wüthrichslust

Und Schmach bewußt,

Glüht nun ein Maal an Stirn' und Brust,


Alle.


Sich's wohlbewußt,

Ihr Brandmaal glüht an Stirn' und Brust!


Vorsänger.


Der Herr ist Gott! Er giebt, Er nimmt.

Er Vatersegen giebt,

Ob unser Wunsch sein Ziel erklimmt,

Ob unser Blick sich trübt. –[318]

Aus Trübsalsnächten wunderbar

Hub sonnenklar

Sich unser Stern, der immerdar


Alle.


Strahlt sonnenklar,

Knien Glaub' und Inbrunst am Altar.


Vorsänger.


Mit hohem Wirbelschwung vollführt

Bei Sphären-Sang und Glanz

Treu seine Kreisbahn, wie's gebührt,

Das Jahr im Horentanz;

Auch uns – wem nicht das Ziel verschwand –

Prägt jene Hand

Das Gleis in unsers Pfades Sand,


Alle.


Wohl jene Hand

Die Sonnen lenkt am Gängelband.


Vorsänger.


In weitem Rund, in engem Ring,

Sei's Kaiser und sei's Knecht,

Ein jeder wirke frisch und flink

Was gut ist, brav und recht![319]

Zart Weibchen, fern von Saus und Braus,

Bewach' ihr Haus,

Sä' manches Saamenkörnlein aus,


Alle.


Bei'm Kinderschmaus,

Des Guten und des Schönen aus!


Vorsänger.


Ist's so durch's ganze Vaterland

Bestellt in Hütt' und Schloß,

Dann ist uns Kurzweil, Spiel und Tand

Der Feinde Schwarm und Troß. –

Gewähr's uns, Jahr das aufwärts zieht,

Schon östlich blüht,

Der schönern Zukunft Erstlingsglied!


Alle.


Dich grüßt, erglüht,

Des alten Stolbergs Schwanenlied.

Fußnoten

1 Hamburg, des Dichters Geburtsstadt.


Quelle:
Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Band 2, Hamburg 1820, S. 314-320.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Lysistrate. (Lysistrata)

Lysistrate. (Lysistrata)

Nach zwanzig Jahren Krieg mit Sparta treten die Athenerinnen unter Frührung Lysistrates in den sexuellen Generalstreik, um ihre kriegswütigen Männer endlich zur Räson bringen. Als Lampito die Damen von Sparta zu ebensolcher Verweigerung bringen kann, geht der Plan schließlich auf.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon