34. Der Felsenstrom

[75] Juli 1775.


Unsterblicher Jüngling!

Du strömest hervor

Aus der Felsenkluft!

Kein Sterblicher sah

Die Wiege des Starken!

Es hörte kein Ohr

Das lallende Rieseln im werdenden Quell!


Wie bist du so schön

In silbernen Locken!

Wie bist du so furchtbar

Im Donner der hallenden Felsen umher!


Dir zittert die Tanne!

Du stürzest die Tanne

Mit Wurzel und Haupt!

Dich fliehen die Felsen!

Du haschest die Felsen,

Und wälzest sie spottend wie Kiesel dahin!


Dich kleidet die Sonne

In Strahlen des Ruhms!

Sie malet mit Farben des himmlischen Bogens

Die schwebenden Wolken der stäubenden Flut.
[75]

Was eilst du hinab

Zum grünlichen See?

Ist dir nicht wohl beim näheren Himmel?

Nicht wohl im hallenden Felsen?

Nicht wohl im hangenden Eichengebüsch?


O eile nicht so

Zum grünlichen See!

Jüngling! du bist noch stark wie ein Gott!

Frei wie ein Gott!


Zwar schmeichelt dir unten die ruhende Stille,

Die bebende Wallung des schweigenden Sees,

Bald silbern vom schwimmenden Monde,

Bald golden und rot vom westlichen Strahl.


O Jüngling! was ist die seidene Ruhe,

Was ist das Lächeln des freundlichen Mondes,

Der Abendsonne Purpur und Gold,

Dem, der in Banden der Knechtschaft sich fühlt?


Noch strömest du wild,

Wie dein Herz gebeut!

Dort unten herrschen oft ändernde Winde,

Oft Stille des Todes im dienstbaren See!


O eile nicht so

Zum grünlichen See!

Jüngling! du bist noch stark wie ein Gott!

Frei wie ein Gott!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 75-76.
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