81. Die Leuchte

[147] 1783.


Vitam impendere vero.


Wie nach dem Quell das müde Reh sich sehnt,

Wie nach der Mutter ein verirrtes Kind,

So sehnt nach Wahrheit sich der Mensch, wofern

Sein Geist gesund in reinem Herzen blieb.

Mit dieser Sehnsucht sandt' ihn die Natur

Ins Erdeleben, welches Freud' und Harm

Ihm schenkt. Ob mehr der Freud'? ob mehr des Harms?

Wer mag's entscheiden? Dennoch glaub' ich sinkt

Der Freuden Schale öfter als des Harms,

Wiewohl das Kind mit nassem Blick den Strahl

Des ersten Lichtes schöpft, den letzten Hauch

Der Luft, ein banges Röcheln von sich stößt.

Oft scheint die Zwischenzeit zu kurz, zu lang,

Doch maß sie der, der Sonnenbahnen maß!

Dem Wahne scheint sie nur zu kurz, zu lang.

Du zeihest sie der Kürze, dem der Tag

Zu lang doch immer scheint, zu lang die Nacht,

Wiewohl des Leichtsinns bunte Geißel schnell

Die Stunden von der leeren Scheitel treibt?

Du zeihest sie der Länge, dem der Tag

Zu kurz doch immer scheint, zu kurz die Nacht,

Dir einen stillen, ernsten Augenblick

Zu sparen, und die Frage dir zu thun:

Woher? wohin? es dreht sich unter dir

Ein schnelles Mühlenrad, und schwindelnd fällst

Du da hinab, wo dir der kalte Strom

Die Antwort, eh' du fragtest, wirbelnd giebt!

Wer Wahrheit liebet, und nach Wahrheit forscht,

Den reißet nicht der Taumel blindlings hin,

Sein Leben ist kein bunter Larventanz,

Kein schwerer Fiebertraum; er wandelt oft

Auf dunkeln Pfaden, freut sich manches Strahls,

Der unverhofft aus schwarzen Wolken bricht,[148]

Erwartet sehnend, aber mit Geduld,

Das Morgenrot, und weiß es, daß der Strahl

Des blassen Mondes aus der Sonne quoll.

Er tauschte seine schöne Sternennacht

Nicht für das Karnaval des Wahnes, nicht

Für unsrer Afterweisen Lämpchen, nicht

Für stolzer Pfaffen Blendlaterne hin.

Denn beide sehen bei dem trüben Schein

Nur sich; sie wähnen über ihren Schein

Hinaus sei eine schwarze Mitternacht.

Sie wollen leuchten, aber wünschen nicht

Den Tag, sie leuchtet wie ein faules Holz.


Der Freigeist, weil er nicht des Mondes Strahl

Mit seinem hohlen Brennglas fassen kann,

Erkennet seinen Sonnenursprung nicht,

Sucht gleich dem Uhu siebenfält'ge Nacht,

Im düstern Graun der öden Felsenkluft,

Und schreckt mit menschenfeindlichem Geschrei.


So führen Stolz und Leichtsinn von der Bahn

Der Weisheit ab; zu bald verlieren wir

Den Durst nach Wahrheit, von dem Vorurteil

Geblendet, und von eitlem Wahn bethört.

Es täuscht den edlen Durst ein Taumelkelch,

Wir trinken Tod in langen Zügen ein!

Nichts bleibt uns wahr, in nichts die Wahrheit lieb.

Was edlen Menschen hehr und heilig war,

Wird uns ein Spott! die herrliche Natur

Erstummet und erbleicht für unsern Sinn.

Der Philosoph, ein trügender Sophist,

Baut und zerstört sein luftiges System,

Dem Knaben gleich, der Sand am Ufer häuft.

Der Dichter spielet dann mit falschem Witz.

Denn an dem Strahl der Wahrheit nur allein

Entlodert jede Fackel des Genies.

Die Freiheit scheint uns bald ein Jugendrausch,

Es sinkt das Vaterland herab zum Staat,

Ein lustig Wort, das jeden Unsinn weiht,[149]

Ein leeres Götzenbild, dem Menschenmark

Geopfert wird, dem Minotauros gleich!

Der wahre Minotauros unsrer Zeit,

Der in des Wahnes Labyrinthen thront.

Dem Wahren abgestorben stirbt der Mensch

Für jedes edlere Gefühl! Der Strahl,

Der unser Haupt erhellet, wärmt das Herz!

Wahrheit und Lieb' entströmen einem Quell,

Sind beide einer Sonne Licht und Glut.


Ihr, die mit treuem Herzen Wahrheit forscht,

Ermüdet nicht! es sank so tief der Mensch,

Weil er von solcher Höhe sank! er schleußt

Dem Licht sein Auge, das vom Himmel strahlt.

O prüft mit frommer Einfalt dieses Licht!

Mit Demut prüft es! Nicht durchs trübe Glas

Der Glosse; prüfet selbst das Wort des Herrn,

Und flehet dem, der Sonnen leuchten hieß,

Der uns den heißen Durst nach Wahrheit gab,

Bald wird sein Wort des Fußes Leucht' euch sein,

Ein Licht auf eurem Weg, im Tod ein Licht!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 147-150.
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