88. Aus dem Schauspiele »Der Säugling«

1.

[158] Chor der Musen.


Wie eines Sprößlings sorgsam im Quellenthal

Vor frommer Menschen Hütte die Dryas pflegt,

So pflegen dein, o zartes Knäblein!

Sorgsam die Musen, Apollon sorgsam.


Sie wehet Kühlung ihm aus dem Haine zu,

Sie netzet mit der Quelle die Wurzel ihm,

Sie hält ihn fest, wenn Stürme brausen,

Träufelt ihm Tau in die junge Knospe.


Chor der Grazien.


Wie einen Sprößling, welchen im Quellenthal

Vor frommer Menschen Hütte die Dryas pflegt,

Wie den die Horen freudig schmücken,

Schmücken die Grazien dich, und Cypris.


Die Horen hauchen lenzliche Knöspchen auf

Mit lauem Odem, malen das junge Grün

Mit feuchtem Glanze, mit des Purpurs

Tropfen die Blüte, mit Gold die Früchte.


Chor der Musen.


Wir geben deinem Namen Unsterblichkeit,

Und lehren dich, des Namens Unsterblichkeit

Nicht jener Wonne gleich zu achten,

Welche der Wahrheit und Schönheit Anblick
[159]

Und seiner Schöpfung Anblick dem Dichter giebt!

Den Beifall überschwebet das Selbstgefühl,

Und stürzt sich gern aus lichter Höhe

In der Entzückungen reine Woge!


Chor der Grazien.


Verborgen ist den Menschen der Zwillingsquell,

Aus welchem Wahrheit strömet, und Schönheit strömt;

Die Musen tränken dich aus jenem,

Aber mit diesem betauen wir dich!


Holdselig sind wir Töchter des Himmels, sind

Auch kühn! entsinken nimmer dem Sternenflug

Der Musen, folgten mit den Musen

Orpheus hinunter ins Thal des Hades!


Beide Chöre.


Wir sind ein Reigen! Schwer zu erreichen blüht

Der Weisheit Blume; welcher sie pflückte, weiß,

Daß der die ganze Wahl verfehlt,

Welcher mit klügelnder Hand uns sondert!


Er weiß, was wenig wissen, der Glückliche:

Der Schönheit Blüte trage des Guten Frucht!

Ein' ist die Pflanze eines Kernes,

Welchen der Vater der Götter säte!


Du wirst es wissen, Knäblein! Der Biene gleich,

Entsaugest du der Blume den Himmelstau,

Und deiner Zellen süße Speise

Nähret die Weisen der späten Nachwelt.


2.

Chor der Musen.


Eh' die Sonne dir lischt, rötet die Frühe dir

Oft das Antlitz; du staunst selig dem Abendrot,

Und in Thränen der Wonne

Beben mondliche Schimmer dir!
[160]

Auf dem blumigen Schoß säuget die Erde dich,

Und die Wölbung des Hains winket dir Ruhe zu;

Auf den Wogen des Meeres

Wieget trunken dein Auge sich!


Mehr als Worte dem Ohr tönen, vernimmt der Mensch

Auf des Menschen Gesicht; schöpfen im Auge des

Menschen wirst du, und hell wird

Dir die Tiefe des Herzens sein!


Chor der Grazien.


Eh' mit bläulichem Strahl Hesperos' Fackel dir

Lischt, begegnet dir oft schmachtender Liebe Licht,

In dem rollenden, feuchten

Mädchenauge, du Glücklicher!


Wie des Hesperos Licht über dem Abendrot

Schimmert, schimmert der Blick schmachtender Jungfrauen

Über wallende Rosen,

Von der bebenden Scham durchglüht.


Ach, wir bringen sie dir, Jüngling, entgegen! wir

Lehren Jungfraun allein schmachtendes Sträuben! wir

Tauen glühenden Nektar

In die Blume der Sittsamkeit!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 158-161.
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