[Kannst Du das Leben nicht lebendig leben]

[274] Kannst Du das Leben nicht lebendig leben,

Statt über diesen feuertrunknen Farben

Auf schwarzen Fittich alten Grams zu schweben?


Venedig fiel und seine Helden starben! –

Doch sieh, der Markusplatz ist lauter Feuer

Und wirft ins Wasser tausend Strahlengarben.


Hier schwimmt die Lust und wirft hinweg das Steuer,

Hier wehn der Schönheit jugendliche Lichter

Um alter Meister herrlichstes Gemäuer.


Da unten aber wogt es dicht und dichter;

Und zwingt Dich nicht zum reizenden Vergessen

Die Lebensfülle strahlender Gesichter?


Der tiefe Himmel wölbt den Platz indessen

Mit Amethyst zum säulenstolzen Saale,

In keinem schönern bist Du je gesessen! –


Umsonst, umsonst! Mein Auge schmerzt vom Strahle,

Mein Herz ist müd – laß schnell Dein Ruder triefen,

Mein Gondolier, hinab den Gran Canale!


Wenn Licht und Lärm sich hinter uns verliefen,

Dann kann mein Aug' auf Mondeswellen schweifen

In öder Fenster schwermutsvolle Tiefen!


Hier weht von wundervollen Säulenknäufen

Der Schwermut Schlingkraut über Tor und Mauer,

Hier kann mein Herz im Stillen blühn und reifen!


Nicht kam ich her zu diesem Wonneschauer,

Venetia, daß kurzer Glanz mich bade,

Ich kam zu Dir, zu teilen Deine Trauer!


Kein Fenster klirrt auf meinem öden Pfade,

Und nur die Welle, träumerisch und trübe,

Spielt an Venedigs marmorne Gestade


Mit leisem Schlag ein Lied – verlorner Liebe!

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 274-275.
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