Lichtgedanken bei Nacht

[236] Wenn am grausigsten dunkelt die Nacht,

Sternlos im finsteren Todesgrau,

Wenn am grimmsten der Donner kracht,

Blitze schießen durch Wolkenau,


Schaurig mein Flämmlein im Hauche bebt,

Nächtliches Grausen die Weite hüllt,

Fühl' ich mich dennoch so warm durchbebt,

Weil mir die Sonne den Busen füllt,


Denk' ich an Wonne und Lenzeslied,

Denk' ich an Rose und Maiengrün,

Und das Wolkengewimmel, das draußen flieht,

Lass' ich klanglos und fühllos vorüberziehn.


Wenn die Zeit so erbärmlich dem Aug' sich zeigt,

Sinnt das Herz von der Vorwelt mächtiger Pracht,

Wenn des Leides Nebel herniedersteigt,

Strahlt der Wonne Erinnerung durch Schicksalsnacht.


Wenn die Liebe sich höhnend von mir gewandt

Und verschwindet im bergenden Nebelsaum,

Da zieht es das Herz, wie mit Zauberhand,

In den längst verklungenen Wonnetraum.


Denn das Dunkel, es mahnet das Herz ans Licht,

Und der Winter erinnert an Lenzesblühn,

Und das Herz, das endlich in Liebe bricht,

Denkt stets an erloschenes Sonnenglühn.

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 236-237.
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