Ein Gesicht

[18] Es liegt im Tal ein weißer Stein,

Das ist ein Hünengrab;

Dort senkten sie im Totenschrein

Mein Vaterland hinab.


Es fliegt im Blau ein schwarzer Aar,

Das ist des Hünen Geist,

Der überm Grabe Jahr für Jahr

In steter Runde kreist.


Es lehnt am Stein ein Sängersmann,

Ich kenn' ihn wohl, bei Gott,

Der sieht zum Adler himmelan

Mit düster kaltem Spott.


Und kreise du am Himmelsrand

Viel tausend Jahre noch,

Sie halten dich bei uns zu Land

Für eine Krähe doch.


Hier sieht man, was zur Sonne strebt,

Für Dohl' und Raben an,

Und was bei uns im Aase gräbt,

Heißt Adler oder Schwan.


Wohl schwebt' auch ich einst hoch genug

Und ward verkannt, verhöhnt,

Da hab' ich mir den Sonnenflug

Für immer abgewöhnt.


Hier stehen will ich, stumm und still,

Und sterben auf dem Stein,

Dann scharrt man mich, wenn's enden will,

Vielleicht daneben ein.


Du, komm herab zu dieser Gruft,

Und stirb allhier, wie ich:

Da droben in der deutschen Luft,

Da ist nicht Raum für dich!

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 18-19.
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