Mein Leben für ein Lied!

[103] Ich blättre oft die kreuz und quer

Im Buche des großen Britten;

So tat ich heut, wie oft vorher,

Und las Richard den Dritten.

Ha rechts ein Schwert und links ein Schwert,

Verderben dort und hier!

Der König ruft: Ein Pferd, ein Pferd,

Mein Königreich dafür! –


Ihr wißt, ich bin zu jeder Zeit

Ein träum'rischer Geselle;

So träumt' ich mich wahrhaftig heut

An König Richards Stelle.

Ich war vom Helm bis an den Sporn

In Stahl geschnürt, in blanken,

Und ritt in raschem Kampfeszorn

Durchs Schlachtfeld der Gedanken.


Gedanke hier, Gedanke dort,

Das war ein heiß Gedränge,

Wild wirbelte von Ort zu Ort

Im Knäul das Handgemenge;

Mich aber trug mein Flügelroß,

Ein Lied voll Sturm und Flammen,

Durch Lanzenwald und Wagentroß

Und – brach mit mir zusammen.


Da lag der tote Pegasus

Auf mir in voller Schwere,

Und über mich wie Wogenschuß

Hinrollten beide Heere.

Ha rechts die Schlacht und links die Schlacht!

Da lag ich wund und müd'

Und rief empor mit aller Macht:

Mein Leben für ein Lied!
[104]

Wenn innen tobt der Liederstreit,

Die Worte aber versagen,

Kein Wort, kein Reim, kein Lied bereit,

Um drauf dahinzujagen.

Wenn uns das Herz das Lied nicht gibt

Und doch zum Liede zieht,

Da ruft man wohl zum Tod betrübt:

Mein Leben für ein Lied!

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 103-105.
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