24. Es gibt eine Friedensbewegung

[176] Im Frühjahr 1887 kehrten wir aus Paris wieder heim, um viele Erfahrungen und Eindrücke bereichert. Eine Sache namentlich hatte ich da erfahren, die auf mein weiteres Leben und Schaffen von einschneidender Wirkung geworden ist: In einem Gespräch über Krieg und Frieden – ein Thema, das mir schon mächtig die Seele erfüllte –, teilte uns unser Freund, Dr. Wilhelm Löwenthal, mit, daß in London eine »International Peace and Arbitration-Association« bestehe, deren Zweck es sei, durch Schaffung und Organisierung der öffentlichen Meinung die Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichts herbeizuführen, das – an Stelle der Waffengewalt – in zwischenstaatlichen Streitfällen zu entscheiden hätte.

»Wie, ein solches Mädchen hatte Madrid, und das erfahre ich erst heute!« ruft Don Carlos aus, als in dem Auftritt mit Prinzessin Eboli diese ihm ihre Seele enthüllt. Ebenso war mir zumute: Wie? Eine solche Verbindung existierte – die Idee der Völkerjustiz, das Streben zur Abschaffung des Krieges hatten Gestalt und Leben angenommen? Die Nachricht elektrisierte mich. Dr. Löwenthal mußte mir gleich alle Einzelheiten geben über die Bildung, die Zwecke, die Methode des Vereins, und über die Persönlichkeiten, die ihm angehörten. Was ich erfuhr, war folgendes:

Der Gründer und Vorsitzende des Vereins, dessen Hauptsitz in London war, hieß Hodgson Pratt. Zum Vorstand gehörte der Herzog von Westminster und der Earl of Ripon, der Bischof von Durham u.a.

Hodgson Pratt, ein Mann von hoher ethischer und philantropischer Gesinnung, hatte in den letzten Jahren das Festland bereist, um Zweigvereine seiner Schöpfung ins Leben zu rufen. Seither gab es in Stuttgart einen »Württembergischen Verein«, Vorsitzender: Fr. von Hellwald; in Berlin ein provisorisches Komitee, Vorsitzender: Professor Virchow; in Mailand »Unione Lombarda per la Pace«, Vorsitzender: Professor Vigano (nach ihm: Teodoro Moneta); in Rom »Associazione per l'arbitrato e la pace«, Vorsitzender: Unterrichtsminister[176] Ruggero Bonghi. Außerdem in Schweden, Norwegen und Dänemark.

Der Aufruf, den die Londoner Gesellschaft ihrer Propaganda zugrunde gelegt hat und von dem mir Dr. Löwenthal ein Exemplar übergab, enthielt folgende Einleitung:


Vor kurzem hat ein Mitglied des englischen Ministeriums gesagt, das größte Interesse Englands sei der Friede. Könnte man nicht dasselbe von jedem zivilisierten Lande sagen?

Die internationalen politischen Zustände in der zivilisierten Welt erregen bei ihrem Anblick nicht weniger Staunen als Bedenken.

Einerseits wünschen die Menschen jeden Ranges und jeglicher Meinung den Fortschritt, das allgemeine Wohl und das Glück der Menschheit, und das Ziel aller Anstrengungen der Männer der Wissenschaft, der aufgeklärten Schriftsteller und Denker gipfelt in der Verwirklichung dieses Fortschrittes und Wohlstandes.

Andererseits werden aber im Widerspruch zu diesen Anstrengungen die Früchte der Industrie und des Fleißes ohne Unterlaß zugunsten kriegerischer Zwecke geopfert, und diese Opferung hat die Wirkung, den Fortschritt aufzuhalten und zu verhindern.

Wäre jetzt nicht, am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts, die Zeit gekommen, wo alle Menschen sich darüber besprechen und verständigen sollten, dieser Torheit und schrecklichen Plage, die nur durch Einverständnis und durch Anstrengung aller beseitigt werden kann, ein Ende zu machen?

Wie aber zu diesem Resultat gelangen?

Durch die unwiderstehliche Gewalt einer hinreichend unterrichteten und energisch organisierten öffentlichen Meinung. –

Das Mittel, um zu dieser Verbreitung und dieser Organisation zu gelangen, besteht darin, eine große, in allen europäischen Städten verzweigte Liga zu bilden.

Weiters führt der Aufruf an, was die Liga zu bezwecken und wie sie dabei vorzugehen hätte.


Bei meiner Rückkehr fand ich die Korrekturbogen meines Buches »Das Maschinenzeitalter«. Ich fügte in dem Kapitel »Zukunftsausblicke« einen Bericht über den Bestand der Londoner Liga bei. So wie ich nichts davon gewußt hatte, setzte ich auch bei meinen Lesern die Unkenntnis dieser Zeiterscheinung voraus. In dem Dinge, »Oeffentlichkeit« genannt, verschwinden ja die Anstrengungen von ein paar hundert – auch von ein paar tausend – Menschen wie ebensoviele Tropfen Karminfarbe in einem Binnenmeer.[177]

Als das Buch nun bald darauf erschien, erlebte ich die Genugtuung, daß unter den sehr zahlreichen Kritikern, die ihm spaltenlange Besprechungen widmeten, nicht ein einziger nur auf die Idee kam, daß »Jemand« dem »schwachsinnigen Geschlechte« angehören könnte. Doktor Moritz Necker, der bekannte Literaturrezensent des »Wiener Tagblatts«, schrieb mir in einem Briefe, der von einem anderen Gegenstand handelte, auch nebstbei, daß er unlängst ein anonymes Buch »Das Maschinenzeitalter« gelesen habe; für ihn bestehe kein Zweifel, der Verfasser sei: Max Nordau. Derselben Meinung war Cherbuliez, der in einem sechzehn Seiten langen Artikel der »Revue des deux Mondes« Max Nordau als den Verfasser der besprochenen Arbeit bezeichnete. Max Nordau verwahrte sich öffentlich selber dagegen mit der Erklärung, daß er das Buch nicht kenne und daß er gewohnt sei, zu zeichnen, was er schrieb. Ich war seit einiger Zeit in Korrespondenz mit dem Philosophen Bartholomäus von Carneri, dem ich nach der Lektüre seines »Sittlichkeit und Darwinismus« einen bewundernden Brief geschrieben hatte, worauf er geantwortet, daß er mein »Inventarium« kenne und schätze; und daraus hatte sich nun ein regelmäßiger Briefwechsel ergeben. Von meinem anonymen Buch hatte ich ihm nichts verraten; desto freudiger überrascht war ich, als ich in der Zeitung im Parlamentsbericht eine Rede Carneris fand, die er tags zuvor im österreichischen Reichsrat gehalten und worin er das Buch »Das Maschinenzeitalter« erwähnte. Ich fragte ihn darauf, was das für ein Buch sei und von wem? Er antwortete darauf, der Verfasser sei ungenannt, aber er habe erraten, wer es sei: Karl Vogt – er habe ihn augenblicklich am Stil erkannt. Uebrigens hätten manche geglaubt, daß er selber (Carneri) das Buch geschrieben habe. Dann gab ich mich ihm als die Schuldige zu erkennen, bat ihn aber, das Geheimnis zu wahren, was er mir auch versprach.

Zu Anfang des nächsten Herbstes waren wir, wie wir das öfters taten, wieder auf ein paar Wochen nach Wien gefahren. In dem Hotel, in welchem wir abgestiegen waren, erfuhren wir, daß der Abgeordnete von Steiermark, B. von Carneri, sich im selben Hause befand. Meinen berühmten Korrespondenten kennen zu lernen – diese Aussicht lockte mich lebhaft, und wir ließen uns bei ihm melden. Der Gelehrte trat uns freudig entgegen. Ein alter Mann, ein kranker Mann – beinahe ein Krüppel und doch – welche Heiterkeit und Frische! Carneri war sein Leben lang nicht gesund gewesen – sein Kopf saß immer schief auf die rechte Achsel gedrückt, mit Mühe nur konnte er gehen, und von früher Jugend an hatte er keinen Tag ohne quälende Schmerzen zugebracht. Und er nannte[178] sich einen glücklichen Menschen; er nannte sich nicht nur so, er war es auch. Seine geistige Arbeit, seine politische Tätigkeit, der Besitz einer teuern Tochter und eines teuern Schwiegersohnes, das hohe Ansehen, das er in der Gelehrtenwelt und unter den Parlamentskollegen genoß – das mochten wohl die Grundlagen seiner Lebensfreude sein; aber das eigentliche Geheimnis war wohl dies: er betrieb nicht nur Philosophie – er war wirklich ein Philosoph, d.h. ein Mensch, der sich über die Misere des Lebens hinauszusetzen und dessen Schönheit dankbar zu genießen weiß.

Wir verbrachten einige anregende Stunden in Carneris Gesellschaft; alle Themen, die wir in unserer Korrespondenz angeschlagen hatten, wurden durchgesprochen, und die Freundschaft, die sich brieflich angeknüpft hatte, wurde durch diesen persönlichen Verkehr nur befestigt. Am selben Abend trafen wir uns wieder. Wenn der Abgeordnete aus Marburg an der Drau zu den Parlamentssessionen in Wien weilte, so pflegte er im Hotel an einer bestimmten langen Tafel zu soupieren, und um diese Tafel versammelte sich eine Anzahl seiner Kollegen und sonstiger hervorragender Persönlichkeiten aus politischen, literarischen und gelehrten Kreisen von Wien. Der »Carneri-Tisch« im Hotel Meißl war eine Art schöngeistiger Salon. An dem Abend nahmen auch wir an diesem Tische Platz und lauschten mit Interesse der lebhaften Unterhaltung, deren Mittelpunkt unser Freund Carneri war, an dessen rechter Seite ich saß. An eine Episode kann ich mich erinnern. Mein Nachbar zur Rechten sagte plötzlich zu meinem linken Nachbar über mich hinüber:

»Du, ich hab' mir das Buch gekauft, das du neulich in deiner Rede zitiert hast. Weißt du noch immer nicht, wer ›Jemand‹ ist?«

»Nein, keine Ahnung,« antwortete Carneri und tauschte mit mir einen lächelnden Blick. »Und was sagst du dazu?«

Der rechte Nachbar begann eine lange Dissertation über »Das Maschinenzeitalter«, und ein anderer, der es auch gelesen hatte, mischte sich hinein. Was da gesprochen wurde, weiß ich nicht mehr, nur weiß ich, daß es mir nicht unangenehm war, sondern ungeheuern Spaß machte, besonders als auf meine Zwischenbemerkung: »Das muß ich mir doch auch verschaffen,« jemand ausrief: »O, das ist kein Buch für Damen!«[179]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 176-180.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Bertha von Suttner: Memoiren
Memoiren

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon