32. Häusliches und Intimes

[232] Diese Blätter haben sich in letzter Zeit stark mit Vereinsberichten und »Bewegungs«kundgebungen gefüllt, und es sieht aus, als wären wir beide ganz ins politische Leben vertieft und bedenklich in Vereinsmeierei versunken. Wenn ich aber in jene Tage zurückblicke, so steigen mir ins Gedächtnis noch mannigfaltige andere Erinnerungen auf an unser privates Leben, an das Familien- und gesellige Leben, das wir führten, und namentlich an unsere eheliche, ungetrübt glückliche Gemeinschaft. Die Welt draußen mit ihrer mittelalterlichen Finsternis und ihren jammervollen Zuständen machte uns viel Verdruß, und wir zogen dagegen zu Felde, so gut wir konnten; wir fanden auch in dem Kampfe selber viel Genugtuung, aber unsere Hauptfreude, unser Reichtum, unsere vollste Befriedigung: das alles waren wir uns gegenseitig. Nichts hatten wir von unserer Heiterkeit, von unserem närrischen Kindischsein, nichts von unserer tiefen, voll vertrauenden Liebe verloren. Darin schwammen wir wie der Fisch im Meer – und was auch immer, wenn wir uns in den Ufersand wagten, uns da zappeln und ersticken machte – immer konnten wir wieder untertauchen in die belebenden Fluten unseres Glückes.

Ein Filigranglück – ein Miniaturglück. Es bestand nicht etwa aus hochstrebenden Gefühlen und rauschenden Genüssen. Der Alltag war sein Terrain. Der Alltag mit den winzigen Süßigkeiten des Behagens und des Humors. Wir waren voreinander nicht etwa in Staunen, in Bewunderung, in Anbetung verloren – besser als alles das: wir hatten uns lieb – lieb mit all unseren Schwächen und Fehlern. Sich Mühe geben, um zu helfen, den Mitmenschen und den künftigen Menschen ein besseres Dasein zu schaffen – ist ja ganz schön. Die beste und erste Pflicht ist es aber doch, seinem Lebensgefährten so viel Freude zu geben als möglich, und dabei selber froh zu sein. Wozu will man denn die Menschheit von Verfolgung,[232] von Krankheit, von Unterdrückung, von gewaltsamer Tötung befreien, wenn nicht, um ihr die Möglichkeit zu verschaffen, sich des Lebens zu freuen? Das also ist der Hauptzweck. Man selber aber und die, die einem am nächsten stehen, haben doch denselben Anspruch – warum sollte man diesen Anspruch, der doch am leichtesten zu erfüllen ist, unbeachtet lassen? Wenn in einem Kreis von zehn jeder sich für das Wohl der übrigen neun aufopfert, welchem aus dem Kreise wird dann das erstrebte Wohl zuteil? Nun, uns beiden war wohl, ganz »kannibalisch wohl«, wenn auch nicht, wie's in dem bekannten Studentenliede heißt: »wie fünfmalhunderttausend Säuen«, so doch wie zwei fidelen Ferkelchen.

In Harmannsdorf war übrigens auch nicht alles auf Rosen gebettet. Die Wirtschaft wollte durchaus nicht gehen und der Steinbruch schon gar nicht. Man wechselte Verwalter, wechselte Direktoren, man verhandelte mit Agenten über Unternehmungen – aber es ward nicht besser. Im Gegenteil, die geplanten Geschäfte, die immer in Hoffnungen wiegten, veranlaßten zu Wagnissen, und wenn sie nachher ins Wasser fielen, so war man wieder um ein Stück übler dran, fiel aber auf die nächste Hoffnung desto glaubensseliger her. Und – eine Dosis Leichtsinn war dem ganzen Hause Suttner eigen – man schüttelte die Sorge ab und nahm vom Tage, was der Tag Gutes brachte.

Trauriges hatten ja so manche Tage auch gebracht: Des Meinen ältester Bruder Karl ward plötzlich von einer Lungenentzündung erfaßt, die ihn nach acht Tagen dahinraffte. Meine Schwägerin Lotti – verheiratete Gräfin Sizzo – verlor ihren Mann. Der Verlust traf sie nicht sehr schwer. Es war keine schlechte, aber auch keine glückliche Ehe gewesen: die beiden paßten nicht zueinander und lebten meistens getrennt – er in seinem heimatlichen Südtirol, sie in Harmannsdorf. Die Tochter Karls, die damals sechzehnjährige Mizzi, kam nach dessen Tode in das großelterliche Haus und blieb dann beständig bei uns. Ihr Onkel Artur, für den sie einen wahren Kultus hegte, mußte ihr den Vater ersetzen.

Der lebhafteste Verkehr herrschte mit dem Nachbarschlosse Stockern; dort lebte (und lebt noch heute) meines Mannes älterer Bruder Richard (genannt Igel), dessen Frau Pauline (genannt »das Weib«), geborene Ponz von Engelshofen, Herrin auf Stockern und Mutter von fünf Kindern –: einer Tochter und vier Söhnen; von diesen der älteste geboren 1871, der jüngste 1886 – also viel frische, fröhliche Jugend. Daneben Gouvernanten, Hofmeister, Tanten, Vettern und sonstige Gäste. Da ging es immer lebhaft her. Sehr[233] oft kam der ganze Troß nach Harmannsdorf, namentlich bei Namens- und Geburtstagen, bei Jagden, bei Winzer- und Erntefesten; noch häufiger fuhren wir hinüber nach Stockern, oder beide Familien machten zusammen Landpartien in die benachbarte Rosenburg oder nach sonstigen Ausflugsorten.

»Das Weib« war die Ueberlebende von mehreren Geschwistern, die im Kriegsjahre 1866 der im Lande ausgebrochenen Choleraepidemie zum Opfer gefallen waren. Die Erzählungen aus jener Zeit, da in Stockern im Laufe von sechs Tagen neun Personen der Familie und Dienerschaft vom Würgengel dahingerafft wurden, hat mir zur Episode »Die Cholerawoche« in meinem Roman »Die Waffen nieder« als Grundlage gedient.

Nun war Gras gewachsen über alledem. Das Gedächtnis der Menschen ist so furchtbar kurz. Stockern war jetzt mit lebensfrohen Menschen gefüllt, und wir zwei trugen zu den dortigen Lustbarkeiten unser Scherflein bei. Onkel Artur war der liebste Kamerad seiner jungen Neffen, und auch »Tante Boulotte« war keine Spaßverderberin. Ich erinnere mich u.a. einer Tragikomödie, »Kleopatra« betitelt, die auf der Hausbühne in Stockern aufgeführt wurde. Den Text – in blutigen Knüttelversen – hatte der Meine verfaßt und auch die Musik dazu komponiert. Die Rolle der ägyptischen Königin lag in meinen Händen. Der älteste Sohn des Hauses, damals schon Dragonerleutnant, trat als behelmter römischer Gardeoffizier auf; ein Gutsnachbar spielte den Antonius; die jungen Mädchen der Familie hatten Sklavinnen darzustellen, und der Verfasser des Meisterwerkes mimte einen alten, wandernden Propheten, der alles voraus wußte, vom Schlangenbißtode der Königin bis zu den letzten Vorkommnissen im Wiener Gemeinderat. Die Gouvernante in Stockern, eine wunderhübsche junge Engländerin, mußte Kleopatras Dienerin spielen, deren wichtigste Funktion es war, die Lieblingsschlange ihrer Herrin zu bürsten. Der englische Akzent der Miß Pratt wirkte ungeheuer komisch. Nur mit größter Mühe, da sie kein Deutsch verstand, war ihr die Rolle eingepaukt worden. Sie hatte in einem Monolog die ihr anvertraute Schlange mit »o du elendes Mistvieh« zu apostrophieren (aus dieser Textprobe läßt sich die Erhabenheit des Poems erkennen), aber sie deklamierte »O du ellen Mittwoch!« Hinfort, wenn man in Stockern grob sein wollte, nannte man einander »Mittwoch«.

Der größte Festtag im Jahr war uns beiden stets der 12. Juni, der Jahrestag unserer Vermählung. Den wollten wir aber niemals anders feiern als zu zweien, und so geschah es, wenn wir in dieser[234] Zeit in Harmannsdorf waren, daß wir frühmorgens abreisten, unbekannt wohin, und mindestens vierundzwanzig Stunden abwesend blieben. Waren wir an unserem wirklichen Hochzeitstage durchgegangen, so taten wir's an den Jahrestagen auch. Nur keine Gratulationen mit ausgebrachten Trinksprüchen an diesem Tage ... allein wollten wir sein ... in Andacht. Wir fuhren zur Bahn, nahmen Fahrkarten nach irgendeiner Station; dort angekommen, suchten wir das Gasthaus des Ortes auf, um ein Mittagessen zu bestellen, und gingen dann hinaus in die Felder und Wälder. Juni ist ja der glückliche Monat, wo alles in Blütenpracht steht, wo die Rosen wuchern und der Kuckuck ruft – wo die ganze Natur ein Hochzeitsfest ist. Da wanderten wir ein paar Stunden herum und kamen dann mit gesegnetem Appetit zu unserem Mittagessen, das wir uns unter einem Laubendach des Wirtshausgartens servieren ließen. Und nachher wieder hinaus in den Wald. Dort suchten wir uns ein schattiges – oder auch sonniges Plätzchen – wir scheuten die Sonne nicht, sondern hatten eine eidechsenhafte Vorliebe für ihre liebkosende Glut – und da vergingen weitere Stunden der weihevollen Zwiesprache; Stunden, die sich ausdehnten bis zum Sinken der Sonne, bis zum Aufsteigen des Mondes, bis zum Wehen der nächtlichen Düfte. Dann ging's in die Herberge zurück, wo uns in einem netten Zimmer das Nachtmahl erwartete. Und immer noch war unser Gesprächstoff nicht erschöpft – von Jahr zu Jahr wurde er reicher, denn was wir zueinander sprachen an diesen Tagen, das war das mannigfaltige Variieren des bald heiteren, bald wehmütigen, immer süßen Themas: »Weißt du noch?« Alles zusammen Erlebte, zusammen Gesehene, zusammen Erkannte ließen wir Revue passieren, und es war, wenn wir unsere Erinnerungen und Ideen auskramten und aufschichteten, als ob wir Schätze zählten – Reichtumsfreude erfüllte uns. Reich an gemeinsamen, merkwürdigen Erinnerungen waren wir ja, reich an übereinstimmenden Begriffen und überreich an ineinanderströmenden Gefühlen der nimmer erkaltenden Zärtlichkeit, des nimmer wankenden Vertrauens.

Und am anderen Tage kehrten wir wieder unter Menschen zurück – als ob nichts geschehen wäre.

Mit den kaukasischen Freunden waren wir in Korrespondenz geblieben; Murats waren noch immer in Zugdidi, Prinz Niko lebte meist in Petersburg. Von Prinz André Dadiani kam eines Tages ein Brief aus Wien: er sei auf der Durchreise da, und ob er uns besuchen könne. Wir hatten eben auch in Wien zu tun – nämlich eine Festversammlung des Friedensvereins abzuhalten – bei welcher[235] u.a. auch Peter Rosegger und der Hofschauspieler Lewinsky Vorträge hielten. Ich schrieb daher dem Prinzen, er möge in die Versammlung kommen, was er denn auch tat. Nach den Vorträgen blieb die Gesellschaft beim Souper zusammen, woran unser kaukasischer Freund auch teilnahm. Das alles mag dem russischen Offizier, der bei Kars gefochten, vielleicht etwas – spanisch vorgekommen sein, er erklärte sich aber mit meinen Zielen und Bestrebungen ganz einverstanden. Ob aus Höflichkeit oder Ueberzeugung – das lasse ich dahingestellt. Am folgenden Tage nahmen wir ihn nach Harmannsdorf mit, wo er einige Zeit unser Gast blieb.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 232-236.
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