45. Friedenskongreß in Antwerpen und Interparlamentarische Konferenz im Haag

[308] Als das wichtigste Erlebnis des Jahres 1894 hat sich mir unsere Teilnahme an dem sechsten Friedenskongreß in Antwerpen und an die unmittelbar darauffolgende Interparlamentarische Konferenz im Haag ins Gedächtnis geprägt. Wieder eine Festreise in unbekannte Länder und wieder eine Etappe weiter auf dem Eroberungszuge der Idee.

Vor Zusammentritt des Kongresses unterbreitete der belgische Staatsminister Le Bruyn dem König Leopold einen Bericht, worin er des auffallenden Anwachsens der Bewegung gedachte und als Beweis dafür die Tatsache anführte, daß in Ländern, die sich bisher der Bewegung abhold gezeigt haben – wie Oesterreich und Deutschland –, große Friedensgesellschaften ins Leben gerufen wurden, die fruchtbaren Boden gefunden haben. Die Antwort des Königs auf diesen Bericht befahl die Einsetzung einer Kommission, welche die Aufgabe erhielt, die Arbeiten des zu Antwerpen tagenden Friedenskongresses zu fördern. Die Kommission, die aus dreißig Mitgliedern bestand, wies die hervorragendsten Namen Belgiens auf, darunter zum großen Teile offizielle Persönlichkeiten der Regierung.

Am 20. August, im großen Saal des Athenäums, fand die Eröffnungssitzung statt. Wir waren schon am Tage zuvor angekommen[308] und hatten uns die Handelsmetropole Belgiens ein wenig besichtigt, hatten auch mit mehreren unserer aus allen Weltgegenden hergereisten Freunde den Abend im geselligen Beisammensein zugebracht. Auch unser neuer Präsident, Houzeau de Lehaye, war darunter. Ein lebhafter, witziger, über hinreißende Beredsamkeit verfügender kleiner Herr. Mit Takt und Festigkeit hat er als Vorsitzender die Verhandlungen geleitet, und wo immer er bei den folgenden Kongressen als Teilnehmer das Wort ergriff, was er besonders dann zu tun pflegte, wenn irgendwelche Gegensätze auszugleichen waren, konnte man sich auf seinen Takt verlassen.

»Es sind nun vierundzwanzig Jahre her,« erzählte uns Houzeau an jenem ersten Tage, »daß ich das Schlachtfeld von Sedan besuchte. Ich habe die Eindrücke noch vor Augen ... diese Leichen, diese Momentgräber, diese Züge von Raben ... die Rudel toller Pferde, über die Ebene rasend – die todgeweihten Verwundeten in ihrem Blute liegend – die Zähne fest geschlossen im Wundstarrkrampf, die Kolonnen Kriegsgefangener, die Haufen durcheinander geworfener Waffen – und inmitten eines Grasfleckens die Blechinstrumente einer Militärmusik, überrascht vom Feinde im besten Schwung des Säbelliedes aus der ›Großherzogin von Gerolstein‹; – und weiße Briefbogen sah ich da, wohl die mit naiver Zärtlichkeit beschriebenen Blätter der Mütter und der Bräute – der Herbstwind machte sie umherflattern, bis sie in den Blutlachen untergingen; – und die entsetzliche Vision von dem Gemenge von Knochen und blutendem Fleisch – alles in den Schlamm getreten ... Aus den Dörfern waren die Bauern über die benachbarte Grenze geflohen und kehrten nun langsam zurück, Ruinen und Elend zu finden, dem sie nachträglich unterliegen sollten – und das,« so fügte er diesen Reminiszenzen mit verhaltener Entrüstung hinzu, »soll die Summe der Zivilisation sein?!«

Houzeau de Lehaye ist ein entschiedener Anhänger der Handelsfreiheit. In seiner Eröffnungsrede, in der er die Irrtümer und Vorurteile auseinandersetzte, die der Verteidigung der Kriegsinstitution zugrunde liegen, sagte er:

»Es gibt noch einen anderen Irrtum, welcher zwar nicht den brutalen Kampf mit Säbel und Kanone entfesselt, aber dessenungeachtet nicht viel weniger unheilvoll ist. Trotz aller Gegenbeweise der Oekonomisten, trotz der wiederholten, auf Erfahrung beruhenden Resultate – wie sehr ist es doch noch verbreitet, das Vorurteil, daß eine Nation verarmt, wenn das Gedeihen der Nachbarvölker zu rasche Fortschritte macht. Und um ein eingebildetes Gleichgewicht[309] aufrechtzuerhalten, beeilt man sich, seine Zuflucht zu den Zolltarifen zu nehmen. Und dieser Krieg der Tarife ist nicht minder tötend als der andere. Durch gerechte Vergeltung verwundet diese Waffe meistens denjenigen, der sie schwingt. Und alle diese Irrtümer haben ihren Grund in der falschen Auffassung der Quelle des Reichtums und der Wohlhabenheit. Es gibt nota bene nur eine einzige: Die Arbeit!«

Man sollte meinen, daß so einfache Wahrheiten nicht erst ausgesprochen werden müßten, denn es ist doch klar, daß der Reichtum nur aus der Erzeugung von Gütern vermehrt werden kann und nicht durch den Platzwechsel – aus der Tasche des Paul in die Tasche des Peter; eine Transaktion, die noch dazu häufig die Vernichtung der hin und her geschobenen Werte bedeutet. Aber je einfacher, je selbstverständlicher eine Wahrheit, desto mehr ist sie von den Schleiern und Dünsten alter Vorurteile und landläufigen Phrasenwerks verhüllt, und darum tut es so wohl, sie wieder einmal so rückhaltlos und klar aussprechen zu hören.

Diesmal war auch ein Portugiese auf dem Kongreß: Magelhaes Lima, der Herausgeber des radikal-liberalen Blattes »O Seculo«; aus Amerika Dr. Trueblood, der bei keinem der europäischen Friedenskongresse gefehlt hat.

Eine schöne Fahrt durch die Schelde ist mir erinnerlich auf einem uns von der Regierung zur Verfügung gestellten Dampfer. Dann eine Fahrt nach Brüssel zwischen zwei Sitzungen. Eine Deputation von fünf Kongreßmitgliedern nämlich, unter Führung Houzeaus, wurde vom König Leopold in Audienz empfangen. Frédéric Passy, Graf Bothmer aus Wiesbaden, mein Mann und ich bildeten die Deputation. Wir fuhren von der Eisenbahn zum Königsschloß. Im Audienzsaal trat uns der König entgegen – von weitem schon kenntlich an seinem langen viereckigen weißen Bart –, und Houzeau stellte die übrigen vor. An alles, was gesprochen wurde, erinnere ich mich nicht mehr – ist auch wahrscheinlich nicht von Belang. Ich weiß nur, daß der König mit Houzeau de Lehaye auf sehr jovialem Fuß zu stehen schien, denn er klopfte ihm ein paarmal lachend auf die Achsel. An das eine Wort erinnere ich mich, das König Leopold uns sagte:

»Der Souverän einer dauernd neutralen Nation, wie die belgische, muß sich selbstverständlich für die Frage der internationalen Friedfertigung interessieren. Aber natürlich,« fügte er hinzu (und damit war »natürlich« alles früher Gesagte wieder aufgehoben), »zum Schutze dieser Neutralität muß gerüstet werden!«[310]

»Daß die Sicherheit der Verträge auf Recht und Ehrlichkeit beruhe und nicht auf Waffengewalt, das ist's, wohin in unserer Mitte gearbeitet wird, Majestät!« antwortete einer von uns.

Houzeau wartete nicht auf Entlassung, sondern gab selber das Zeichen zum Aufbruch: »Die Eisenbahn wartet nicht – die kennt keine Etikette,« sagte er. Da gab es wieder eine königliche Tape d'amitié auf unseres Präsidenten Achsel: »Sie kümmern sich überhaupt wenig um Etikette, mein lieber Houzeau ...«

Unmittelbar nach dem Antwerpener Kongreß ward die Interparlamentarische Konferenz eröffnet, die dieses Jahr – von der niederländischen Regierung eingeladen – im Haag tagte. Da wir keine Parlamentarier waren, so hatten wir eigentlich keinen Anspruch gehabt, beizuwohnen, aber Minister van Houzeau hatte schon unterm 23. Mai das folgende Schreiben an mich gerichtet:


Werte Baronin!


Wegen meiner Ernennung als Minister bin ich aus dem Organisationskomitee der Interparlamentarischen Konferenz ausgetreten, doch hoffe ich, als Vertreter der Regierung der Konferenz im September ein Willkommen zuzurufen. Der beschränkte Raum im Sitzungssaal wird nur erlauben, eine kleine Anzahl Gäste und Vertreter der Presse zuzulassen. Zweifelsohne wird jedoch das Komitee einer so hervorragenden Vertreterin der Friedenssache in erster Linie einen Platz sichern. Es wird mich freuen, Sie im September hier zu begrüßen wie auch Ihren Herrn Gemahl und auch unseren Freund Pirquet und womöglich mehrere aus Ihrem Lande.

Unsere freundliche Stadt mit ihrem herrlichen Seestrand wird den Besuchern erlauben, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, und der schon zugesagte Besuch mehrerer hervorragender Männer wird der Konferenz, an welcher unsere beiden Kammerpräsidenten sich beteiligen, hoffentlich ermöglichen, sich auch in Beziehung auf praktische Förderung der internationalen Arbitrage fruchtbar zu gestalten.

Mit freundschaftlichem Gruß Ihr ergebener

S. van Houzeau.


So war uns denn Gelegenheit geboten, den denkwürdigen Debatten jener Haager Volksvertreterkonferenz beizuwohnen, welche die Vorläuferin und – man kann sagen – Anregerin der späteren Haager Regierungskonferenzen geworden ist.

Am Tage vor der Eröffnung, also am 3. September, war Empfang in der Rotunde des Zoologischen Gartens. Hier fanden sich die Teilnehmer und die Gäste zusammen. Der Präsident der Konferenz,[311] Rahusen, hielt eine Ansprache an die fremden Parlamentarier, aus welcher ich mir folgende Sätze ins Notizbuch ein trug:


»Wenn wir die Grenzen unseres Landes überschreiten, dünken wir uns etwa in Feindesland? Haben Sie Aehnliches empfunden, als Sie hierherkamen? Ich glaube mich verbürgen zu können: Nein.«

»– – – Es ist ein Phänomen unserer Zeit, daß es eine Solidarität zwischen den Völkern gibt, die es früher nicht gab – –«

»– – ich weiß es wohl, es gibt noch Leute, die solche Ideen verspotten; freuen wir uns indessen, daß niemand diese Ideen verdammt – –«

»– – das Morgenrot der internationalen Gerechtigkeit stellt zugleich den Untergang der alten Kriegssonne dar. Wenn die letzten Strahlen dieser Sonne – die, altersschwach, ihr Licht und ihre Wärme schon verloren hat – einst gänzlich erlöschen wird,15 so wird dies uns, oder die nach uns kommen, mit Jubel erfüllen, und man wird staunen, daß die zivilisierte Welt noch die rohe Gewalt als Richterin zwischen Nationen anrufen konnte, die nicht länger feindlich waren, sondern die von so vielen gemeinsamen Banden umschlungen sind.«


Nach diesem offiziellen Teil des Abends begab sich die Gesellschaft ins Freie, wo sich die Freunde, teils promenierend, teils an den um die Rotunde aufgestellten Tischen wiederfanden und plaudernd bis Mitternacht beieinander blieben.

Am folgenden Morgen, um zehn Uhr, die Eröffnung im Sitzungssaal der Ersten Kammer der Generalstaaten. Kein sehr großer, aber haushoher Saal mit herrlichen Deckengemälden. Ich hatte einen Platz auf der Galerie und genoß den feierlichen Anblick, wie die Vertreter von vierzehn verschiedenen Parlamenten sich einer nach dem anderen an den mit grünem Tuch bedeckten Tischen niederließen, während auf der Präsidiumsestrade die Mitglieder der Regierung Platz nahmen, welche die Konferenz begrüßen sollten. Als erster sprach der Minister des Innern van Houten: »– Es gibt keine Sache auf der ganzen Welt,« sagte er, »welche derjenigen, die hier verfochten werden soll, an Größe gleichkommt –«

Bei diesem Wort muß ich einen Augenblick verweilen. Es drückt aus, was den Untergrund meines damaligen (und noch heutigen) Empfindens, Denkens und Strebens abgab, und damit erklärt[312] sich, warum in diesem zweiten Teil meiner Lebenserinnerungen die Phasen der Friedensbewegung einen so breiten Raum einnehmen. »Es gibt keine Sache in der ganzen Welt, die dieser an Größe gleichkommt« – ich behaupte nicht, ich zitiere –, das ist eine Ueberzeugung, die so tief und andächtig in mir ruht (man pflegt das Vokation zu nennen), daß ich sie nicht oft und laut genug bekennen kann. Wenn ich auch ganz gut weiß, daß neun Zehntel der gebildeten Welt die Bewegung noch geringschätzen und ignorieren – und eines dieser Zehntel sie sogar befeindet – das tut nichts – ich appelliere an die Zukunft. Das zwanzigste Jahrhundert wird nicht zu Ende gehen, ohne daß die menschliche Gesellschaft die größte Geißel – den Krieg – als legale Institution abgeschüttelt haben wird. Ich habe bei meiner Tagebuchführung die Gewohnheit, bei Eintragung von Situationen, die drohend oder verheißend sind, ein Sternchen zu machen, ein paar Dutzend weißer Blätter umzuschlagen und dorthin zu schreiben: Nun, wie ist es gekommen? Siehe S. –.* Dann, wenn ich beim Weiterschreiben ganz unvermutet auf diese Frage stoße, kann ich sie beantworten. Und so frage ich hier einen viel, viel späteren Leser, der diesen Band vielleicht aus verstaubtem Bodenkram hervorgeholt hat: »Nun, wie ist es gekommen, hatte ich recht?« Der möge dann auf den Rand die Antwort schreiben – ich sehe die Glosse schon vor mir: »Ja, Gott sei Dank!« (19??).

Und nun zurück nach dem Haag, 1894. Der erste Verhandlungstag brachte nichts besonders Bemerkenswertes. Dafür der zweite! Wer den Bericht darüber mit kritisch-historischem Sinn liest, kann den Grundriß des nachmaligen Haager Tribunals erkennen, das freilich heute selber auch nur ein Grundriß dessen ist, was da werden soll. – Erreichte Zielpunkte? Die braucht der Entwicklungsgläubige nicht für seine Zuversicht – die eingeschlagene Richtungslinie genügt.

In höchster Spannung, wie im Theater, wenn ein interessantes Gastspiel auf dem Zettel steht, nahm ich meinen Sitz auf der Galerie ein. Die Tagesordnung lautete: »Vorbereitung eines Organisationsplanes eines internationalen Schiedsgerichtstribunals.« Berichterstatter: Stanhope.

Ein neuer Mann: The Right Honourable Philipp Stanhope, jüngerer Bruder des Lord Chesterfield und intimer Freund des Grand old man: Gladstone. Im direkten Auftrage Gladstones war Stanhope zur Konferenz gekommen, um dieser das Ergebnis des 16. Juni 1893 zu unterbreiten, wo im englischen Unterhause der Antrag Cremers durchging, an welchen der Premier, indem er ihn unterstützte,[313] den Ausspruch knüpfte: Die Schiedsgerichtsverträge seien nicht das letzte Wort zur Sicherung des Weltfriedens – ein ständiges Zentraltribunal, ein hoher Rat der Mächte – habe eingesetzt zu werden.

Unter lautloser Aufmerksamkeit der Versammlung begann Stanhope seine Rede. Er spricht im reinsten, beinahe akzentlosen Französisch. Und spricht bei aller ruhigen Klarheit mit solchem Feuer, daß er oft von Beifallsrufen unterbrochen wird. – Nachdem er den Vorschlag Gladstones auseinandergesetzt, führte er aus:


Unsere Aufgabe ist es nun, diese Forderung mutig vor die Regierungen zu bringen.

Alles, was bis jetzt an sogenanntem Völkerrecht besteht, ist ohne eigentliche Grundlage gewesen, auf Zufälle, auf Präzedenzfälle, auf Entscheidungen von Fürsten aufgebaut. Daher das Völkerrecht diejenige Wissenschaft ist, welche die wenigsten Fortschritte gemacht und eine widerspruchsvolle Anhäufung von unbestimmten Papierfloskeln (de paperasses vagues) darstellt.

Zwei große Notwendigkeiten liegen vor den zivilisierten Völkern: Ein internationales Tribunal und ein Kodex, der dem modernen Geist entspricht und sich elastisch den neuen Fortschritten fügen könnte. Damit wäre der Triumph der Kultur erreicht und die verbrecherische Zuflucht zum Massentotschlag abgeschnitten.

Wie die Dinge heute stehen, werden in jedem Parlamente neue Militärkredite gefordert, und wir werden von der Presse zur Bewilligung gepeitscht.16 Anders wäre es, wenn wir antworten könnten: Die Gefahren, gegen welche die verlangten Rüstungen uns schützen sollen, würden durch das von uns verlangte Tribunal beseitigt. Darum soll ein Projekt ausgearbeitet werden, das wir den Regierungen vorlegen könnten –


Hierauf entwickelte Stanhope einige Punkte, die der Konstituierung zugrunde zu legen waren, und schloß mit den Worten:


Wenn wir im künftigen Jahr uns den Regierungen mit einem solchen Plan nähern und wenn dabei unsere Aktion eine parallele wäre, so würde uns die Zukunft den Sieg bringen; jedenfalls aber wäre uns der moralische Sieg gesichert, unsere ganze Pflicht getan zu haben.


Nun entspann sich eine Debatte. Der deutsche Abgeordnete Dr. Hirsch (von Anfang an bis heute haben die Deutschen bei den Friedenskonferenzen das Amt des Bremsens geübt) spricht – bei[314] aller Anerkennung für die so beredt vorgebrachten edeln Ideen Stanhopes – gegen dessen Antrag. Es sei für die Mitglieder der Konferenz nötig, nur greifbare, ausführbare Anträge zum Beschluß zu erheben, welche den Parlamenten mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Annahme vorgelegt werden könnten; nun würde aber Herr von Caprivi sicher nie den Vorschlag eines internationalen Tribunals auch nur in Erwägung ziehen. Auch müsse man vermeiden, durch derlei Pläne den Fluch der Lächerlichkeit auf sich zu laden, die Gegner seien nur zu sehr geneigt, die Konferenzbesucher als Träumer zu verspotten.

Houzeau de Lehaye springt von seinem Sitze auf wie ein Teufelchen aus der Schachtel:


»Angesichts so großer Gesinnungen,« ruft er, »wie der soeben entwickelten, angesichts der Begründung einer Sache durch Männer wie Stanhope und Gladstone darf das Wort ›lächerlich‹ überhaupt nicht mehr ausgesprochen werden! (Beifall.) Ich unterstütze den Antrag.«


Jetzt erhebt sich der ehrwürdige Passy:


Ich möchte noch gegen ein zweites Wort protestieren, das mein verehrter Freund Dr. Hirsch angewendet hat: das Wort nie. Es ist noch gar kein großer Fortschritt, gar nichts Neues überhaupt zur Geltung gekommen, von dem nicht anfänglich behauptet worden wäre, es könne nie geschehen. Daß zum Beispiel Parlamentarier aus allen Nationen zusammentreten, um über den Weltfrieden zu verhandeln, daß sie in dem Sitzungssaale der Ersten Kammer eines monarchischen Staates dies tun – wer hätte auf die Frage vor fünf Jahren, wann solches sich zutragen wird, nicht geantwortet: Nie!


Und in der Tat – Passy hatte zufällig dieselbe Ziffer genannt – fünf Jahre später, am 29. Juli 1899, ward das internationale Tribunal eingesetzt, in derselben Stadt, wo dessen von Gladstone angeregter Plan auf den Tisch gelegt worden war. Das »Nie« des Dr. Hirsch hat nicht lange vorgehalten. Freilich besitzt dieses Tribunal noch nicht den obligatorischen Charakter – die bei Einsetzung desselben mittätigen Bremser hatten dafür gesorgt, daß ihm dieser Charakter nicht verliehen werde. Und alle, die an der Kriegsinstitution hängen, sind auch überzeugt, daß dies nie geschehen wird.

Noch mehrere Redner stimmten für den Antrag, und schließlich wurde er mit Akklamation zum Beschluß erhoben.

Ich fühlte mich tiefbewegt – ebenso der Meine, der mir zur Seite saß; wir tauschten einen stummen Händedruck.[315]

Man wählte nun die Mitglieder, welche mit der Abfassung des Planes, welcher der nächstjährigen Konferenz vorgelegt werden sollte, betraut wurden.

Dieser Plan – ich nehme die Ereignisse vorweg, um darzutun, daß jener Sitzungstag wirklich ein historischer Tag gewesen –, dieser Plan ist der Konferenz von 1895 (Brüssel) vorgelegt, von ihr genehmigt, an sämtliche Regierungen versendet worden und hat sicherlich auf die 1898 erfolgte Einberufung der Haager Konferenz eingewirkt und der Errichtung des dortigen permanenten Schiedsgerichtshofs und seiner Statuten als Grundlage gedient.

Noch eine Sensation brachte jene Sitzung. Nachdem der Antrag Stanhope erledigt war, betrat Randal Cremer die Tribüne. Lauter Applaus begrüßte ihn. Er war es ja, der mit Frédéric Passy der Schöpfer der interparlamentarischen Konferenzen war, der in Sachen des englisch-amerikanischen Schiedsgerichtsvertrags zuerst in seinem Lande die Unterschriften gesammelt hatte und dann über den Ozean gereist war, und dem es endlich gelang, den Antrag an dem famosen 16. Juni 1893 mit Hilfe Gladstones zum Beschluß erheben zu lassen. Seine Redeweise ist einfach, schmucklos – er verleugnet nicht den einstigen Arbeiter. Nach der Sitzung, in den Couloirs kommt er auf uns zu und teilt uns mit, daß er vor seiner Abreise mit Lord Rosebery gesprochen; daß er bei der Konferenz nicht hätte wiederholen dürfen, was ihm der Premier gesagt hatte, doch sei es das Ermutigendste gewesen, was man nur sagen kann. Seine Zuversicht teilte sich uns mit.

Das Schlußbankett fand im Kursaal von Scheveningen statt. Das Orchester spielte sämtliche Nationalhymnen der Reihe nach. Ich saß zwischen Rahusen und Houzeau. Stanhope hielt eine außerordentlich fein pointierte und der alte Passy eine feurig-hinreißende Rede. Ich mußte auch sprechen. Auf der Esplanade wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Die Schlußapotheose desselben bildete ein in Lichtlettern glühendes: »Vive la Paix«, über dem ein Genius mit einem Palmenzweige strahlte.

Was dachten wohl die promenierenden und gaffenden Kurgäste dabei? Vermutlich nichts; und hatten nicht so unrecht damit, denn was bleibt von den verhallten Worten, den Bankettoasten, was von den Garben abgebrannter Feuerwerke? – – Nichts! – Von tiefer her müssen die Wirkungen kommen, durch welche die Zeiten sich verändern ...[316]

15

Wie sengend heiß sollten diese Strahlen doch noch brennen in Transvaal und in der Mandschurei! (Anmerkung von 1908. B. S.)

16

Das geschieht heute noch ebenso. (1908. B. S.)

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 308-317.
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