49. VII. Weltfriedenskongreß und VII. Interparlamentarische Konferenz in Budapest

[348] Nun bereiteten wir uns vor, nach Budapest zu fahren, wo – während der Millenniumsfeier – der VII. Weltfriedenskongreß und die VII. Interparlamentarische Konferenz abgehalten werden sollten.

Als Vorsitzender des Kongresses war General Türr bestimmt. Am 26. August überraschte uns eine Depesche Türrs mit der Ansage seines Besuches in Harmannsdorf. Er war von Rom in Wien angelangt, und ehe er seine Reise nach Budapest fortsetzte, wollte er ein langgegebenes Versprechen einlösen und uns in unserem Heim aufsuchen.

Es war uns eine große Freude, und um diese auszudrücken, bereiteten wir einen feierlichen Empfang. Vor der Schloßeinfahrt ward ein reisiggeschmückter Triumphbogen aufgestellt mit der Inschrift »Willkommen, Stephan Türr«, und als der Wagen, der ihn von der Station brachte, wohin ihm der Meine entgegengefahren war, nahte, stimmte unser Jägerspalier eine Fanfare an. Türr freute sich über den Scherz. Damals schon einundsiebzig Jahre alt, war er so frisch und martialisch und elastisch in seinem Wesen, als zählte er deren höchstens fünfzig. Er machte bei uns auch noch eine Eroberung. Von mir gar nicht zu reden – aber unsere zweiundzwanzigjährige, hübsche Nichte Maria Louise war so entzückt von ihm, daß sie einen anwesenden Vetter, der ein Maler ist, bat, für sie ein lebensgroßes Porträt des schönen alten Kriegers zu malen. Das Bild wurde gemacht, und sie hing es in ihrem Mädchenzimmer auf.

Mein Tagebuch trägt folgende Eintragung vom 26. August: »Beim Aufstehen finde Depesche von Türr. Rückdepesche und Vorbereitungen. Um vier Uhr Ankunft. Viel Spaß über Triumphpforte, Fahnen und Fanfaren; sieht prächtig aus. Zuerst im Billardzimmer lange Gespräche über Kongreß. Noch viel zu tun zur Vorbereitung – aber das meiste durch seine Konnexionen und seinen Einfluß schon angebahnt – viel Entgegenkommen von der Regierung. Diner mit der ganzen Familie. Dann schwarzer Kaffee im Garten. Sehr interessante Erzählungen. Im ganzen ist er voll Heiterkeit, Güte und Geist ... das scheinen doch die vorzüglichsten Menschen zu sein, die ein paarmal zum Tode verurteilt worden sind.«

Von den Anekdoten, aus seinen Erlebnissen, die er in seine Unterhaltung mischte, habe ich nachträglich einige in Schlagworten[348] notiert: Im Jahre 1868 war er im Auftrage des Königs Viktor Emanuel, dessen Generaladjutant er war, nach Wien gekommen, um dem Kaiser Franz Joseph eine Botschaft zu bringen: »Sagen Sie dem Kaiser, daß er an mir nicht nur einen guten Verwandten, sondern auch einen guten Freund hat.« Türr erzählte, wie freundlich der Kaiser die Botschaft und den Boten aufgenommen – obwohl dieser einmal als Revolutionär in Acht und Bann gewesen.

Auf Bismarck ist Türr nicht gut zu sprechen. Aus seinen Gesprächen mit dem Kanzler erzählte er folgende Aeußerungen des letzteren: »Ich habe nach dem Souper den Rechberg dazu gebracht, sich von mir Lauenburg abkaufen zu lassen – ich wollte beweisen, daß dieser Oesterreicher sogar das verkaufen würde, wozu er kein Recht hat.« Und ein anderes Mal: »Es ist mir nicht recht gelungen, meinen König zu überzeugen, daß wir gegen Oesterreich Krieg führen müssen – aber bis zum Rande des Grabens habe ich ihn schon geführt ... jetzt muß er springen.« – Mit einem Chinesen sprach Türr einmal über Zivilisation. »Wissen Sie,« bemerkte der Mann aus dem Reiche der Mitte, »das ist ja ganz schön, euer liberté, fraternité, égalité – aber man braucht noch ein viertes –«

»Und das wäre?«

»Einen Harmonisateur.«

»Was ist das?«

Der Chinese mit der Geste der Prügelstreiche: »Le Bambou.« – Türr ist auch ein wenig der Ansicht, daß es gut wäre, wenn man den Menschen einiges von ihren Bosheiten, namentlich von ihrer Dummheit wegprügeln könnte. La bêtise humaine est in-com-men-su-ra-ble ... und das Wort ist noch zu kurz! ... »Ach Götter, schneidt's Bretter!« Mit diesem resignierten Seufzer pflegte er seine Betrachtungen über diese oder jene unermeßliche Dummheit unter den Menschen abzuschließen.

Aus seinem Soldatenleben erzählte er uns so manches. Er war schon über die fünfzigste Jahreswende seiner militärischen Laufbahn hinaus, denn er war im Jahre 1842 in den Dienst getreten. In diesem halben Jahrhundert hatte er so viel Entsetzliches auf den verschiedensten Schlachtfeldern gesehen, daß er darum ein Feind des Krieges geworden.

»Es war im Mai des Jahres 1860. Wir zogen mit den tausend Helden Garibaldis gegen Palermo ... in der Nähe des Marktfleckens Partenios ward uns ein Anblick, der die Entschlossensten unter uns mit Grauen erfüllte. Am Straßensaume lag ein Dutzend Leichen von Bourbonensoldaten, an denen eine Horde Hunde[349] nagte ... Wir traten näher und sahen, daß die Soldaten versengt waren. Garibaldi gab seinem Unwillen darüber in einem fürchterlichen Zornesausbruch Ausdruck. Er konnte es kaum erwarten, daß er in das Städtchen komme. Die Einwohnerschaft empfing ihn mit Freude, er aber schrie die Jauchzenden mit vor Zorn zitternder Stimme an:

»›Ein barbarisches Treiben sah ich hier – so unmenschlich dürfen die Anhänger der Freiheit nicht wüten ...‹ Die Leute hörten in tiefer Stille den Entrüstungsausbruch des Generals. Endlich trat einer vor und sagte: ›Wir müssen erkennen, daß wir unrichtig gehandelt haben, aber ehe Sie uns verurteilen, hören Sie, was hier geschah – vielleicht finden Sie unser Vorgehen begreiflich ...‹ Und das Volk führte den General vor eine Häusergruppe. In vier bis fünf Häuser führte man Garibaldi hinein und zeigte ihm da eine Schar Frauen, Kinder, die alle versengt, zu Kohle verbrannt waren: ›Das haben die Bourbonensoldaten getan,‹ schrien sie. ›In diese Häuser trieben sie die Frauen und Kinder, zündeten die Häuser an und ließen niemand heraus. Sie bewachten die Tore, bis die Unglücklichen in den Flammen mit dem Tode kämpften. Wir hörten das Wehgeschrei und eilten hin. Aber es war schon zu spät ... In unserer Erbitterung konnten wir für die unschuldigen Opfer nur so Rache nehmen, daß wir die Ungeheuer auch ins Feuer warfen und auf die Straße brachten.‹«

Türr erzählte uns auch von dem Dokument, das Garibaldi nach dem Ende des Feldzuges an alle Staatsoberhäupter Europas sandte, um sie aufzufordern, einen Friedensbund zu schließen. Die Sache blieb unbeachtet und allgemein unbekannt. Was sich davon erhalten hat, ist nur die Bemerkung im Konversationslexikon unter dem Namen Garibaldi: »Tapfer, patriotisch, uneigennützig, gutmütig, aber ohne tiefere politische Einsicht, Phantast.« Eigentlich war Türr der Anreger zu jenem Versuch gewesen. »Eines Abends in Neapel (ich gebe wieder General Türr das Wort) war ich mit Garibaldi auf dem Erker. Der General beobachtete seiner Gewohnheit gemäß den prachtvoll gestirnten Himmel. Lange schwieg er, endlich sagte er:

»›Lieber Freund, wir haben wieder nur eine halbe Arbeit vollbracht. Weiß Gott, wie viel Blut noch vergossen wird, bis Italiens Einheit zustande kommt.‹

»›Mag sein ... aber der Herr General kann mit dem großen Resultat zufrieden sein, das wir in sechs Monaten erreicht haben. Das viele Blutvergießen könnte vermieden werden, wenn in den[350] Herrschern bessere Einsicht Platz greifen würde ... Wenn, soweit es möglich ist, zwischen den europäischen Staaten eine Vereinbarung zustande käme – wenn verwirklicht würde, was Heinrich IV. und Elisabeth, Königin von England, schon vor Jahrhunderten träumten und was Minister Sully so schön beschrieb ... wer weiß, ob die edle Idee des Königs nicht schon damals verwirklicht worden wäre, wenn ihn nicht der Dolch eines Fanatikers getroffen hätte ... Jetzt wäre die Zeit zur Ausführung gekommen, um Europa vor noch ungeheuern Metzeleien und Schlachten zu bewahren. Herr General, Sie haben eine große Arbeit vollbracht – Sie wären besonders dazu berufen, an die Herrscher und an die Völker im Interesse des Friedens und der Vereinigung einen Aufruf zu richten.‹

»Wir sprachen noch lange darüber – und schon am nächsten Morgen brachte Garibaldi den Aufruf, den wir mit einigen Modifizierungen an die Mächte verschickten. Diesen Aufruf habe ich seither oft abdrucken lassen. Wo sich Gelegenheit bot, war ich bestrebt, die Machthaber und das große Publikum an die erhabenen Ideen Garibaldis zu erinnern. Und jetzt, da sich anläßlich der Tausendjahrfeier die Friedenskämpfer und die Volksvertreter versammeln, werde ich die begeisterten Mahnworte des unvergeßlichen Feldherrn wieder vorbringen. Es wird nicht uninteressant sein – inmitten der konservativen Strömungen –, die von reinster Menschenliebe diktierten Ideen der sogenannten ›Revolutionäre und Umstürzler‹ zu hören, die gar nichts anderes umstürzen wollten als die vor der Freiheit und vor dem Fortschritt sich erhebenden Dämme

General Türr holte aus der Tasche ein Exemplar des Garibaldischen Aufrufs hervor und übergab es mir. Es ist ein interessantes Dokument, und man ersieht daraus, wie Gedanken, die man für ganz neue hält, schon vor vielen Jahren vorausgedacht worden und wie sie, wenn auch laut verkündet, wieder der Vergessenheit anheimgefallen sind. Immer wieder und immer wieder müssen sie – wie etwas Neues – überraschend auftauchen, bis daß sie endlich zum Gemeingut werden.

In dem Aufruf weist Garibaldi auf die ungeheuerlichen Rüstungen der sechziger Jahre hin (was würde er erst heute sagen!); er beklagt es, daß mitten in der sogenannten Zivilisation wir unser Leben damit ausfüllen, uns gegenseitig zu bedrohen. Er schlägt ein Bündnis aller europäischen Staaten vor – da gäbe es dann keine Land- und Seestreitmächte mehr (daß wir jetzt auch noch Luftflotten anfertigen – das sah er nicht voraus), und die ungeheuern Kapitalien, die[351] man den Bedürfnissen des Volkes entzieht für unproduktive, todbringende Zwecke, könnte man gütervermehrenden und lebenerhöhenden Zwecken zuführen; diese letzteren werden dann aufgezählt. Auch auf die möglichen Einwendungen erteilt das Dokument die erforderlichen Antworten: »Was macht man mit den vielen Leuten, die im Heere und in der Marine dienen?« – »Die Herrscher müßten, wenn ihr Geist nicht mehr von den Ideen der Eroberungen und Verwüstungen absorbiert wäre, gemeinnützige Institutionen studieren ... infolge des Aufschwunges der Industrie, der größeren Sicherheit des Handels müßte die Handelsmarine bald das ganze Personal der Kriegsmarine in Anspruch nehmen; die durch den Frieden, das Bündnis und die Sicherheit zustande gekommenen ungeheuern, zahlreichen Schöpfungen und Unternehmungen müßten doppelt so viele Menschen beschäftigen, als in den Armeen dienen.«

Der Aufruf schließt mit warmen Worten an die Adresse der Fürsten, denen »der heilige Beruf übertragen ist, Gutes zu tun, und die höher als die ephemere, falsche Größe die wahre Größe schätzen, deren Fundament die Liebe und die Dankbarkeit der Völker wäre«.

General Türr fuhr noch am selben Abend nach Wien zurück und von da am nächsten Tage nach Budapest, wo er die mühsamen Vorbereitungen zum Kongresse zum Abschlusse brachte.

Zwei Tage vor Eröffnung fuhren wir drei dahin. Ich sage wir drei – wir nahmen unsere Nichte Maria Louise mit; sie sollte die Freuden dieser Reise und der geselligen Feste mitgenießen.

Ich sehe uns am Bord eines Donaudampfers. Es war ein schöner, sonniger Septembertag. Wir waren eine ganze kleine Friedensbanda: Malaria, Dr. Kunwald, das Grollerpaar und Gräfin Pötting, »die Hex«. Von den ausländischen Freunden: Frédéric Passy; Gaston Moch und Frau; Yves Guyot, der Exminister, Herausgeber des »Siècle« und großer Freihändler vor dem Herrn; die Grelixe und Herr Claparède aus der Schweiz.

Da war schon ein kleiner Kongreß auf Deck; auch bei den Mahlzeiten blieb unsere Gesellschaft beisammen. An Preßburg vorbei, an Gran vorbei mit seinem stolzen bischöflichen Palast, und in Waitzen stieg eine Pester Deputation an Bord, die uns entgegengefahren – drei Mitglieder des Kongreßkomitees und mit ihnen ein Interviewer des »Pesti Naplo«. Es war schon Abend und alle Lichter brannten, als wir langsam in den Hafen einfuhren. Auf dem Landungsplatz standen wieder Komiteemitglieder – Direktor Kemény, der uns mit einer Ansprache begrüßte, und herum eine dichte Menge, die uns laute »Eljens« zurief. Die bereitstehenden Fiaker führten uns alle[352] in das Hotel Royal, wo schon General Türr und eine Anzahl anderer Kollegen uns erwarteten. Das war unser Ankunftstag, der 15. September. An der Hand meiner Tagebuchnotizen will ich nun die Budapester Kongreß- und Konferenzwoche vor meinem Gedächtnis Revue passieren lassen.

16. September. Den ganzen Morgen Interviewer. Leopold Katscher bringt mir Zeitungen und erzählt von den Vorbereitungsarbeiten. Lunch im Hotel Hungaria bei General Türr mit nur einigen Intimen. Besuche bei Karolyi, Banffy u.a. – Abends, also am Vorabend, alle Teilnehmer zu einem Empfang in den Prachtsälen des Hotel Royal eingeladen. Türr und Graf Eugen Zichy, der große Asienreisende, machen die Honneurs. Beim Souper verschiedene Reden: Pierantoni – Hünengestalt, Stentorstimme – spricht italienisch. Und spricht hinreißend, mehr als wäre er ein berühmter Rezitator denn ein berühmter Völkerrechtslehrer. Mache die Bekanntschaft des Berner Universitätsprofessors Dr. Ludwig Stein, dessen philosophische Feuilletons in der Presse mir schon seit langem Freude bereiteten. Frédéric Passy und Frédéric Bajer sprechen und auch »die Friedensfurie« muß heran.

17. September. Eröffnung im Beratungssaal des neuen Rathauses. Vor dem Tor, in der Eingangshalle und auf den Treppenstufen sind Panduren in betreßten und waffengeschmückten Uniformen aufgestellt. Das erinnert an den Empfang auf dem Kapitol. Gedrängt voller Saal. Dichtgefüllte Galerien. Auf der Tribüne nimmt Türr zwischen dem Minister des Innern und dem Oberbürgermeister Platz. Er hält eine kurze, markige Eröffnungsrede. (Eine Stelle daraus:)


Vor nicht langer Zeit gab es Fürsten und Edelleute, die einander bekriegten und über ihre Untertanen und Leibeigenen die Jurisdiktion übten. Wenn jemand ihnen seinerzeit gesagt hätte, es würde ein Tag kommen, wo man sie verhalten wird, ihre Differenzen vor einen Richter zu bringen, so hätten sie den Betreffenden für einen Schwärmer, einen Utopisten oder noch ärgeres erklärt.

Und nun sind diese großen Herren genötigt, vor dem Richter zu erscheinen, wo die gesamten Leibeigenen mit ihnen auf gleichem Fuß stehen.

Diese Umwandlung könnte sich auch in den Beziehungen der Mächte vollziehen, und dies um so leichter, als es sich hier nicht um zwei- bis dreihundert Fürsten und Tausende von Mitgliedern des hohen und niederen Adels handelt. Wir haben heute sechs Großmächte, und auch diese haben sich vereinigt – die einen in der Tripelallianz, die anderen in einem Freundschaftsbund, und alle zum Zweck der Wahrung des Friedens.[353]

Wohlan, es gilt nur noch einen Schritt zu tun.

Wenn sich diese zwei Gruppen vereinen, so werden sich die kleineren Staaten anschließen, und die freie Vereinigung der europäischen Mächte ist verwirklicht.


Nach der Sitzung werden die Kongreßteilnehmer in die Millenniums-Ausstellung geführt. – Die »Historische Ausstellung« ... tausend Jahre ungarischer Geschichte, von der primitiven Einfachheit der halbwilden Zeit des Arpad bis zu der raffinierten Industrie des hochentwickelten (eigentlich doch noch viertelwilden) Heute. Und wenn noch tausend Jahre ins Land gehen und wieder eine Ausstellung den Gang der Entwicklung darstellt, wird man da unter den Geräten vielleicht die kleinen Medaillen mit dem Worte »pax« darauf vorfinden, die wir alle als Abzeichen angeheftet haben? – Abends Gartenfest in Oes-Budavar – überall, wo die Paxtruppen vorübergehen, ertönen aus dem spalierbildenden Publikum herzliche Eljens.

18. September. Interessante Sitzung. Elie Ducommun verliest den Bericht über die Ereignisse des verflossenen Jahres. Zuerst die Fortschritte der Schiedsgerichte und die sonstigen Erfolge und Arbeiten der Liga. Dann ein Rückblick auf die kriegerischen Ereignisse in Aegypten, Abessinien, Kuba, Madagaskar – zuletzt die jüngsten Ereignisse in der Türkei. »Wer auch die Urheber der Greueltaten waren – jeder gesittete Mensch muß sie verurteilen, so wie er diejenigen verurteilen muß, welche die Greueltaten zuließen.«17

James Capper, der sympathische Engländer mit dem weißen Apostelkopf, mit der warmen, dröhnenden Stimme, verlangt das Wort. »Der Bericht des Zentralbureaus,« sagt er, »zeigt so recht die Lächerlichkeit des sogenannten bewaffneten Friedens ... Wie! Die vielen Heere, die schrecklichen Geschütze haben eigentlich die Bestimmung, Frieden zu stiften und zu erhalten – und sechs Millionen Soldaten haben nicht genügt, die Schändlichkeiten zu verhindern, welche sich im Orient ereignet haben. Man darf nicht zusehen, wie Mörder ein ganzes Volk niedertreten! Wenn ich auf der Gasse sehe, daß ein Kind von Spitzbuben angegriffen wird, so werde ich es für meine Pflicht halten, zum Schutze des Angegriffenen mit beiden Fäusten dreinzufahren, und wenn ich im Kampfe das Leben lassen müßte – ich täte es gerne!« Lautes Händeklatschen. – Wir fühlen alle: [354] das wäre legitime Anwendung der Gewalt: Beschützung der Verfolgten gegen Gewalt.

Ein junger französischer Priester, Abbé Pichot, stellt den Antrag, daß der Kongreß eine Adresse an den Papst sende, worin um dessen Unterstützung der Bewegung gebeten werde; es sei ihm bekannt, daß Leo XIII. die Friedenssache sehr am Herzen liege und daß ein von dieser Stelle ausgehendes Zustimmungswort von höchstem Nutzen wäre. Ich erhebe mich, um den Antrag zu unterstützen. Auch mir ist es bewußt, daß der Papst in letzterer Zeit öfter gegen die Rüstungen und für die internationalen Schiedsgerichte gesprochen hat; aber das ist nicht genügend bekannt geworden, weil diese Aeußerungen an einen russischen Publizisten und an einen Herausgeber des »Daily Chronicle« gerichtet waren. Die katholische Presse und die Kirche überhaupt haben jene Worte überhört, ebenso die ganze katholische Welt. Wie ganz anders wäre die Wirkung, wenn der Papst solche Betrachtungen direkt an die Millionen seiner Gläubigen richtete. Es sei also die ehrerbietige Bitte an ihn zu richten, seine den Friedensfreunden schon öfters gewährte Ermutigung in einer Enzyklika Ausdruck zu geben.

Jemand protestiert. Der Antrag müßte Andersgläubige, namentlich Freidenker, verletzen – es solle keine religiöse Tendenz eingeführt werden. Frédéric Passy klärt auf, daß es sich nicht um religiöse, sondern humanitäre Demonstrationen handle. Der Antrag wird angenommen. –

Abends Galavorstellung in der Oper: »Der Geiger von Cremona«.

Erhalte Brief von Dr. Julius Ofner, österreichischem Reichsratsabgeordneten, dessen Text ich hier wiedergebe:


– – Ich hätte mich gerne an den Beratungen über das internationale Schiedsgericht beteiligt. Mir ist die Sprache, welche über diesen Punkt geführt wird, zu ängstlich, zu sehr an das Wohlwollen der Staaten und zu wenig an deren Pflicht gewendet; Apostel schmeicheln nicht.

Juristisch ist es zweifellos: kein Recht ohne Richter; in eigener Sache kann niemand urteilen, und die Geschichte lehrt, daß, wenn Staaten auch das Ungerechteste wollen, sie immer Kronjuristen fanden, die es verteidigten und als Recht erklärten. Solange daher kein Gericht für Völkerstreitigkeiten eingesetzt ist, gibt es Staatenhöflichkeit, Staatensitte, aber kein Staatenrecht. Der Starke ist unfehlbar, die beleidigte Gerechtigkeit wendet sich nur gegen den Schwachen. Die Berufung auf die Souveränität, die nicht geschmälert werden dürfe, ist nichts als eine Umkleidung für das Verlangen, nach Willkür[355] auch Unrecht tun zu dürfen. Denn alles Recht beschränkt den einzelnen um der anderen willen, die Willkür zugunsten der allgemeinen Freiheit. Recht und Gerechtigkeit ist aber die Grundlage aller Kultur, und es gilt für die Staaten, was Kant für die Menschen überhaupt sagte: »Gäbe es kein Recht, es wäre nicht der Mühe wert, daß Menschen auf Erden leben.«


In der Sitzung nichts Sensationelles. Nachmittags im Journalistenklub Othon. In Begleitung Türrs mache ich mit meiner Nichte einen Besuch beim Ministerpräsidenten Banffy.

20. September. Arbeitspause für die Kongressisten. Mittels Extradampfer werden sie auf die Margareteninsel geführt, wo ihnen das Komitee einen Lunch bietet. Das Wetter ist herrlich – man tafelte im Freien, von den wundervollen Parkanlagen umgeben.

»Sehen Sie, meine lieben Kollegen und Freunde,« sagte General Türr, »diese Insel war eine Wildnis. Durch Ausrodung, Kultivierung und Ausschmückung hat Erzherzog Joseph, der Besitzer, ein Paradies daraus gemacht ... so möge auch jene Wildnis, die heute noch im internationalen Leben herrscht, durch die Kulturgewalt des Friedenswerkes in ein blühendes Land verwandelt werden wie diese Margareteninsel.«

Natürlich sprachen auch noch andere. Tiefe Bewegung ruft es aber hervor, als ein italienischer Delegierter, gewesener Generalstabshauptmann, Conte di Pampero, indem er sein achtjähriges Söhnchen aufhebt und vor sich auf den Tisch stellt, im Namen des jüngsten Kongressisten das Wort ergreift, und indem er wie segnend die Hand auf das Haupt des Kindes legt, beschwört er die Anwesenden, ihre Kinder, so wie er es tue, im Haß gegen den Krieg und in Liebe für die Menschen großzuziehen ...

21. September. Sehr bewegte Debatte über das Duell. Ein Delegierter – Felix Lacaze aus Frankreich – stellt den Antrag, daß alle Friedensgesellschaften es ihren Mitgliedern zur Bedingung machen mögen, die Verpflichtung einzugehen, jedes Duell abzulehnen. Großer Widerspruch erhebt sich. Graf Eugen Zichy sagt, in diesem Falle müßte er ehrlicherweise aus dem Verein austreten. Eine solche Verpflichtung könne man in gewissen Ländern und in gewissen Kreisen nicht eingehen. Die englischen Mitglieder, die entrüstet sind, daß dem Duell das Wort geredet wird, geraten in Erregung, und sie wollen den Grafen Zichy, der noch einmal – und zwar, wie er sagt, zur Versöhnung – sprechen will, nicht zu Wort kommen lassen; schließlich findet Houzeau de Lehaye, der stets Versöhnende, einen Vermittlungsantrag, der unter der Begründung, daß man den Mitgliedern[356] nichts verbieten könne, diese nun bittet, alle Anstrengungen zu machen, um den Gebrauch des Duells, das ja den von ihnen verteidigten Grundsätzen widerspricht, abzustellen und die Ausführung der darauf bezüglichen Gesetze zu sichern.

Habe interessante neue Bekanntschaft gemacht: ein Russe namens Nepluyew. Er stellte sich mir während einer Verhandlungspause vor und legt mir ans Herz, seine Ideen zu unterstützen. Er habe in seiner Heimat eine Anstalt gegründet, welche auf den Prinzipien der Erziehung zum Frieden beruht. Er macht den Eindruck eines Grandseigneur, dabei eines tief religiösen Menschen. Seine Absicht, indem er hierherreiste, sei die, dem Kongreß die von ihm ins Leben gerufene Institution bekannt zu machen, damit sie überall nachgeahmt werde. Auf seiner Visitkarte nannte er sich »Président de la Confrèrie ouvrière de l'Exaltation de la Croix«. Damit gibt er seinem sozialistischen Unternehmen einen kirchlichen Anstrich. Vielfacher Millionär, Besitzer ausgedehnter Güter und zahlreicher Faktoreien im Gouvernement Tschernigow, hat er seine Laufbahn als Diplomat begonnen, diese aber aufgegeben, um sich ganz der Aufgabe zu widmen, die russischen Bauern moralisch und materiell zu heben. Aus eigenen Mitteln gründete er Volksschulen für Industrie und Agrikultur und Bauernvereine, die er »Bruderschaften« nannte; zuerst gab er ihnen Gewinnbeteiligung an seinem Unternehmen, dann übertrug er seine ganzen Reichtümer in ihren vollen Besitz, indem er sich nur den Titel eines lebenslänglichen Präsidenten dieser Werke vorbehielt. Die Sache ging aber nicht leicht. Jahrelang mußte er gegen den bösen Willen der russischen Behörden kämpfen, die in ihm einen Sozialisten witterten. Zum Schluß aber hat ihm sein Erziehungswerk befriedigende Erfolge gebracht. Seine Methoden und Erfahrungen hat er in einer Broschüre niedergelegt, die er unter den Kongressisten zur Verteilung brachte.

Er selbst reiste noch am selben Tage von Budapest ab.18

Abends ein von der Stadt gebotenes Bankett.

22. September. Eine Deputation des Tierschutzvereins spricht bei mir vor und bittet mich, auch seine Bestrebungen zu unterstützen. Ich antworte, daß ich eben ein Buch unter der Feder habe, betitelt[357] »Schach der Qual« – darin solle ein Kapitel der Fürsprache unseren armen, stummen, so arg gequälten Mitgeschöpfen gewidmet sein. – Schlußsitzung. Um eineinhalb Uhr schließt General Türr den Kongreß mit dem Rufe »Auf Wiedersehn.« Das Wiedersehn findet schon zwei Stunden später im Hotel Royal statt, wo dem Präsidenten und dem Komitee wie uns allen ein Abschiedsessen gegeben wird. Das Arrangement hatte Malaria (Olga Wisinger) in die Hand genommen. Aber auch das war noch kein Abschied, denn viele der Teilnehmer blieben hier, um der morgen zu eröffnenden Interparlamentarischen Konferenz beizuwohnen.

Wir gehörten auch zu denjenigen, die ihren Aufenthalt noch wenige Tage verlängern wollten. Schon am 16. August war uns nach Harmannsdorf folgendes Schreiben zugekommen:


Conférence Interparlementaire, Groupe hongrois.


Budapest, 15. August.


Euer Hochgeboren!


Der verdienstvolle Eifer und das aufopfernde, ersprießliche Wirken Euer Hochgeboren im Interesse und Dienste des Weltfriedens machen es uns zur angenehmen Pflicht, zu der am 22. September in Budapest zu eröffnenden Interparlamentarischen Konferenz Euer Hochgeboren sowie Ihren Gemahl und Baronesse von Suttner als Gäste einzuladen.

Wie bekannt, können Mitglieder der Konferenz nur Gesetzgeber sein; es dürfte Euer Hochgeboren jedoch interessieren, die Sitzungen von der Galerie aus zu verfolgen und an den zu veranstaltenden Festlichkeiten und Ausflügen teilzunehmen.

In dieser Anhoffung u.s.w.

Koloman v. Szell, Vorsitzender.

Aristide v. Deszewffy,

Sekretär des Exekutiv-Komitee.


Ich kehre zu meinem Budapester Tagebuch zurück.

23. September. Gestern, als am Vorabend der Konferenz, große Soiree im Parkklub, zu welcher die Einladungskarten von Koloman von Szell ausgegangen sind. Wirklich schön dieses Klubgebäude – gediegene, englisch behagliche Pracht. Sämtliche Konferenzmitglieder anwesend – freudiges Wiedersehen mit den alten Bekannten: Stanhope, Beernaert, Cremer, Descamps u.s.w. Viele Damen der ungarischen Gesellschaft und die Frauen der Konferenzler. Fast alle ungarischen Minister, Baron Banffy an der Spitze, die Grafen Eugen Zichy, Albert Apponyi, Szapary, Esterhazy –, und viele Journalisten und Künstler. Unser alter Passy ist sehr umringt. Maria Louise sieht wunderhübsch aus und verdreht,[358] scheint mir, ein paar Madjarenköpfe. Auch die nordische Maid, Ranghild Lund, die Beauté der Römer Konferenztage, ist wieder da und erregt viel Bewunderung. John Lund kommt auf mich zu und bringt mir Grüße von Björnson. Werde mit einer jungen Gräfin Kalnoky (ledig und sehr selbständig) bekannt, deren freie und weitherzige Ansichten mir imponieren. Dann setzt sich eine Gräfin Forgac zu uns; erzählt verschiedenes von Kaiserin Elisabeth. Unter anderem: es seien Geistermitteilungen (vermutlich in spiritistischer Séance) gemacht worden, daß der Ort, wo Kronprinz Rudolf weilt, ärger ist als die Hölle, und daß ihm kein Beten nützt; darüber die Kaiserin verzweifelt. Melinda Karolyi und ich tauschen einen Blick, der viele Ausrufungszeichen enthält. – Diener tragen exquisite Speisen und Getränke herum. Ein Journalist bemerkt: »Man muß nicht Mitglied einer Friedensliga sein, um diese Art internationaler Begegnung entschieden angenehmer zu finden als diejenige mittels Bomben und Granaten.«

Heute Eröffnungssitzung im Magnatenhause. Vor dem Gebäude, am Rande der Straße, durch Blumengirlanden verbunden, sind Masten aufgestellt, von welchen die Fahnen sämtlicher in der Konferenz vertretenen Nationen flattern – ein Anschauungsunterricht für die Vorübergehenden. Dieser noch so fremdartige Begriff »Europäischer Staatenbund« – hier ist er in Emblemensprache ausgedrückt. Wir sind auf unseren Galeriesitzen früher angelangt, als die Konferenzler in den Saal kommen, also sehen wir diese langsam eintreten und ihre Sitze einnehmen. – Auf den Ministerfauteuils, auf denen sonst die ungarischen Ratgeber des Königs Platz nehmen, lassen sich jetzt die fremden Parlamentarier nieder. Frédéric Passy sitzt neben Kardinal Schlauch und Minister Darany. Gobat betritt die Estrade und schlägt vor, daß der Präsident des ungarischen Abgeordnetenhauses, Desider Szilagyi, den Vorsitz der Konferenz übernehme. Dieser nimmt an und hält die Begrüßungsrede. Nun folgen die Ansprachen der alten Bekannten: Pirquet, Descamps, Beernaert, v. Bar, Bajer u.s.w. – neu und überraschend ist mir Apponyi. Ist das ein Redner! Dazu die hohe, elegante Erscheinung – die gewaltige Baritonstimme – die spielende Beherrschung der fremden Sprachen. –

Erst die zweite Sitzung um vier Uhr bringt die eigentlichen Verhandlungen. Punkt I. »Permanentes Internationales Schiedsgericht.« Descamps berichtet, daß er das im Auftrage der vorigen Konferenz verfaßte Memorandum über diese Frage an alle Souveräne und Regierungen übersendet hat. Von den meisten Regierungen[359] habe er eine Antwort mit Billigung der Prinzipien erhalten, darunter die bestimmteste aus Petersburg von dem jüngst gestorbenen Fürsten Lobanow.

Abends große Soiree beim Ministerpräsidenten.

Ich sehe, daß mein Tagebuch die Verhandlungsphasen der Konferenz nicht genau registriert hat. Mir liegt aber das offizielle Protokoll vor, und da will ich hier etwas aufzeichnen, was mir für die historische Entwicklung der Friedenssache wichtig erscheint. In jener Sitzung des 22. September 1896 wurde also von Pierantoni folgende Resolution beantragt:

»Die VII. Interparlamentarische Konferenz bittet alle zivilisierten Staaten, eine diplomatische Konferenz einzuberufen, um ihr die Frage des internationalen Schiedsgerichts vorzulegen, wobei die Arbeiten der Interparlamentarischen Union zur Grundlage der weiteren Beschlüsse dienen sollen.«

Diplomatenkonferenz ... liegt in diesem Worte nicht schon ein – wie soll ich sagen – ein Vorklang der Konferenzen im Haag, bei welchen in der Tat die Arbeit Descamps' und Lafontaines als Grundlage der Einsetzung des Haager Tribunals gedient hat?

Und noch eine andere Debatte von historischem Interesse. In der Sitzung vom 24. September steht die Frage auf der Tagesordnung, ob und wie jene Nationen, die kein Parlament haben, an den interparlamentarischen Konferenzen teilnehmen können.

Graf Albert Apponyi, der über den Gegenstand eine Denkschrift verfaßt hat, die im Saale verteilt wurde, ist Referent. Er verweist auf diese Denkschrift und will sich daher kurz fassen. Er behält sich vor, seine Ansichten am Schlusse der Debatte nochmals darzulegen – jetzt wolle er den Antrag formulieren:

»Es sei in die Statuten aufzunehmen, daß zu den Konferenzen auch Delegierte jener Souveräne, Staatschefs und Regierungen sowie des russischen Staatsrats oder jeder ähnlichen Institution in nichtkonstitutionellen Landen zugelassen werden, insoferne sie von ihrer Regierung autorisiert sind. Das Bureau solle beauftragt werden, den Staatsoberhäuptern und Regierungen der nichtkonstitutionellen Länder mitzuteilen, daß die Konferenz sich glücklich schätzen würde, ihre Delegierten bei ihren Beratungen zu sehen.« Lewakowski (Mitglied des österreichischen Reichsrats) erhebt sich gegen Apponyis Antrag: dieser ziele einzig und allein auf eine Einladung Rußlands. »Wir sind hier Vertreter der Völker und wirken auch hier im Sinne unserer Mandate. Die russische Nation kann keine Vertreter entsenden,[360] die dasselbe Mandat haben wie wir.« Norton, Snape, Pirquet, Rahusen und Passy sprechen für den Antrag.

M. G. Conrad19 erklärt sich in heftigster Weise dagegen. »Entweder wir sind eine parlamentarische Konferenz oder nicht. Wir brauchen nicht zu wissen, was die Regierungen sagen, wir wollen die Ansichten der Völker hören. Und die Meinung des russischen Volkes werden Sie aus dem Munde der Delegierten der russischen Regierung gewiß nicht zu hören bekommen.« Stanhope ist für die Annahme des Antrags. Dadurch würde der grandiose Zweck der Konferenz nur gefördert. In Rußland existiert tatsächlich etwas, was einer parlamentarischen Körperschaft ähnlich ist, und wer weiß, eines Tages kann sich – gerade durch den Einfluß unserer Konferenzen – etwas daraus entwickeln, was zum Konstitutionalismus führt.

Hierauf spricht Graf Apponyi das Schlußwort. Er polemisiert mit den Kontrarednern. Lewakowski gegenüber erklärt er, daß hier zahlreiche Herren sitzen, die nicht von ihrer Nation das Mandat erhalten haben, und zwar die von ihren Monarchen ernannten Oberhausmitglieder. In der einen Schale liegen die vorgebrachten Bedenken, in der anderen die immense Wichtigkeit der Tatsache, daß ein so großes Reich wie Rußland, welches ein Drittel Europas umfaßt, an unseren Beratungen teilnehme. Diese Frage tauchte zum erstenmal in der ungarischen Gruppe auf und wurde im Interesse jener Länder motiviert, die zwar kein Parlament haben, doch an unseren Arbeiten teilnehmen und für den Weltfrieden kämpfen wollen. Diese haben auch das Recht, an dem großen Werke der Zivilisation mitzuarbeiten. Wir verfolgen ja alle nur den Zweck, einer gerechten Sache zum Siege zu verhelfen und jede Mithilfe kann uns nur willkommen sein. Der verehrte Präsident der vorigen Konferenz hat sein Memorandum über das Schiedstribunal allen Regierungen übersendet, und die sympathischeste Antwort erhielt er von dem verblichenen Fürsten Lobanow.

Descamps: »Das ist richtig.«

Apponyi: »In Rußland herrscht, was man aus vielen Anzeichen ersehen kann, eben die Tendenz vor, an den europäischen Arbeiten teilzunehmen; seit einiger Zeit sieht man Rußland auf den meisten Kongressen vertreten. Wir müssen ihm Gelegenheit geben, auch an unseren Arbeiten teilzunehmen; es ist ja nicht ausgeschlossen, daß auch die Entwicklung der Dinge in Rußland dadurch im günstigen[361] Sinne beeinflußt wird. Jedenfalls würde durch die Teilnahme eines so mächtigen Staates unser Streben nur gewinnen.«

Es ist interessant, zu dieser Debatte vom 24. September 1896 die Tatsache zu halten, daß am 24. August 1898 von Rußland das Manifest ausgegangen ist, das die Friedenskonferenz im Haag einberufen hat. Auch dieser Umstand muß hier verzeichnet werden: den Budapester Konferenzsitzungen und Veranstaltungen wohnte der damalige russische Konsul Basily bei, der seiner Regierung genau und sympathisch (Basily war ein überzeugter Friedensfreund) Bericht erstattet hat. Sein Bericht war, wie ich später erfahren, im Sinne eines dringenden Plädoyers für Rüstungsstillstand abgefaßt. Die Anregung erhielt nicht den Beifall seiner Vorgesetzten und blieb einige Zeit in Vergessenheit. Ein Jahr später jedoch, als Lord Salisbury in seiner Guildhallrede über die endlosen Rüstungen der Nationen sprach und sagte, daß die einzige Hoffnung, um dem allgemeinen Zusammenbruch zu entgehen, darin läge, daß die Mächte in irgendeiner internationalen Konstitution verbunden wären –, da erneuerte Herr Basily seine Vorstellungen zugunsten eines Versuchs, über diesen Gegenstand zu einem internationalen Einvernehmen zu gelangen. Basily gehörte dem Ministerium des Aeußern an; er unterbreitete natürlich seine Ideen seinem Chef, dem Grafen Lamsdorff – dieser unterbreitete sie seinerseits dem Kaiser.

Als im Jahre 1906 die Interparlamentarische Konferenz in London zusammentrat, da existierte in Petersburg ein Parlament, das seine Vertreter im Namen nicht nur einer Gruppe, sondern der ganzen Duma nach London schickte. Freilich, am Tage, da der russische Abgesandte in der Eröffnungssitzung im Westminstersaal seine Begrüßungsrede halten wollte, war die Nachricht eingetroffen, daß die Duma aufgelöst worden. Die Russen mußten daher unverrichteter Dinge von London abreisen und Campbell-Bannerman, der die Interparlamentarische Konferenz eröffnete, konnte dabei das berühmt gewordene Wort sagen: »La douma est morte, vive la douma.«

Nach dieser Exkursion in die Zukunft kehre ich zu meinen Budapester Tagebuchnotizen zurück.

24. September. Nach der Morgensitzung (Rußlanddebatte, bei welcher besonders Apponyi glänzte, und der Basily und Novicow mit großem Interesse folgten) machen wir einen Besuch bei Maurus Jókai. Unwohlsein hat ihn von der Teilnahme an der Konferenz abgehalten, aber er ist doch wohl genug, um zu empfangen. Er bewohnt eine eigene gartenumgebene, nicht große, aber sehr hübsche Villa. Zeigt uns alle seine Schätze – seinen Arbeitstisch, seine Bücher und[362] die Geschenke, die er zu seinem Jubiläum bekommen – darunter die herrliche Gabe der ungarischen Nation: die Gesamtprachtausgabe seiner Werke, für welche von vornherein an hunderttausend Gulden Subskriptionen eingegangen sind – ein dem Dichter gebotenes nationales Ehrengeschenk. Zwei sehr interessante Stunden – Jókai erzählt viel aus seinem Leben. Gibt mir seine Photographie mit Namenszug.

Abends Operngalavorstellung: »Bank-Ban« von Erkel; Bianca Bianchi trällert wie eine Nachtigall.

25. September. Schlußsitzung. Schlußbankett in der Festhalle der Ausstellung. Achthundert Teilnehmer. In der Vorhalle bilden die Heiducken in Galauniform Spalier. Am Ehrentisch mit den Führern der verschiedenen fremden Gruppen: Beernaert, Passy, Stanhope, Descamps u.s.w. die Einheimischen: Szilagyi, Szell, Apponyi, Szapary, Berzeviczy, Franz Kossuth und Oberbürgermeister Ráth als Hausherr. Meine Nachbarn sind der englische General Havelock und Graf Koloman Esterhazy. Nach dem vom Oberbürgermeister ausgebrachten Königstoast toastiert Koloman Szell auf die Konferenzmitglieder, »die Meister und Bannerträger in der größten Frage des Kulturfortschritts«.

Mit dem letzten Tage der Konferenz waren die Veranstaltungen noch nicht zu Ende. Die Teilnehmer waren eingeladen, die Eröffnung des »Eisernen Tores« mitzufeiern, die im Beisein des Kaisers stattfinden sollte. Am 26. September abends führten zwei Extrazüge die Gäste nach Orsowa, und für jeden einzelnen war für bequemes Nachtlager gesorgt. Am Morgen des 27., der in herrlichem Sonnenschein erstrahlte, begaben wir uns alle an Bord des Separatschiffes »Zriny«, welches als viertes hinter dem Kaiserschiff die Donau hinabfuhr; im zweiten fuhren die Generale, im dritten die Diplomaten. Nachdem die Flottille im Kasanpaß angelangt war, durchschnitt das Kaiserschiff ein über den Donaukanal gespanntes Blumentau – das »Eiserne Tor« war eröffnet.

»In diesem feierlichen Augenblick,« sprach Kaiser Franz Joseph, »der uns vereinigt, um ein großes Werk der öffentlichen Wohlfahrt zu feiern, fühle ich mich beglückt, und in der Ueberzeugung, daß dasselbe einen mächtigen und heilsamen Aufschwung der ebenso friedlichen wie fruchtbringenden Entwicklung der internationalen Beziehungen geben wird, trinke ich auf das Glück und das Wohl der Völker.«

Die vier Schiffe defilierten nun langsam aneinander vorüber und dampften nach Orsowa zurück.[363]

17

Vom 3. Oktober 1895 bis 1. Januar 1896 erstreckte sich die erste Serie der Metzeleien. Von seiten der Armenier hat, wie aktenmäßig festgestellt wurde, keinerlei Provokation stattgefunden. Trotzdem wurden 85.000 Menschen erschlagen, ca. 2300 Städte und Dörfer verwüstet, über 100.000 Christen zwangsweise zum Islam bekehrt und 500.000 dem Hunger preisgegeben. B. S.

18

Im Jahre 1904 besuchte mich Herr von Nepluyew in Wien. Er war sich und seinem Apostolate treu geblieben. Es war ihm auch gelungen, die Zarin dafür zu interessieren. Sein Wunsch war, daß die Friedensgesellschaften allerorten solche Bruderschaften im Volke ins Leben rufen mögen – doch, abgesehen von allem anderen, dazu fehlen den Gesellschaften vor allem die Mittel.

19

Unser alter Freund, der temperamentvolle Literaturstürmer aus München, seit kurzem in den Reichstag gewählt.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 348-364.
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