19. Tiflis

[148] Im Sommer 1878 waren wir wieder in der mingrelischen Sommerresidenz zu Gast.

Die beiden Söhne, um welche Dedopali gezittert hatte, waren nun, mit verschiedenen Orden geschmückt, auch nach Gordi gekommen. Ebenso die Frau des Fürsten Niko, Mary. Außerdem noch das Paar Achille Murat mit seinen beiden Knaben. Es gewährte mir[148] eine große Freude, meine Freundin Salomé wiederzusehen, und es war wieder eine schöne Zeit, die wir in diesem lieben und heiteren Kreis verlebten. Graf Rosmorduc trug nicht wenig zur Unterhaltung bei. Dieser alte Franzose hatte die Gabe, endlos Anekdoten aus seinem Leben zu erzählen, spannende, witzige und rührende, und sich niemals zu wiederholen.

Mit der Anstellung für den Meinen war's noch immer nichts; um so mehr wurden Pläne gemacht und spanische Schlösser gebaut. Geschäfte sollten übernommen, Kolonisten verschrieben, Holzhandel eröffnet werden. In diesen Projekten, bei welchen meinem Manne stets lukrative Tätigkeiten zufallen sollten, waren besonders Niko und Rosmorduc erfinderisch. Verschiedenes wurde auch in Angriff genommen; Verhandlungen wurden angeknüpft, ausgedehnte Korrespondenzen geführt, aber schließlich war es nichts.

So kam wieder der Winter heran, die Gordi-Kolonie ging auseinander, und diesmal wollten wir unser Glück in Tiflis versuchen; wir brachten ja auch dorthin die besten Empfehlungen mit. Es lebte da Fürstin Tamara, die Witwe nach Heraclius von Georgien. Dieser war nach langer Krankheit, während welcher er unausstehlich launenhaft gewesen sein soll, gestorben, und seine schöne junge Witwe führte, nach dem Großfürsten-Statthalter, das erste Haus in Tiflis. Dort wurden wir mit größter Zuvorkommenheit aufgenommen. Tiflis ist eine halb orientalische, halb westeuropäische Stadt. In dem europäischen Viertel herrscht dasselbe Leben wie in unseren großen Städten. Europäische Toiletten, europäische Sitten, französische Köche, englische Gouvernanten, Jours, Soireen, Konversation in russischer und französischer Sprache. Fürstin Tamara besaß ihr eignes, mit erlesenem Geschmack eingerichtetes Palais, und in ihren Salons verkehrte die dortige Creme der Gesellschaft, bestehend aus Würdenträgern des großfürstlichen Hofes – auch der Großfürst stattete da öfters Besuche ab – aus verschiedenen Gouverneuren, Generalen und den eingeborenen Großen. Die jüngere Schwester Tamaras, ebenso reizend wie diese, war mit einem General verheiratet und lebte auch in Tiflis. Die gesellschaftliche Stellung, die wir dort einnahmen, war etwas ganz Sonderbares. Wir mußten verdienen, um zu leben – also wanderte ich an den Vormittagen in verschiedene sehr gut gezahlte Musikstunden; mein Mann hatte eine Stelle bei einem französischen Tapetenfabrikanten und Bauunternehmer inne, für den er Rechnungen führte und namentlich neue Tapetenmuster zeichnete. Dafür bezog er einen Gehalt von hundertfünfzig Rubel monatlich, und außerdem hatten wir in dem schönen eignen Hause[149] des Fabrikanten, Monsieur Bernex aus Marseille, Kost und Wohnung. Die Arbeitsglocke erklang um fünf Uhr früh. Da mußte der Meine, der zu Hause so verwöhnte und eigentlich lästerlich faule Meine, schon aus dem Bett. Er tat es ganz vergnügt; dann ging er in den Maschinenraum, die Arbeiter überwachen. Um acht Uhr setzte er sich mit dem »Patron« und den Werkmeistern zum ersten Frühstück, bestehend aus einem Kübel ganz schwachen Milchkaffees und Schwarzbrot – es mundete ihm vortrefflich, dann mußte er ins Bureau, rechnen und zeichnen bis eins. Ich hatte indessen schon ein paar Lektionen absolviert, und wir aßen alle zusammen am Bernexschen Mittagstisch. Nachmittags hatte der Meine Geschäftsgänge zu besorgen, zu Kunden, aufs Zollamt, zur Bahn, alles stundenweite Wege; er tat es mit Lust. Aber von sechs Uhr nachmittags an, da waren wir frei, machten große Toilette und dinierten fast allabendlich »en ville«, bald bei der Fürstin von Georgien, bald bei ihrer Schwester und bei allen großen Familien der Stadt. Man kannte unseren Roman, man kannte auch unsere engen Beziehungen zur Familie Dadiani, und in der Welt wurden wir nicht behandelt als der Fabriksangestellte und als die Musiklehrerin, sondern als eine Art aristokratischer Emigranten, nicht nur auf dem Fuß der Gleichheit, sondern mit jener besonderen Zuvorkommenheit, die illustren Fremden erwiesen zu werden pflegt. Wir mußten eigentlich dazu lachen.

Die Schriftstellerei betrieb ich weiter, soweit meine Zeit es zuließ. Ich schrieb Novellen: »Doras Bekenntnisse«, »Ketten und Verkettungen«, und trug den Plan zu einer größeren Arbeit, »Inventarium einer Seele«, mit mir herum. Mein Mann kam nur sehr wenig zum Schreiben, denn nun hatte ihn der »Patron« auch dazu angestellt, Baupläne zu zeichnen. Und er tat es. Wie ihm das gelang, ich begreife es heute noch nicht; Tatsache aber ist, daß nach seinen Plänen mehrere Häuser und Schlösser in der Umgebung von Tiflis errichtet wurden. Nun, so wie er Klavier spielte, ohne Musikunterricht genommen zu haben, so machte er architektonische Pläne, ohne das Baufach studiert zu haben. Die georgische Sprache hatte er sich schon so weit angeeignet, daß er mit den eingeborenen Arbeitern und Unternehmern sich verständigen konnte. Ich indessen vervollkommnete mich im Russischen, das ich übrigens schon in Wien zu lernen begonnen hatte, im Hinblick auf den Aufenthalt in Zugdidi, den mir die Dedopali in Aussicht gestellt. Jenes Schloß war übrigens jetzt noch nicht fertig und ist auch gar nicht zu Lebzeiten der Bauherrin fertig geworden.[150]

Während unseres Aufenthaltes in Tiflis habe ich eine Krankheit durchgemacht, die einzige während meines Lebens. Die Zeit dieser Krankheit gehört zu meinen schönsten, liebsten Erinnerungen. Ich konnte nichts essen, alles, was ich nahm, refüsierte mein Magen; ich konnte nicht gehen, wenn ich einige Schritte machen wollte, fiel ich um. Das klingt freilich nicht, als ob man schöne, liebe Erinnerungen auskramt, und doch ist es, weiß Gott, eine wonnige Zeit gewesen. Ich war von einer halb betäubten Mattigkeit, das Liegen gewährte mir eine wohlige Ruhebefriedigung, und die Pflege und Sorge und Zärtlichkeit des Meinen wiegte mich in ein stilles, tiefes Glücksbewußtsein. Das dauerte ungefähr sechs Wochen, dann war ich genesen, und wir zwei hatten uns wieder um ein großes Stück lieber.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 148-151.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Bertha von Suttner: Memoiren
Memoiren