20. Zugdidi

[151] Den Aufenthalt in Tiflis haben wir wieder mit Kutais, dann mit Gordi und mit Zugdidi und noch manchen anderen Orten vertauscht; ich kann hier nicht genau in chronologischer Folge und in ihren Einzelheiten alle die Wanderungen erzählen, die unsere neun Jahre Kaukasus gefüllt haben; auch sind es nicht die äußeren Ereignisse, die uns »das Wichtige« waren; innere Erlebnisse waren es, die dort in der Verbannung zwei ganz neue Menschen aus uns gemacht haben. Zwei frohe Menschen, zwei gute Menschen.

Einige schöne Jahre verlebten wir in dem kleinen Orte Zugdidi, der mingrelischen Hauptstadt. Eigentlich müßte man Hauptdorf sagen. Eine lange Zeile orientalischer Häuser mit offenen Buden, Laden an Laden; darum hieß diese Zeile der »Bazar«, sie hieß aber auch der »Boulevard«, weil die Straße mit einer Doppelreihe von hohen Bäumen besetzt war. Und was für Bäume! Bitte, nichts Geringeres als Mimosen. Wenn diese in Blüte standen, da war der ganze Ort mit betäubenden Düften gefüllt. Außer dieser orientalischen Zeile gab es ein Häuflein kleiner Bauernhäuser, bewohnt von – württembergischen Bauern, das war die »deutsche Kolonie«. Dann, verstreut in größeren und kleineren umfriedeten Grasplätzen oder Kukuruzfeldern, einstöckige Häuser in kaukasischem Stil, das heißt aus Holz gebaut und rings mit Veranden versehen; ferner in einem Garten die Villa des Grafen Rosmorduc, dann das Interimswohnhaus der Fürstin am Rande des großen Parkes, in dessen Mitte sich der unvollendete Prachtbau des Schlosses erhob – das war Zugdidi.[151]

Noch etwas sollte dazukommen. Achille und Salomé Murat hatten beschlossen, sich im Kaukasus niederzulassen; ein großes, unkultiviertes Terrain wurde ihnen überlassen, und darauf sollten ein Landhaus, Wirtschaftsgebäude, Stallungen, Zier- und Gemüsegarten, Glashäuser und bebaute Felder entstehen. Das alles haben wir im Verlauf von vier Jahren auch entstehen sehen. Für uns hatten wir das Häuschen eines deutschen Kolonisten gemietet. Paradiesisch, das heißt nach unseren Begriffen; an und für sich war's ja nicht eben prunkvoll. Ebenerdig, drei niedere Zimmer und eine Küche. Vor dem Eingang eine Holzveranda. Das erste Zimmer war unser Salon. Wir hatten auf dem Bazar das genügende Ausmaß von einem sehr billigen roten Stoff erstanden, und damit wurden die Wände des Salons mit Tapeten und dessen Fenster mit Vorhängen versehen. Die Tapezierer waren wir selber. Der Stoff wurde geschnitten und zusammengenäht, dann angenagelt und – fertig. Als Möbel enthielt unser roter Salon einen sehr großen Tisch, der uns beiden als Schreibtisch diente, einige Sessel, noch ein Tisch und eine »Tachta«. Dies ist ein Möbel, das in keinem kaukasischen Zimmer fehlt: ein langer, breiter Diwan, unüberzogen und ohne Lehne. Ein Teppich fällt darüber und bildet den Ueberzug; vier lange, mit Teppichstoff überzogene Rollen bilden die Rücken- und Armlehnen. Dazu kann man noch einige Phantasiekissen tun, und das gibt die bequemste Gelegenheit zum Sitzen, Liegen und Lungern. Mit Hilfe einiger Bücherregale, einiger stets mit frischen Blumen gefüllten Vasen, eines Spiegels ober dem Kamin und eines Teppichs auf dem Boden war dem roten Salon ein fast eleganter Anstrich gegeben; wir waren unbändig stolz darauf! Die zwei anderen Räume wurden mit entsprechendem Luxus als Schlaf- und Garderobezimmer eingerichtet. Unsere Dienerschaft bestand aus einer Tochter unseres schwäbischen Hausherrn, der ein zweites, hinter dem grasbewachsenen Hof gelegenes Häuschen bewohnte; auch ein Fundus instructus war unser, bestehend aus fünf Gänsen. Diese zogen jeden Vormittag selbständig auf die Weide und kamen gegen Abend gravitätisch nach Hause zurück. Sie waren natürlich zu kulinarischen Zwecken angeschafft worden, aber nachdem wir sie von unserem Balkon aus täglich so vertrauensselig heimkehren gesehen, empfanden wir es als so schwierig, dieses Vertrauen zu mißbrauchen, daß wir ihnen während unseres ganzen Aufenthaltes das Leben geschenkt haben. Wenn man schon gebratenes Geflügel genießt, so sollen es doch keine persönlichen Bekanntschaften sein.

Der Beweggrund unserer Niederlassung in Zugdidi war, daß[152] Prinz Achille Murat meinen Mann zur Oberaufsicht und Mithilfe an seinen Bauten und Einrichtungen engagiert hatte. Das Plänezeichnen und Arbeiterkommandieren war zu seiner Spezialität geworden. Prinz Murat war selber eine Art Amateurarchitekt, Amateurlandwirt und Amateurgärtner; so teilten sich die beiden in das Plänemachen und -ausführen. Da wurden Gartenanlagen entworfen, Holzplafonds angestrichen, Kanäle gegraben, Tapeten angeklebt, pferdediebssichere Stallverschlüsse konstruiert, alles mit vereinten Kräften; häufig sah ich die beiden, Bauherr und Bauleiter, zusammen auf der Höhe einer Leiter thronen oder in den Tiefen einer Drainage waten. Und in kurzgeschürzter Lodentoilette, pinsel-, schaufel- oder spatenbewaffnet, half mitunter auch die Prinzessin mit. Ich hatte ein anderes Arbeitsfeld: ich unterrichtete täglich zwei Stunden die beiden Knaben Lucien und Napo in Deutsch und Klavier. Die Dienerschaft des prinzlichen Paares nahm die Existenz nicht so leicht wie die Herrschaft; da gab es häufig Wechsel und Verdruß; die korrekten englischen Kutscher und Stallmeister, die exquisiten französischen Küchenchefs konnten sich durchaus nicht in diese primitiven, erst werdenden Einrichtungen fügen. In der Wildnis und Unordnung wollten sie nicht bleiben. Bis auf einen langjährigen treuen Kammerdiener und eine ebensolche Jungfer, die sich zwar auch als Märtyrer fühlten, rebellierten alle. Dann ließ man wieder neue Küchen- und Stallregenten kommen, denn ohne die feinste französische Küche und ohne sportmäßige englische Pferde-, Wagen- und Jagdeinrichtungen konnte Prinz Achille nicht leben.

Zweimal wöchentlich pflegten wir in der werdenden Villa zu speisen, und nach dem Diner, bei dem man, im Gegensatz zu den vormittägigen Arbeitskitteln, in »evening-dress« erschien, wurden die Abende mit Plaudern, Musizieren und Schachspiel verbracht. Eine große Belustigung gewährten auch die mitgebrachten Karikaturen, die mein Mann gezeichnet hatte und welche – eine ganze Chronik der verschiedenen Baukalamitäten und eine zwar chargierte, aber sprechend ähnliche Porträtgalerie aller beteiligten Personen darstellte. Zu den vielen Talenten, mit denen der Meine begabt war, gehörte auch die Führung eines außerordentlich witzigen Bleistifts. Einmal schickte er an die »Fliegenden Blätter« eine Serie von Illustrationen zu den Ollendorfschen Grammatikbeispielen ein, wie: »Der Kandelaber deines Onkels ist größer als der Kater meiner Tante.« – »Der fleißige Bäckerjunge hat den traurigen Kapitän gesehen.« – »Der französische Herr hat einen langen Spazierstock und den armen Russen friert« u. dergl., die mit großem Beifall aufgenommen wurden.[153]

Im Winter, wenn wir bei Dedopali in Zugdidi weilten, war der Sonntag der Tag, an welchem ihre Kinder und wir regelmäßig zu Tisch geladen wurden. Im Sommer blieben wir jedoch ganz allein in Zugdidi zurück, und diese Existenz genossen wir am meisten. Ein paar Vormittagsstunden widmete mein Mann der Ueberwachung der Arbeiten im Muratschen Grundstück und die übrige Zeit gehörte ganz mir, und da konnten wir beide fleißig schreiben; es erstanden die Romane »Ein schlechter Mensch«, »Hanna« und das Buch »Inventarium einer Seele« von B. Oulot, und »Daredjan«, »Ein Aznaour« und »Kinder des Kaukasus« von A. G. von Suttner. Auch zu gemeinsamer Lektüre, zu gemeinsamem Studium, zu langen Gesprächen über alles, was es zwischen Himmel und Erde gibt, fand sich Zeit, und da hat sich bei uns eine Lebensphilosophie, eine Weltanschauung entfaltet, zu der wir in anderen Existenzbedingungen und eines ohne das andere nie gelangt wären – ein wahres Eden der Uebereinstimmung hatten wir erobert mit neuen, weiten, lichten Horizonten.

Man kann aber nicht immer in Gedankenhöhen schwelgen, man braucht sein kleines Erdenwinkelchen, sein schlichtes Alltäglichkeitsheim, und in diesem fühlten wir uns darum so unbändig wohl, weil wir ganz unabsichtlich jenes Heilandsgebot erfüllt hatten, das da heißt: »Werdet wie die Kinder.«

Wir schwatzten Blödsinn, trieben Unsinn, hatten uns eine eigene Sprache gebildet, warfen uns die blutigsten Injurien an den Kopf, führten die wildesten Tänze und sonderbarsten Gesänge auf, wir spielten, zwar nicht mit Puppen, aber mit Geschöpfen unserer Phantasie, kurz: dumme, dumme, selige Kinder. Ich habe diese Phase unseres Lebens in einer Monographie festgehalten, betitelt: »Es Löwos«, die zuerst in der Münchner Monatsschrift »Die Gesellschaft« und dann auf dem Büchermarkt erschienen ist. Manche machten mir zum Vorwurf: So Intimes gibt man nicht der Menge preis. Als ob man für die Menge schriebe! Man denkt sich als Leser immer solche, in welchen gleichgestimmte Saiten schwingen. Deren finden sich in der Menge immer nur einige. Bei »Es Löwos« dachte ich mir sogar nur Einen und apostrophierte diesen Sympathischen, Verständnisvollen, der vielleicht an sich ähnliches erfahren, immer als »Einer«. Und siehe da, im Laufe der Zeit erhielt ich wohl an die hundert Briefe aus dem Lespublikum, worin die Absender versicherten, mir alles nachgefühlt zu haben, und sich unterzeichneten »der Eine«.

Unsere Studien hatten uns einen neuen Horizont eröffnet, sagte[154] ich vorhin. Das muß ein wenig näher er läutert werden. Die Naturwissenschaften waren es vornehmlich, durch welche unseren Geistern ungeahnte Lichter aufgingen. Aber nicht, wie sie in den Schulen gelehrt zu werden pflegten: bloße Einteilungen in Arten und Ordnungen der Pflanzen und Tiere, bloße Aufzählungen der mineralogischen und geologischen Bildungen, bloße trockene, mit Ziffern und Zeichen versehene Leitfäden der Physik und Chemie – nein, wir schöpften unsere Kenntnisse aus den Werken der neuesten Naturgelehrten, die zugleich Naturphilosophen sind und aus deren Forschungen eine neue strahlende Entdeckung hervorbricht, nämlich die, daß unsere ganze herrliche Welt unter dem Gesetz der Entwicklung steht. Durch die Entwicklung aus den einfachsten Ursprüngen hat sie sich zu ihrer heutigen Kompliziertheit entfaltet, ist ihr noch unabsehbare Zukunftsgestaltung verbürgt. Dann diese anderen Erkenntnisse modernen Wissens: die Verwandelbarkeit aller Kräfte eine in die andere, die ungebrochene Kette aller Ursachlichkeit, die Unzerstörbarkeit der Atome, die lückenlose Kontinuität zwischen der anorganischen und organischen Welt, zwischen dem physischen und psychischen Leben – kurz, die Einheit der Welt und daraus als Folgerung, daß auch die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sich nach den gleichen Gesetzen vollzieht und auch ihr eine unabsehbare Zukunftsgestaltung verbürgt ist. Die Autoren, in die wir uns vertieften, waren: Darwin, Haeckel, Herbert Spencer, Whewell (History of Sciences), Carus Sterne u.a. Und vor allem das Buch, das mir eine Offenbarung gewesen: Buckle, History of civilisation. Schon vor meiner Verheiratung hatte ich dieses Buch und mehrere der früher genannten gelesen, und ich hatte sie in meinem Koffer mitgebracht. Jetzt mußte sie auch der Meine kennen lernen. Ich hatte vor ihm voraus, daß ich mehr naturwissenschaftliche Werke gelesen hatte als er – er hatte vor mir voraus, daß er die Natur leidenschaftlicher liebte als ich; ihm flößten die Herrlichkeiten schöner Landschaften, die Erhabenheit des Meeres und die Flimmerpracht des Firmaments mehr als genießende Bewunderung, sie flößten ihm Andachtsschauer ein. Und er wußte so gut zu sehen, was die Natur an holden und an gewaltigen Reizen besitzt, daß ihm daraus die Kraft der Naturschilderungen erwuchs, die er in seinen Büchern über den Kaukasus niederlegte. Die Landschaften, die den Hintergrund seiner Romane »Daredjan« und »Aznaour« bildeten, waren mit glühenden, leuchtenden Farben gemalt und haben auch das einmütige Lob der Kritik errungen. Charakterschilderung, Handlungsführung, Erfindung – das gelang ihm weniger in seinen Romanen, und darum hat er ja auch keinen[155] bleibenden Platz in der Literatur erobert, aber in seiner Wiedergabe der Natur war er meisterhaft. Das Geheimnis dieser Fähigkeit war: er liebte die Natur. Jede Liebe verzehnfacht jede Kraft. Wie ich schon einmal erwähnt: wir ergänzten uns gegenseitig, wir halfen einander empor. Er hat mich gelehrt, die Natur zu genießen, ich habe ihm dazu verholfen, sie zu verstehen. Auf meinen Wunsch mußte er alle die Werke lesen – mit mir zusammen lesen – in die ich schon früher einen Einblick getan, und in die ich erst jetzt gründlich mich vertiefte. Dieses Besitzergreifen, zu zweien, einer neuen Wahrheit macht den Besitz doppelt sicher, den Begriff doppelt klar.

Ein reiches Leben war es, das wir da in dem entlegenen Bauernhäuschen führten, um das wir des Nachts manchmal die Schakale heulen hörten. Reich, obwohl unser Einkommen das minimalste war. Obwohl unser Haushältchen so klein war, daß es geschah (wenn unsere einzige Hilfsdienerin krank war), daß wir selber unser Mittagmahl bereiteten und einmal auch – hochbelustigt – selber mit Sand und Bürste den Boden scheuerten. Reich an Erlebnissen, Erfahrungen, obwohl wir wochenlang keinen Menschen sahen und eigentlich nichts erlebten – aber der Quell unserer Erlebnisse waren unsere Bücher und unsere Herzen. Das seltenste aller Erdenlose ward uns zuteil: Volles, festgeankertes Glück.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 151-156.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Bertha von Suttner: Memoiren
Memoiren

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon