21. Die letzten Tage im Kaukasus

[156] Im Sommer 1882 erkrankte die Dedopali. Wir waren damals eben wieder ihre Gäste in Gordi. Die Aerzte, die ihr Sohn aus Tiflis kommen ließ, verordneten ihr eine Kur in Karlsbad. Sie aber weigerte sich, ihr Vaterland zu verlassen.

»Ich hoffe wieder gesund zu werden,« sagte sie mir, »aber sollte dies wirklich meine Todeskrankheit sein, so will ich hier sterben, nah von dem Kloster Marthwilli, wo man mich begraben wird – die lange Rückreise von Europa wollte ich nicht in einer Kiste machen.«

Ihr Zustand verschlimmerte sich allmählich, und als wir im Herbst Gordi verließen, hofften wir nicht mehr, sie wiederzusehen; und in der Tat, bald erhielten wir von Fürst Niko die telegraphische Nachricht, daß seine Mutter gottergeben und sanft verschieden sei. Obwohl ich auf die Nachricht gefaßt war, traf sie mich sehr schmerzlich, und ich habe die langjährige Freundin innig betrauert. Die Beisetzung in der Gruft auf Kloster Marthwilli gestaltete sich[156] zu einer Riesentrauerfeier, an der die Bevölkerung aller benachbarten Provinzen teilnahm; Tausende und Tausende waren zum alten Kloster, das die Fürstengruft enthält, gepilgert, um der »Königin der Mütter« die letzte Ehre zu erweisen.

Im Anfang des Jahres 1884 traf mich ein noch viel schwererer Verlust: meine Mutter. Ich hatte zuversichtlich gehofft, sie bald wiederzusehen, denn schon stand unsere Heimkehr in naher Aussicht, und sie selber sah dieser Wiedervereinigung mit sehnsüchtiger Freude entgegen; da raffte sie nach nur kurzer Krankheit der Tod hinweg. Teilnehmend und liebevoll suchte der Meine mich aufzurichten und zu trösten.

Die Zeit unserer Verbannung ging ihrem Ende entgegen. Die Eltern, die nun erkannten, wie treu und beglückt wir zueinander hielten, wie tapfer wir uns durchgeschlagen, ohne je ihre Hilfe zu beanspruchen, hatten nun ihrem starren Groll entsagt und riefen uns nach Harmannsdorf. Wir waren inzwischen zu einer selbständigen Lebensstellung gelangt und konnten daher ohne Demütigung heimkehren. Zwar war aus den geträumten Anstellungen beim russischen Hofe und aus den verschiedenen angebahnten Geschäftsunternehmungen, die uns ein Vermögen eintragen sollten, nichts geworden; aber wir hatten uns beide in der Literatur einen Platz errungen, der uns ein genügendes, steigendes Einkommen in Aussicht stellte und eine ehrenvolle Stellung sicherte. Die Kritik lobte uns, die Redakteure bestellten Beiträge, die Verleger verlangten Manuskripte. Die kaukasischen Novellen und Romane meines Gatten fanden großen Beifall und das »Inventarium einer Seele«, in welchem ich meine ganzen Ansichten über Natur und Leben, über Wissenschaft und Politik niedergelegt, hatte einiges Aufsehen erregt; ebenso begehrt waren meine belletristischen Sachen. Dabei fühlten wir beide, daß wir noch sehr viel zu sagen hatten, daß der Quell der Erfindung noch reichlich sprudeln würde – der neue Beruf war uns zum »Wichtigen« geworden.

Für den Monat Mai war unsere Heimkehr bestimmt; bis dahin lagen noch drei Monate; diese wollten wir zu einer Arbeit benutzen, um die ein Freund meines Mannes, ein Tifliser Journalist, uns gebeten hatte, nämlich die Uebertragung des georgischen Nationalepos »Die Tigerhaut« von Schosta Rustaveli ins Französische und Deutsche. Da wir des Georgischen nicht mächtig waren, sollte die Arbeit so gemacht werden: an der Hand des Urtextes würde uns Herr M. (der Name bis auf den Anfangsbuchstaben ist mir entfallen) in dem mangelhaften Französisch, das er konnte, die Dichtung wörtlich mitteilen – das würden wir dann in korrektes Französisch[157] und aus diesem ins Deutsche übertragen. Es war damals eine große Festausgabe der »Tigerhaut« geplant, zu welcher der Maler Zychy herrliche Illustrationen gezeichnet hatte. Um diese Arbeit ganz ungestört ausführen zu können, folgten wir der Aufforderung M.s, mit ihm in ein ganz entlegenes mingrelisches Dorf zu übersiedeln, wo sein Vater der Pope war und ein Häuschen besaß, in dem er uns gegen geringe Pension aufnahm. Da konnten wir nun regelmäßig zwei Vormittags- und zwei Nachmittagsstunden der »Tigerhaut« widmen, und die übrige Zeit verbrachten wir mit Spazierengehen, Lesen und »uns freuen« (auch eine Beschäftigung) auf die bevorstehende Rückreise. Wir genossen noch einmal so recht die Wildheit, das Primitive der kaukasischen Einsamkeit, ehe wir uns wieder in den Trubel der europäischen Zivilisation stürzten. Das Häuschen, das wir bewohnten, war sozusagen gar nicht möbliert; für unser Zimmer hatten wir uns die eigene »Tachta« und sonst ein paar Bequemlichkeitsrequisiten mitgebracht. Darunter auch eine Zither; das ist freilich zum Lebensbehagen kein unentbehrliches Instrument; aber da wir kein Klavier da hatten, so befriedigten wir unsere Musikbedürfnisse mit dem kleinen steierischen Handbrett, auf welchem ich mir sentimentale Lieder begleitete und der Meine schuhplattlerische Ländler spielte.

Das Zimmer, in welchem der Pope, sein Sohn und dessen einstige Amme und wir die Mahlzeiten einnahmen, enthielt weiter nichts als einen Tisch und die nötige Anzahl Sessel. Das Menü wechselte zwischen zwei Speisen ab (ein Tag Huhn, den nächsten Tag Hammel), und die Servietten wurden nur alle vierzehn Tage gewechselt. Der Pope schlürfte seine Suppe mit einem Lärm, der an spielende Walfische erinnerte. Unter unserem Zimmer befand sich ein Keller, in dem Kraut gesäuert wurde, und der Duft davon stieg durch die Ritzen des Estrichs zu uns herauf – aber nichts, nichts verdarb unsere gute Laune, und die rüstig weiterschreitende Uebertragung des georgischen Poems befriedigte uns lebhaft. Es eröffnete sich da eine ganz verschollene Welt – die Welt des dreizehnten Jahrhunderts in diesem entfernten Erdenwinkel. Eine Epoche, auf die die Georgier mit Stolz zurückblicken, weil sie die Glanzzeit des Landes war – die Epoche, da die große Königin Tamara regierte. Schosta Rustaveli sang an ihrem Hofe und besang ihren Ruhm, ihre Macht, ihren Liebreiz. Mehr noch als durch die Dichtung des georgischen Barden erfuhren wir durch den Mund unseres patriotischen Journalisten von der Vergangenheit seines Landes und von der versunkenen Glanzzeit der Königin Tamara. An diesen Namen knüpft[158] sich für die Georgier eine wahre Andacht; als etwas Erhabenes und Unsterbliches lebt die Erinnerung an die alten, durch Rustaveli verherrlichten Zeiten fort. Die Georgier blicken auf eine Geschichte von dreiundzwanzig Jahrhunderten zurück; der erste König, Phamawaz mit Namen, wurde dreihundertzwei Jahre vor Christus erwählt und das Christentum wurde vierhundert Jahre nach Christus durch die heilige Nino eingeführt. Wie jede alte Geschichte ist auch die georgische eine Geschichte von Kriegen. Das Land war von feindlichen Nationen und Stämmen umgeben, besonders wurde es stets von den Ottomanen und den Persern überfallen. Natürlich weiß die Chronik von den sieghaften Kämpfen zu erzählen, welche die Georgier gegen ihre Feinde bestanden haben, und ihr Stolz darüber drückt sich in ihrem Gruße aus – das dortige »Guten Morgen« heißt »Gamardjoba«, und das bedeutet »Sieg«; die Antwort heißt »Gamardjosse« – »Er (Gott) mache dich zum Sieger«.

Die Regierung der Königin Tamara gilt als das goldene Zeitalter des Landes. Die Chronik berichtet, daß unter dieser Königin Wohlstand herrschte, die schönen Künste blühten, herrliche Bauten aufgeführt wurden – wie das ja in allen alten Geschichtsschmeichelberichten heißt, wo immer alle möglichen Errungenschaften dem jeweiligen Kronenträger zugeschrieben werden. Sind die Herrscher grausam gewesen, so ward ihre Strenge gepriesen; waren sie es nicht, so wird diese negative Tugend in den Himmel erhoben. So ist in der Chronik über Tamara zu lesen: »Keiner wurde auf ihren Befehl seiner Glieder oder des Augenlichtes beraubt – und das ist um so merkwürdiger, als zu ihrer Zeit und nach ihr das Prinzip in voller Kraft war, das einer ihrer Vorfahren, der heldenhafte ›Wachtang Gorgaslan‹, aufgestellt hatte: ›Wer im Kriege dem Tode entgeht und nicht den Kopf oder die Hand eines Feindes zurückbringt, wird von unserer Hand sterben.‹«

Wie wenig doch dazu gehört, um die Bewunderung eines Königsbiographen zu entflammen; unter uns gibt es doch auch gar viele Leute, die keine Vorliebe für Gliederausreißen und Augenausstechen haben, und niemand überschüttet uns darüber mit Lob und Preis.

Zu Anfang ihrer Regierung wurde Tamaras Reich von dem persischen Kalifen Naser-li-Din bedroht, der mit einem »zahllosen« Heer gegen die Grenze marschierte. Da ruft Tamara ihre Truppen – in zehn Tagen sammelt sie aus allen Gegenden kampfesfrohe Legionen, sie läßt sie Revue passieren und richtet folgende Worte an sie: »Brüder, lasset eure Herzen nicht sinken, wenn ihr den[159] Haufen eurer Feinde mit eurer kleinen Zahl vergleicht. Gewiß habt ihr von den dreihundert Männern Gideons gehört und der von ihnen besiegten Unzahl von Midianiter. Bleibt mutig und vertraut auf die Tapferkeit jedes einzelnen!« Dann übergab sie ihnen die Fahne ihres Vorfahren, die Fahne Gorgaslans (dem Verfasser des obenerwähnten Ediktes »Wer im Kriege dem Tode entgeht u.s.w.«); natürlich gingen die Truppen hin und besiegten glänzend den Feind. Als sie heimkehrten, eilte ihnen die Königin entgegen, und die Soldaten, darüber entzückt, sie in ihrer Mitte zu sehen, zwangen alle Häupter der persischen Armee, vor der Königin das Knie zu beugen. Vermutlich wird in den persischen Chroniken der Vorfall anders erzählt.

Einige Jahre später versammelte Rokneddin, Sultan von Kleinasien, achthunderttausend (!) Mann und marschierte gegen Georgien. Durch seinen Gesandten schickte er der Königin folgende höfliche Botschaft: »Ich gebe Dir zu wissen, o Tamara, Herrscherin der Georgier, daß alle Frauen schwachen Sinnes sind. Jetzt komme ich, Dich zu lehren, Dich und Dein Volk, nicht mehr das Schwert zu ziehen, das Gott allein in unsere Hände gelegt hat.« Unterzeichnet war dieses Briefchen mit Namen und Titel des Schreibers, unter anderen: der höchste aller Sultane auf Erden, den Engeln gleich, Geheimer Rat Gottes u.s.w.

Tamara las die Botschaft »ohne Eile«. Sie befahl, ihre Truppen zu sammeln und marschierte selber an der Spitze ihrer Armee dem Feind entgegen. Selbstverständlich war der Sieg ein vollständiger; die Straßen von Tiflis wurden geschmückt und die Königin hielt ihren Einzug, strahlend wie die Sonne ...

Daß die Chroniken von ebensoviel Frömmigkeit wie Tapferkeit von der Herrscherin zu berichten wissen, ist auch selbstverständlich. Die Verbindung von »Säbel und Weihwedel« ist so alt wie diese beiden Symbole, in was immer für Formen sie jeweilig getaucht wurden und werden. Es gibt ein georgisches Nationalgedicht, das jeder Bauer auswendig weiß, worin von der berühmten Herrscherin folgendes erzählt wird: Es war wieder an einem großen Siegesfeiertag. Tamara hatte all ihren kostbaren Schmuck (Edelsteinkrone, Goldspangen und Perlenketten) angelegt. Neuerdings strahlt sie wie die Sonne. Sie will, daß alle sich freuen. Dem Schatzmeister hat sie befohlen, Geschenke und Almosen zu verteilen an alle Großen und alle Kleinen. »Hast du mein Gebot erfüllt?« fragt sie. »Sind alle zufrieden?« – »Herrin,« antwortet der Befragte, »ich habe nach deinem Willen Gaben ausgestreut; nur eine Bettlerin erhielt[160] nichts, denn sie wollte zu dir dringen, um aus deinen Händen das Almosen zu empfangen. Wir ließen sie nicht ein – von uns wollte sie nichts nehmen, und mit erzürnter Miene ging sie davon.« Die Königin ist bestürzt und befiehlt, daß man nach der Bettlerin suche und sie zu ihr bringe. Aber sie harrt vergebens – die Ausgesandten finden das Weib nicht wieder. Da kommt der Königin plötzlich eine Eingebung – sie sinkt kniend vor den Heiligenbildern nieder, bekreuzt sich und ruft in Verzückung: »Ich weiß, ich weiß es nun, wer diese Bettlerin war – du, o heilige Mutter Gottes, hast sie mir gesandt.« Und sie reißt sich alle Schätze vom Leib und trägt alles, die Perlen und die Diamanten, nach dem der Madonna geweihten Kloster Gaenathi.

In diesem Kloster, das in der Nähe von Kutais liegt, soll Tamara auch begraben sein.


Unsere Uebersetzung der »Tigerhaut« ist nicht veröffentlicht worden – aber wir bedauerten nicht die Zeit, die an diese Arbeit gewendet worden. Durch sie und durch die Erzählungen und Betrachtungen, die unser begeisterter georgischer Patriot daran knüpfte, wurden wir noch so recht in das Wesen, in die Geschichte und in den Geist des Volkes und des zauberischen Landes eingeweiht, in dem wir so viele Jahre verbracht; – wir erfuhren die Chroniken all der Familien, mit denen wir verkehrt hatten, und deren Namen – die Orbelianis, die Zeretellis, die Grusinskis, die Dadianis, die Mouchranskis, Tschawtschawadzes – dort einen ebenso stolzen Klang haben wie bei uns die Montmorency, Manchester, Borghese, Liechtenstein u.s.w. Und nicht nur in die Geschichte, besonders in die Natur des Landes konnten wir uns versenken, die Sitten des Volkes in dieser ländlichen Einsamkeit beobachten in den mehr oder minder entlegenen Gasthöfen, wohin uns unser Hausherr zu Hochzeiten, Begräbnissen und Taufen führte.

Aber so interessant uns das alles war, wir zählten die Tage, die uns von unserer Heimkehr trennten, und je näher diese kam, um so heftiger freuten wir uns darauf.[161]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 156-162.
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