9. Das Jahr 1866

[91] Wir reisten nach unserer Badener Villa zurück. Professor Beranek war über Frau Viardot entrüstet. Ich wollte lange Zeit nicht wieder singen. Er brachte mich aber schließlich doch dazu. »Sie werden nicht die erste gewesen sein,« tröstete er mich, »die bei einer Prüfung verkannt worden und dann durch errungene Größe den falschen Propheten zuschanden machte.«

Mein Selbstvertrauen war aber zu stark geknickt. Es erwachte nicht so schnell zu neuer Kraft. Zudem traf mich ein herber Schmerz. Aus Venedig kam die Nachricht, daß meine Cousine Elvira schwer erkrankt sei, daß ihr Brustleiden sich verschlimmert und sie sich legen mußte. Wenige Tage darauf traf die Todesnachricht ein. Zum erstenmal im Leben erfuhr ich, wie es tut, teure Wesen zu verlieren. Eine unbegreifliche Leere, ein unfaßbares Schaudern ...

Die beraubte Mutter kam zu uns. Sie war am Rande der Verzweiflung. Nun war natürlich aller Gesang im Hause verstummt.

Das Jahr 1866 brachte mir noch einen zweiten herben Verlust, den meines vielgeliebten väterlichen Freundes Fürstenberg. Er verschied nach kurzer Krankheit in seiner Wohnung in Wien. Und noch eins brachte das unselige Jahr: den Krieg.

Ich schäme mich, es wieder zu sagen, aber dieses Ereignis machte mir keinen Eindruck – gar keinen. Ich nahm davon Kenntnis, wie man von der Nachricht erfährt, daß irgendwo in der Ferne Ueberschwemmungen oder Brände ausgebrochen seien – Elementarereignisse, recht bedauerlich, aber es wird ja vorübergehen. Und im Grunde, das Ding ist nicht uninteressant – es ist etwas Historisches. Die Preußen werden natürlich Schläge bekommen, und sollten wir die Partie verlieren, so gäbe es nachher doch auch wieder Frieden. Wir hatten niemand Teuern bei der Armee, also waren wir nicht besorgt. Ich las keine Zeitung – und was man so erzählte – Siege der Preußen in Hannover, Frankfurt, später auch in Böhmen – aber es kam uns nicht viel davon zu Ohren. Und wenn auch, ich habe es vergessen. Nichts von alldem ist meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben – ein Beweis, daß es mir gründlich gleichgültig war. Ich kann es heute nicht begreifen, daß ich so stumpfsinnig sein konnte. Auch abgesehen von meinen zukünftigen, so heftigen pazifistischen Gesinnungen, die damals in der Dreiundzwanzigjährigen schon hätten schlummern und bei diesem Anlaß hätten geweckt werden sollen, müßte doch auch, von den landläufigen Gesichtspunkten her,[91] ein so gewaltiges Ereignis mich doch erregt, mit irgendwelchen Gefühlen mich erfüllt haben, sei es patriotische Begeisterung oder menschlich erschütternde Anteilnahme, oder doch nur Angst und Furcht – aber nichts, nichts.

Es wäre nicht nötig, in diesen Erinnerungen das Geständnis einer solchen für eine nachherige Kriegsbekämpferin doppelt beschämenden Tatsache niederzulegen, aber gerade der hier zutage tretende Widerspruch verdient beleuchtet zu werden. Ich glaube, für den Leser von Memoiren ist immer die Beobachtung das Fesselndste, wie und wodurch sich gewisse Schicksale, Talente oder Taten, die man vom Memoirenschreiber kennt, vorbereitet und entwickelt haben; man will verfolgen, welche innere Anlagen und welche äußere Einwirkungen zur Hervorbringung des Gesamtbildes beigetragen haben. Daraus ergeben sich immer nützliche Erkenntnisse und Lehren. Vorausgesetzt natürlich, daß der Selbstbiograph ganz aufrichtig ist. Nützliche Lehren sind nur aus untrügerischen Tatsachen zu schöpfen. Mir selber bietet sich da, indem ich mir meine damalige Auffassung des Krieges vergegenwärtige, eine interessante Betrachtung, eine beherzigenswerte Lektion. Die menschliche Gesellschaft als ein Ganzes durchläuft gerade solche Stadien von wechselnden Ideen, Kenntnissen, Auffassungen und Urteilen wie ein einzelner Mensch. Soll ich heute nicht voll verstehen und voll verzeihen, daß sich die Allgemeinheit in ihrer überwiegenden Masse dem Kriege (wenn er nicht unmittelbar ins eigene Leben eingreift) ebenso kalt, ebenso unbekümmert gegenüberstellt, wie ich selber vor einigen Jahrzehnten? Soll ich darüber staunen, daß diese selbe Allgemeinheit das gelegentliche Ausbrechen von Kriegen als eine Selbstverständlichkeit, eine Naturgesetzlichkeit betrachtet, über die man allenfalls seufzen, aber die man nicht verurteilen und nicht bekämpfen kann? Gegen das Unvermeidliche erhebt man keinen Tadel, führt man keinen Schlag. Und wie das Individuum (in dem vorliegenden Fall ich selber) unter dem Einfluß von Erfahrungen und Ueberlegungen ganz veränderte Anschauungen bekommen kann, so kann und wird auch die Allgemeinheit neue Einsichten gewinnen und danach handeln. Wenn ich heute in gewissen Kreisen verstocktem Unverständnis gegenüber der Friedensbewegung begegne, wenn mir Argumente für die Selbstverständlichkeit und historische Notwendigkeit der Kriegsgeißel entgegengehalten werden, wobei mich Zorn und Entmutigung zu erfassen drohen, so brauche ich nur an meine eigene Vergangenheit zurückzudenken, damit der Aerger erlischt und der Mut wieder steigt. Zudem ist in Sachen Krieg und Frieden die Allgemeinheit nicht einmal mehr in einem[92] solchen Stumpfsinn befangen, denn jetzt hat beinahe schon jeder etwas von der Bewegung wenigstens gehört, und die Zahl derer, die mit ihr sympathisieren oder sich gar daran beteiligen, wächst mit jedem Tag. Immer mehr Leute nehmen Stellung dazu, sei es dafür oder dagegen; aber zu der Zeit, von der ich jetzt erzähle, da wußte in der Tat niemand etwas von der Friedensbewegung, weil es eine solche überhaupt nicht gab, denn das sporadische Auftauchen einzelner Geister, die für die Abschaffung des Krieges eingetreten waren, das kann man nicht »Bewegung« nennen.

Wir verbrachten den Sommer 1866 wieder in Homburg v. d. H., und obwohl der Krieg bis in die nächste Nähe drang, in dem Bade- und Spielleben des kosmopolitischen Kurortes war nichts davon zu verspüren. Die Kurmusik spielte, die Patti sang, der durch sein Spielglück berühmt gewordene Spanier Garcia fuhr fort, am Trente-et-quarante-Tisch täglich hunderttausend Franken einzuheimsen, bis er eines schönen Tages doch zu verlieren begann und allmählich seine ganzen gewonnenen Millionen anbaute und von seinen eigenen dazu.

Die Fürstin von Mingrelien mit ihrer Familie war wieder anwesend, und ich verbrachte viele Stunden des Tages in ihrer Gesellschaft. Jetzt war die Tochter, Prinzessin Salomé, achtzehn Jahre alt, dem Kinderzimmer entwachsen, und ich pflegte nun ebenso lebhaften Umgang mit dieser, wie mit ihrer Mutter. Im Alter paßten wir zwei Mädchen sogar besser zueinander; zudem kam, daß wir zusammen Reitunterricht nahmen und täglich miteinander, unter der Aufsicht des Reitlehrers, Morgenritte in die Alleen des Parkes machten. Dabei plauderte es sich prächtig, und wir schlossen bald herzliche Freundschaft. Salomé sollte im kommenden Winter in Petersburg zu Hof und in die Gesellschaft geführt werden – mit frohen Hoffnungsplänen blickte sie in die Zukunft; ich hingegen kehrte mehr die Melancholische und Resignierte heraus, die vom Leben nicht mehr viel erwartete. Die beiden Todesfälle, durch die mir geliebte Wesen entrissen worden, hatten mich wirklich schwermütig gemacht, und der Zusammensturz meiner Künstlerträume ließ mir eine tiefe Mißstimmung zurück, doch erzählte ich nichts von dieser Sache. Ich vertraute meiner neuen Freundin nur an, daß ich ihren Onkel Heraclius vor zwei Jahren geliebt – jetzt hatte ich mir die unglückliche Leidenschaft zwar aus dem Kopf geschlagen, aber eine gewisse Schwermut war doch zurückgeblieben. Salomé lachte mich darüber nur aus.

»Wie konnte man sich nur in einen so gelben, galligen, alten[93] Herrn verlieben! Nein, nein, Contessina, da werden Sie schon noch einen ganz anderen finden.«

Die beiden Söhne Dedopalis waren nun auch zu großen, hübschen Jünglingen herangewachsen. Prinz Niko, der Aelteste, verursachte uns allen einmal einen schönen Schreck. Er sollte ein Duell haben. Er hatte einem Pariser Dämchen zu heftig nachgesetzt und darüber war ein Rivale in Zorn geraten, böse Worte wurden gewechselt, und der andere kündigte an, daß er am nächsten Tag seine Sekundanten schicken würde. Der Auftritt hatte Zeugen gehabt und die alte Fürstin erfuhr davon. Weinend und zitternd erzählte sie mir das vorgefallene Unglück, und ich weinte und zitterte mit ihr. Es ließ sich ja nichts machen, Duelle gehören doch auch zu unausweichlichen Weltordnungseinrichtungen – welcher junge Edelmann könnte sich dem entziehen? Traurig war sie, die Sache, allerdings, aber es fiel niemand in unserem Kreise ein, gegen den Widersinn einen aufrührerischen Gedanken zu hegen. Von einer Antiduelliga war damals noch ebensowenig die Rede wie von einer Liga gegen Völkerduelle. Dem Morden und Gemordetwerden ausgesetzt zu sein, das gehörte nun einmal schon zu den ritterlichen und patriotischen Lebensnotwendigkeiten der Männer. Und die Frauen können da nichts anderes tun, als scheu bewundernd weinen.

Der Zweikampf kam aber nicht zustande – war der Gegner abgereist oder war es den Zeugen gelungen, eine Versöhnung herbeizuführen, ich kann mich dessen nicht erinnern: ich weiß nur, daß die drohende Wolke sich verzog und daß wir alle sehr glücklich waren. Meine wirklich innig gefühlte und spontan gezeigte Teilnahme hatte mich der mingrelischen Familie noch viel näher gebracht, und besonders Prinz Niko selber hat es mir sein Leben lang nicht vergessen, daß ich die Gefahr, in der er geschwebt, mir so zu Herzen genommen hatte.


Als wir im Herbste heimkehrten, war der Krieg zu Ende. In unserer Badener Villa war noch ein sächsischer Offizier einlogiert. Höflichst stattete er uns einen Besuch ab. Ich glaube nicht, daß wir viel über den beendeten Feldzug gesprochen, denn ich erinnere mich nur daran, daß ich dem Herrn Leutnant bei dessen wiederholter Visite, die zugleich eine Abschiedsvisite war, etwas vorgesungen habe; ich weiß auch noch, was es war: das Adagio aus der großen Arie der »Nachtwandlerin«: »Ah non credea ...« Der sächsische Krieger war entzückt:

»Gnädigste Komtesse singen ja wie die Patti!«[94]

»Dieser junge Mann hat ein großes Kunstverständnis,« bemerkte meine Mutter, als der Leutnant fort war.

»Und willst du denn wirklich dabei bleiben,« versetzte sie nach einer Weile, »auf die künstlerische Karriere zu verzichten – ist das vernünftig, ist das mutig?«

»Aber das Urteil der Viardot ...« warf ich zögernd ein.

»Die Viardot ist auch nicht unfehlbar, und wärest du nur eine Zeitlang bei ihr geblieben ...«

»Um keine Welt wäre ich ihr mehr unter die Augen gekommen!«

»Es gibt ja auch andere große Gesangsmeister; wir wollen den Beranek fragen.«

Herr Beranek war noch immer unser Mieter und natürlich gleich bereit, auf die Wiederaufnahme der Gesangspläne einzugehen. Als Große unter den Gesangslehrern nannte er uns Lamperti in Mailand, Duprez in Paris und die Marchesi in Wien. Von Wien wollte ich nichts wissen, aber indem ich diese Einschränkung aussprach, hatte ich schon schweigend zugegeben, daß ich vielleicht doch in Mailand oder Paris den in Baden-Baden so jäh abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen mich bereit fände. Und so kam es allmählich auch. Ich sagte kein entschiedenes »Nein« mehr, wenn man mir von einer Künstlerzukunft sprach, ich nahm die Beranekschen Stunden von neuem auf; die alte Liebe zum Gesang, die alten Ehrgeizpläne, das alte Selbstvertrauen erwachten und verstärkten sich wieder; der Entschluß, im Studium auszuharren und es bei einem berühmten Meister fortzusetzen, reifte in mir. Ich schrieb an Meister Duprez in Paris einen Brief, um anzufragen, ob er einer ehrgeizigen, begeisterten Schülerin Aufnahme gewähren wolle, was er bejahte, und so kam es, daß mein Leben wieder »das Wichtige« gefunden hatte.

In Baden lebte damals ein alter Hagestolz, einstiger Gesandter, mit dem wir häufig verkehrten. Baron Koller war sein Name. Groß, sehr mager, glatt rasiertes Gesicht, äußerst korrekt und elegant in seiner Kleidung. Er besaß in der Nähe des Kurparkes ein von außen unscheinbares, aber von innen mit erlesenem Geschmack eingerichtetes Haus. Hier gab er uns manchmal kleine Diners ... Die Besichtigung der Erinnerungsschätze, die er in seinen Zimmern angebracht hatte, waren mir ein großer Genuß. Ich »blätterte« in diesen Räumen wie in einem interessanten Memoirenbuch. Von weiten Reisen, von elegantem Hof- und Salonleben und von intimen Herzensromanen erzählten alle diese Stoffe, Waffen, Nippes und Frauenporträte. Und der Hausherr selber: ancien régime in seinen[95] Manieren, geistesfunkelnd in seiner Unterhaltung. Es entspann sich zwischen dem alten Herrn und mir eine Art – wie soll ich sagen? »Espritflirt« – ein Hin- und Herschleudern von Konversationsfedernballen. An meiner Beherrschung der französischen Sprachfeinheiten hatte er eine besondere Freude, und weil ich das fühlte, komponierte ich in dieser Sprache ein ganzes Heftchen über sein Heim, knüpfte an die verschiedenen Dingelchen und Bilder kleine Novellenkapitel und allerlei Aperçus. Das schrieb ich zierlich ab, heftete es mit blauen Bändchen und schickte es ihm. Er gab es mir dann – leihweise – mit seinen Randglossen zurück, ich sollte sehen, welches Entzücken ihm die Lektüre bereitet hatte, ein Entzücken, das mit Unterstreichungen, Ausrufungszeichen und einzelnen kurzen Sätzen ausgedrückt war. Einmal verehrte er mir eine Schale aus altem Porzellan mit der Inschrift: »Respice finem.« Darauf antwortete ich mit einigen gereimten Zeilen, deren Text ich in meinem damaligen Tagebuch aufnotiert finde:


Respice finem.


Zu kluges Wort, ein Hemmnis dem Beginnen,

Das kühne Taten scheut in zauderhaftem Sinnen;

Das mit berechnend kaltem Geist

Das Heute wegen Morgen von sich weist,

Und das manchen, der zu viel ans End' gedacht,

Verzagt und klügelnd um sein Glück gebracht.

Wagen und Beginnen liegt in jedes Menschen Hand –

Das Ende hat kein Weiser noch erkannt.

Es trifft nicht in die vorgedachte Bahn,

Wie sie ersonnen hat des Grüblers Wahn;

Drum hat sich arg getäuscht, wer an das End' gedacht,

Wenn er zu lichten wähnt der Zukunft dunkle Nacht.

Des Daseins höchste Frag' ist: Werden und Bestehen,

Es wirke alles ohne Sorge ums Vergehen.

Die Blüte denkt ans Welken nicht,

Ums Löschen unbekümmert strahlt das Licht;

Im Weltenplan hat Gott ans Ende nicht gedacht,

Denn was er schuf, hat ohne Ende er gemacht.


Oft sandte er mir Bücher aus seiner Bibliothek, über die ich ihm dann meine Eindrücke niederschrieb, und so gingen die Botschaften, Blumen, Bonbons und Manuskripte hin und her – ein richtiger Flirt. Aber ganz ohne erotischen Untergrund; der galante Diplomat hätte ja mein Großvater sein können.[96]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 91-97.
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