8. Kunstnoviziat

[83] Es dauerte übrigens nicht gar zu lange und das Bild des georgischen Prinzen war in meiner Erinnerung verblaßt. Und allmählich ward mir wieder etwas ganz Neues zum Lebensziel, zum »Wichtigen«.[83]

Wir kehrten nach Baden zurück – sehr enttäuscht; meine Mutter in ihren großen Gewinsthoffnungen, die mit nicht unbedeutender Verlustgewißheit vertauscht werden mußten – und ich in meinem getäuschten Liebestraum, und da wollten wir recht still und sparsam in unserem Landhaus leben, und auch den Winter da in Zurückgezogenheit zubringen.

Wir hatten eine Mietpartei im Hause – einen alten Musiklehrer, gewesenen Kapellmeister. Der ließ sich eines Tages bei uns melden.

»Verzeihen Sie, Frau Gräfin, und verzeihen Sie, Komtesse, daß ich mir erlaube vorzusprechen, aber ich halte es für meine Pflicht – – es handelt sich vielleicht um etwas Großes, Seltenes ... etwas Außerordentliches im Schicksal der Komtesse, etwas, das – –« Er suchte nach Worten.

»Nun, was wollen Sie sagen?« fragte meine Mutter, und auch ich war gespannt ... (etwas Großes, Seltenes – danach blicken ja die Lebenshungrigen immer sehnsüchtig aus).

»Ich habe schon öfters die Komtesse singen gehört – sie hat gar keine Schule – aber eine Stimme hat sie, wie sie nur alle hundert Jahre einmal vorkommt, wie ich sie seit Jenny Lind nicht mehr gehört und die wirklich ganz an die Jenny Lind erinnert. Derselbe Schmelz, dieselbe Kraft, dasselbe gewisse Etwas ... kurz, die Komtesse hat Millionen in der Kehle, hat eine Ruhmeslaufbahn vor sich, wenn sie will – das habe ich sagen müssen.« –

Also doch: Glanz und Glück konnte mir beschieden sein – – ich zweifelte gar nicht an dem Kunstverständnis des Musiklehrers und erfahrenen Kapellmeisters. Meine Mutter war gleichfalls entzückt. Ihre alte Vorliebe für den Beruf einer großen Sängerin, den sie in der Jugend für sich selber so ersehnt hatte, ließ sie jetzt mit Wonne die Hoffnung fassen, daß die einstigen Träume in der Tochter verwirklicht werden könnten. Und die Millionen, die in ihrer Kehle verdorren mußten, die schon so zuversichtlich erwarteten Millionen, die der abscheuliche Trente-et-quarante-Tisch verweigert hatte, die sollten doch noch unserem Hause zufließen! Sie einigte sich sofort mit dem Musiklehrer, daß er mir täglich Unterricht geben solle. Professor Beranek war in der Tat Gesangsmeister am Konservatorium gewesen und hatte mehrere bedeutende Opernkünstler ausgebildet; es konnte ihm also meine »Stimmbildung« anvertraut werden. Während eines Jahres wollte er mich unterrichten, mich vollkommen musikalisch machen, der Stimme die gehörige Lage und Geläufigkeit geben; hernach müßte ich noch ein Jahr oder zwei bei[84] einem italienischen Meister studieren, um dann als Stern erster Größe am musikalischen Himmel aufzugehen. Die italienische Karriere mußte ich einschlagen – das stand fest; darauf bestand schon meine Mutter, die noch immer den Namen der Pasta und Grisi und Malibran im Kopfe hatte, und nur wenn man von Paris nach London, von Mailand nach Madrid, von Petersburg nach Amerika reiste, konnte man die bewußten Millionen und jenen Weltruhm erwerben, der aus Gesangskünstlerinnen halbe Königinnen macht. Ach ja – Kronen – danach lechzte mein junger Ehrgeiz. Mit der Königskrone von Georgien war es nichts gewesen, die war zerflattert samt der Liebe ... statt dessen sollte nun der Ruhm mich krönen, und an Stelle der Liebe – die Kunst. Für die Kunst kann man ja ebenso leidenschaftlich entbrennen wie für einen geliebten Gegenstand. Wer die Kunst liebt und glücklich, d.h. als Könnender liebt, dem kann das Leben vollbefriedigend ausfallen.

Nun kam eine Zeit für mich, ein ganzes Jahr, da ich nur mehr für eines lebte: dem Gesang – das war nun zum »Wichtigen« geworden. Schon am Tage nach der Unterredung begann der Unterricht. Damit dieser schnell vorschreite und ich in einem Jahr so weit kommen sollte wie andere durch einen langjährigen Konservatoriumskursus, wurden die Lektionen auf vier Stunden täglich festgesetzt. Zwei Stunden vor- und zwei Stunden nachmittags – mit der nötigen Ruhepause dazwischen. Skalensingen, Vokalisen, Partiturlesen, Harmonielehre: gründlich musikalisch sollte ich werden; ebenso phänomenal an Kunstdurchbildung wie an Stimmbegabung – – einfach die größte Sängerin des Jahrhunderts. Herr Beranek geriet täglich in Ekstase und erhielt uns so in der Vorstellung, daß sich wirklich das Wunderbare eingestellt, daß ein enormer Haupttreffer in der Lebenslotterie mir zugefallen war. Oder vielmehr ein Schatzfund war uns in sicherer Aussicht, aber danach mußte erst gegraben werden. Und ich grub und grub mit einem Fleiß, einer Ausdauer, einer Freude, daß es eine Art hatte. Nichts von früh bis abends, nichts durch die langen Monate des Herbstes, des Winters, des Frühjahres als Noten – gesungene, gespielte, gelesene, geschriebene Noten und doch: – es war eine ganze Welt – voll Süße und Schönheit, voll Begeisterung, voll stolzer Befriedigung. Ich weiß nicht, ob eine erfolgreiche Primadonnenlaufbahn (ich habe sie ja nie erreicht) wirklich so viel Glück in sich birgt, als man in der studiumgefüllten, siegessicheren Vorbereitung dazu empfindet.

Als Lehrmaterial bestellten wir eine ganz kleine Notenbibliothek: Garcias Gesangschule in zwei großen Bänden; die Partituren sämtlicher[85] Opern, die auf mein Zukunftsrepertoire gestellt waren. Alle mit italienischem Text. Ein einförmiges Leben war das nicht. Im Gegenteil: voll der Tragik, der Leidenschaft, des überschäumenden Frohsinns, der zärtlichsten Hingebung, des heroischesten Schwunges, der Grabesschauer und der Hochzeitfreuden, kurz all der Gefühle und Schicksale, mit welchen die Heldinnen meiner Opernpartituren ausgestattet waren. Norma, Amina, Traviata, Lucia, Linda – die waren ich selber – eine nach der anderen, wenn ich am Klavier saß und die Texte und Melodien memorierte, in denen all das Traurige und Fröhliche, Süße und Schreckliche ausgedrückt war, das ich mit aller Kraft nachzuempfinden mich bemühte, um es einst sieghaft in die Seelen meiner Lauscher zu übertragen. Und die Edgardos und Manricos, Gennaros und Alfredos, die meinen Sopran in harmonischen Terzen und Sexten begleiten sollten, die sah ich auch vor mir, die liebte ich einfach. Nicht etwa die Sänger stellte ich mir dabei vor – die würden mir gleichgültig bleiben –, sondern die vom Dichter und Komponisten geschaffenen Gestalten und ihren ganzen Heroismus, ihre ganze Poesie. So schwärmt man ja auch als junge Schillerleserin für die Don Carlos und Posas, die Ferdinands und Karl Moors – nur kommt beim Opernstudium noch das unsagbare Etwas hinzu, das den Zaubertönen der Musik entquillt. Die Musik sagt Dinge, die in keiner Sprache enthalten sind. Was mitunter aus einer Tonfolge, aus einem Zusammenklang, aus einer Steigerung der Rhythmen hervorzudringen vermag, das kann man mit Worten ebensowenig wiederholen wie etwa den Duft von Blumen, wie den Geschmack einer Frucht. Es gibt Melodien, die etwas erzählen, Arpeggien, die streicheln, Akkorde, die brennen – bei manchen Taktfolgen fühlt man, als ob – – nun bemühe ich mich doch, Worte zu finden für das, von dem ich eben sagte, daß es jenseits der Sprache liegt; es ist vergebens. Hundertmal stärker aber ist noch der Genuß des Musikzaubers, wenn man nicht nur als Aufnehmender, sondern als Gebender, als Schaffender sich damit erfüllt – wenn man selber dieses Geheimnisvolle und Unsagbare in die Seelen der anderen hinüberleitet, wenn man fühlt, daß Tausende von Zuhörern von dem gleichen Wogen der Leidenschaft, des Entzückens, des Jubels oder des Schmerzes ergriffen sind.

Freilich empfand ich dies alles nicht als Wirklichkeit, sondern nur als Vorgeschmack eines Zukünftigen – aber eines Zukünftigen, an dem ich nicht zweifelte, das mir wie ein unendlicher Reichtum dünkte, dessen Goldwert ich zwar nicht in Händen hielt, dessen sichere Wechsel aber in meinem Besitz waren. Nicht nur das Rollenstudium[86] war mir ein solcher Genuß, auch das bloße Skalenüben und Rouladenkomponieren, die trockene Arbeit der Technik meiner Kunst bot mir erhebende, beglückende Sensationen. Denn der Begriff »Kunst« hatte mich mit der ganzen Gewalt ergriffen, die ihm innewohnt und die eine Folge jenes Kultus ist, der in kunstgeschichtlichen Büchern mit der Kunst, und im Publikum mit den Künstlern getrieben wird. Man fühlt sich – wenigstens ich fühlte mich – wenn ich für den gewählten Beruf studierte, mit einer Mission betraut, der etwas Priesterliches, Heiliges anhaftete. Ob nicht auch Eitelkeit mit im Spiele war? Ob ich mich nicht darauf freute, mehr Bewunderung einzuflößen, Weltruhm zu genießen (denn Geringes erwartete ich nicht, dank des unermüdlichen Lobes und Staunens meines Meisters), oder auch darauf mich freute, daß die von mir dargestellte Heldin so anmutig verkörpert sein würde, daß die glänzende Atlasschleppe der ersten Akte, meine große und schlanke Figur so zur Geltung bringen, und die aufgelösten Haare der tragischen Schlußszene in echter und welliger Fülle bis über die Knie hinabfallen würden? Würde ich – von der Macht des Gesanges abgesehen – auch als Weib die Herzen entflammen? O, aber nichts, nichts durfte und konnte mich der Kunst abwendig machen; alle Huldigungen würde ich von mir weisen, jede unlautere Zumutung würde die stolze Dame in mir zurückstoßen, und jede Verlockung, der Bühne zu entsagen und in die Ehe zu treten, würde die stolze Künstlerin unberührt lassen – wer auf der höchsten Höhe der Kunst steht, der gehört ihrem Tempeldienst auf immerdar: das waren so meine Gesinnungen und Gedanken, wenn ich Solfeggien übte oder meine Harmonielehraufgaben schrieb – und ich war glücklich dabei.

Wir lebten ganz zurückgezogen; mein Vormund besuchte uns nur ein-, zweimal im Monat, und ihm wurde von den Gesangsplänen nichts verraten. Erst das Fait accompli – wenn ich nämlich mit durchschlagendem Erfolg an einer großen Bühne aufgetreten war – sollte er erfahren. Mit den in Baden überwinternden Familien pflegten wir keinen Verkehr, und niemals fuhren wir nach Wien. Es war ein strenges Kunstnoviziat – nichts sollte mich vom Studium zerstreuen, nichts anderes meine Zeit füllen als Lernen, Lernen, Lernen. Ich war ja nicht mehr so jung, und mußte in einem Jahr einholen, was andere Schüler in vier oder fünf Jahren absolvieren. Nur mit einer einzigen Familie kamen wir manchmal zusammen – es waren dies zwei alte Generalstöchter und deren Bruder, ein ebenfalls schon bejahrter, pensionierter Husarenoberleutnant, der eine Baritonstimme besaß und seinen Beruf – Opernsänger zu werden – zu seinem[87] großen Leidwesen verfehlt hatte. Mit diesem sang ich, ohne ihn übrigens meine Zukunftspläne ahnen zu lassen, italienische Duette. Eigentlich nur ein Duett, mehr hatte er nicht auf dem Repertoire. Es war der Auftritt zwischen Bruder und Schwester aus »Lucia von Lammermoor«. Wir trugen das Stück dramatisch vor, auswendig und mimend, wobei ich mich in meine winkende Zukunft und mein Partner sich in seine versäumte Vergangenheit versetzte. Er war überzeugt, daß er ein großer Sänger geworden wäre, geradeso wie ich von meiner kommenden Größe überzeugt war, und vermutlich war seine melancholische Ueberzeugung ebenso trügerisch wie meine freudige. Ich erinnere mich, daß uns das Duett viel Studium kostete, bis es zusammen ging. Der Oberleutnant war nicht besonders musikalisch und nicht taktfest, auch bei mir haperte es beträchtlich; denn ich hatte bei meinem Lehrer überhaupt noch nicht begonnen, Arien zu singen – er hielt strenge darauf, daß ich nichts als Skalen und Solfeggien übte – das Lucia-Duett, das im Hause der Schwester Cortesi aufgeführt wurde, blieb vor meinem Meister sündhaft verschwiegen.

Nach ungefähr anderthalb Jahren dieses Vorbereitungskurses erklärte Professor Beranek, daß es nunmehr an der Zeit sei, unter einem berühmten Gesangsmeister meine Studien zu vollenden. Unsere Wahl fiel auf Pauline Viardot Garcia. Aus ihrer Hand waren viele Künstlerinnen hervorgegangen, und überhaupt: die zweibändige Schule Garcias war mein Evangelium gewesen – zu wem hätte ich größeres Vertrauen hegen können als zu der Tochter des unvergleichlichen Meisters? So ging denn ein Brief nach Baden-Baden ab. Es wird ein überschwenglicher Brief gewesen sein. Ich wußte, daß Madame Viardot sehr wählerisch war und viele, die bei ihr Unterricht nehmen wollten, abwies. Es war eine ganz besondere, nur wirklichen Talenten gewährte Gunst, bei ihr Aufnahme zu finden. Ich suchte daher schon durch meinen Brief sie für mich zu stimmen. Von meinem Talent (obwohl ich auf die Bürgschaft meines Meisters hin daran keinen Zweifel hegte) konnte ich nicht gut reden, also werde ich von Kunstbegeisterung, von Berufsfeuer und ähnlichen abgedroschenen Dingen desto mehr geschrieben haben, und natürlich auch darauf hingewiesen, daß ich mich nur dem ersten Meister der Welt anvertrauen wolle. Genug – Madame Viardot antwortete, ich möge kommen, um mich von ihr prüfen zu lassen.


Wir fuhren, meine Mutter und ich, ohne Aufenthalt nach Baden-Baden. Am bestimmten Tag und zur bestimmten Stunde[88] fanden wir uns in der Villa Viardot ein. Man wies uns in einen kleinen ebenerdigen Salon und hieß uns ein wenig gedulden. Ich sehe noch das Klavier in der Ecke rechts beim Fenster. Zahlreiche Notenregale mit Partituren; Bilder und Photographien von Künstlern an der Wand, durch die offene Balkontüre ein Blick auf den Garten. Im Hintergrund von diesem ein Pavillon – wahrscheinlich die Wohnung Iwan Turgeniews, Madame Viardots langjährigem Freunde.

Mich befiel in dieser Wartezeit eine höllische Angst. Etwas, das ich im Leben noch nie empfunden. Etwas wirklich Atemraubendes, Qualvolles. Ist das also das, was man Lampenfieber – »le trac« – nennt? Das ist ja gar nicht unähnlich dem, was man empfinden muß, wenn man sich zur Guillotine begibt! Wie soll man denn in solchem Zustand – daß Gott erbarm! – singen können?

»Mama,« klagte ich, »ich werde keinen Ton hervorbringen.«

»Sei nicht kindisch! Wenn man eine solche Stimme hat, wer wird da ängstlich sein? Sie wird sich glücklich schätzen, die Viardot, eine solche Schülerin zu bekommen.«

Die Türe aus dem Nebenzimmer öffnete sich und herein trat die Gefürchtete. Eine lebhafte, elegante Frau, Vierzigerin, mit nicht schönen, aber interessanten Zügen. Ein paar einleitende Gespräche, an die ich mich nicht erinnere, und dann ward ich zum Richtplatz – will sagen Klavier geschleppt.

»Haben Sie Noten mitgebracht? Was werden Sie mir vorsingen?«

»Ich kann nur Skalen und Uebungen.«

»Daraus läßt sich wohl die Stimme, aber nicht das Talent, nicht der Grad des Könnens beurteilen.«

»Also bitte, das Duett mit dem Bariton aus »Lucia«.

»Ein Duett?«

»Ja, gnädige Frau, ich habe überhaupt bisher noch keine Stücke gesungen – nur dieses kann ich zufällig.«

»Meinetwegen.« Sie suchte die Partitur heraus und spielte die Einleitung. Meine Kehle war ganz zugeschnürt. Zitternd setzte ich ein. Nach einer Weile aber befestigte sich die Stimme und nach einigen Takten ging es zu meiner eigenen Befriedigung weiter. Mama nickte zustimmend – ich glaubte mein Bestes gegeben zu haben.

Die Meisterin aber klappte die Partitur mitten in einem Takte zu und sagte:

»Sie können in der Tat gar nichts.«[89]

Es war, als hätte man mir gleichzeitig eine Ohrfeige und einen Dolchstich versetzt.

»Versuchen wir also jetzt noch notes filées ... um zu sehen, was sich aus dem Material machen läßt – Stimme ist ja da ...«

Und sie schlug das tiefe C an. Diese Probe ward mir leichter. Dennoch konnte ich nicht alles geben, was ich besaß – die Töne waren belegt und der Atem kurz. Nachdem die zwei Oktaven bis zum hohen C durchprobiert waren, stand die Meisterin auf. –

»Wie alt sind Sie,« fragte sie.

»Zwanzig vorüber,« antwortete ich mit einer halben Lüge, denn ich war ja doch schon zweiundzwanzig.

»Das ist zu spät, um ganz von vorn anzufangen. Mit zwanzig soll man schon ausgebildet sein. Und sagen Sie mir, warum wollen Sie eigentlich zur Bühne? Sie gehören ja, wie mir Ihr Name besagt, zur Gesellschaft?«

Ich antwortete etwas von Ehrgeiz und Liebe zur Kunst.

»Das ist alles ganz schön – aber ich kann Ihnen nur raten, geben Sie Ihre Stellung nicht auf. Ihre Stimme ist nicht schlecht, aber nicht außerordentlich, und ob Sie etwas lernen können, ist ja fraglich.«

»Talent hat sie, Madame,« versicherte meine Mutter. »Und unter Ihrer Leitung würde es sich ganz gewiß entfalten.«

»Ich kann aber heute nicht sagen, ob ich diese Leitung übernehme. Erst müßte das Fräulein einige Lektionen nehmen und dann erst würde ich mich aussprechen, ob ich fortsetzen will – ja oder nein. Nach meinem heutigen Eindruck ist wenig Chance für ja.«

»Ach, urteilen Sie nicht nach der heutigen Probe, das arme Kind war so ängstlich ... ich habe sie gar nicht erkannt.«

»Wenn man an Angst leidet, ist man für die Künstlerlaufbahn nicht geeignet – ein Grund mehr, um zu verzichten.«

»Die Furcht verschwindet durch die Gewohnheit,« entgegnete meine Mutter.

»Also gut – kommen Sie künftigen Montag wieder um dieselbe Stunde.« Und wir waren entlassen.

Wir kehrten ins Hotel zurück, und hier machte ich meinem verhaltenen Schmerz in einem Tränenausbruch Luft.

»Nie mehr, nie mehr betrete ich die Viardotsche Villa! Reisen wir ab, Mama – ich will mich vor dieser Frau nicht mehr blicken lassen – es ist aus ... alles ist aus! ...« Meine Welt lag in Trümmern. »Das Wichtige« war vernichtet.[90]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 83-91.
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