43. Kapitel

In dem der Leser das Kap der Guten Hoffnung umschiffen muß

[121] Wir müssen den erstaunten Leser auffordern, sich zweitausend Meilen weit nach der Militärstation Bundlegunge in der Präsidentschaft Madras in Indien zu begeben, wo unsere tapferen alten Freunde vom ...ten Regiment unter dem Kommando des braven Obersten Sir Michael O'Dowd einquartiert sind. Die Zeit ist sanft umgegangen mit dem ehrlichen Offizier, wie gewöhnlich mit Menschen, die einen guten Magen und ein gutes Gemüt besitzen und ihr Gehirn nicht übermäßig anstrengen. Der Oberst führt ein gutes Messer und eine gute Gabel beim Frühstück und bedient sich dieser Waffen wiederum mit dem besten Erfolg beim Mittagessen. Nach dem Essen raucht er stets seine Wasserpfeife und[121] pafft unter dem Schimpfen seiner Frau ebenso gelassen wie unter dem Feuer der Franzosen bei Waterloo. Alter und Hitze haben weder der Lebhaftigkeit noch der Beredsamkeit des Abkömmlings der Malonys und Molloys etwas anhaben können. Lady O'Dowd, unsere alte Bekannte, ist in Madras ebenso zu Hause wie in Brüssel, im Winterquartier ebenso wie im Zelt. Auf dem Marsch sah man sie an der Spitze des Regiments auf einem königlichen Elefanten reiten – ein herrlicher Anblick! Auf diesem Tiere sitzend, hat sie im Dschungel mit Tigern gekämpft. Sie ist von eingeborenen Fürsten empfangen worden, die sie und Glorvina in den Tiefen der Frauengemächer begrüßten und ihnen Schals und Juwelen boten, die sie nur mit blutendem Herzen ausschlagen konnte. Die Schildwachen aller Waffengattungen salutieren, wenn sie sich zeigt, und sie legt als Erwiderung ernsthaft die Hand an den Hut. Lady O'Dowd ist eine der bedeutendsten Damen in der Präsidentschaft Madras. Ihr Streit mit Lady Smith, der Frau von Sir Minos Smith, dem Unterrichter, lebt noch im Gedächtnis einiger in Madras. Die Obristin schnippte der Richtersfrau mit dem Finger ins Gesicht und sagte, sie würde nicht einen Fuß vor einem lumpigen Zivilisten weichen. Selbst jetzt noch, nach fünfundzwanzig Jahren, erinnert man sich, wie Lady O'Dowd einen Gigue im Gouverneurspalast tanzte, wobei sie zwei Adjutanten, einen Major von der Madraskavallerie und zwei Herren vom Zivildienst außer Atem tanzte, und nur durch die Überredungskünste Major Dobbins, Trägers des Bath-Ordens und des Zweithöchsten des ...ten Regiments, ließ sie sich überreden, in den Speiseraum zu kommen. Lassate, nondum satiate recessit.1

Peggy O'Dowd ist in der Tat noch ganz die alte: gütig in Wort und Tat; hitzig im Temperament, begierig aufs Kommandieren, eine Tyrannin für ihren Michael, ein Drache unter allen Frauen ihres Regiments, eine Mutter für die jungen Offiziere, die sie in Krankheiten pflegt und denen sie aus der Klemme hilft. Und bei ihnen ist Lady Peggy ungemein beliebt.[122] Die Unteroffiziers- und Hauptmannsfrauen (der Major ist unverheiratet) verschwören sich jedoch häufig gegen sie. Sie sagen, Glorvina sei schrecklich eingebildet und Peggy selbst unerträglich befehlshaberisch. Sie mischte sich in eine kleine Gemeinde ein, die Mrs. Kirk zusammengebracht hatte, spottete die jungen Männer von den Predigten der Dame weg und erklärte, einer Soldatenfrau komme es nicht zu, ein Pfaffe zu sein; Mrs. Kirk solle lieber ihrem Mann die Kleider flicken, und wenn das Regiment Predigten brauche, so habe sie selbst die schönsten der Welt – die ihres Onkels, des Dekans. Sie bereitete einer Liebschaft, die Leutnant Stubble vom Regiment mit der Frau eines Arztes angefangen hatte, ein plötzliches Ende, indem sie dem Leutnant drohte, das Geld zurückzufordern, das sie ihm geliehen hatte, wenn er nicht sogleich Schluß mache und auf Krankenurlaub zum Kap ginge (der junge Bursche war nämlich immer noch sehr verschwenderisch). Auf der anderen Seite gewährte sie Mrs. Posky Schutz und Obdach, als diese eines Abends aus ihrem Bungalow floh, verfolgt von ihrem wütenden Ehemann, der seine zweite Flasche Branntwein in der Hand schwang. Sie brachte Posky tatsächlich durch das Delirium tremens und gewöhnte ihm das Trinken ab, das diesen Offizier in seine Macht bekommen hatte wie alle schlimmen Gewohnheiten die Menschen. Mit einem Wort: Im Unglück war sie die beste Trösterin, im Glück die lästigste Freundin, sie hegte stets die beste Meinung von sich und eine unbesiegbare Entschlossenheit, in allem ihren Willen zu bekommen.

Unter anderem hatte sie beschlossen, daß Glorvina unseren alten Freund Dobbin heiraten sollte. Mrs. O'Dowd kannte die Aussichten des Majors und würdigte seine guten Eigenschaften und die hohe Wertschätzung, deren er sich in seinem Beruf erfreute. Glorvina, eine sehr hübsche, rotwangige, schwarzhaarige, blauäugige junge Dame, die es mit jedem Mädchen der Grafschaft Cork im Reiten und Sonatenspielen aufnehmen konnte, schien ihr gerade die Richtige zu sein, um[123] Dobbin glücklich zu machen – viel mehr als die arme, brave, mutlose kleine Amelia, die ihm so sehr am Herzen lag.

»Schauen Sie Glorvina an, wenn sie ins Zimmer tritt«, pflegte Mrs. O'Dowd zu sagen, »und vergleichen Sie sie mit der armen Mrs. Osborne, die keine Gans erschrecken kann. Sie ist Ihrer würdig, Major – Sie selbst sind ein ruhiger Mann und brauchen jemanden, der für Sie spricht. Und wenn sie auch nicht von so gutem Blute ist wie die Malonys oder die Molloys, so kann ich Ihnen doch sagen, daß sie aus einer alten Familie ist, in die hineinzuheiraten jeder Edelmann stolz sein könnte.«

Ehe jedoch Glorvina zu dem Entschluß gekommen war, Major Dobbin durch ihre Reize zu unterjochen, hatte sie, wie wir gestehen müssen, ihre Künste schon an anderen Orten ausgiebig erprobt. Sie hatte eine Saison in Dublin mitgemacht und wer weiß wie viele in Cork, Killarney und Mallow. Sie hatte mit allen heiratsfähigen Offizieren geflirtet, die die Garnisonen ihres Vaterlandes aufweisen konnten, und mit allen unverheirateten Landedelleuten, die eine gute Partie schienen. Außer mit dem Geistlichen in Bath, der sie so schlecht behandelt hatte, war sie schon in Irland ein dutzendmal verlobt gewesen. Auf der ganzen Überfahrt nach Madras hatte sie mit dem Kapitän und ersten Offizier des Ostindienfahrers »Ramchunder« geflirtet und eine Saison in der Präsidentschaft mitgemacht, mit ihrem Bruder und Mrs. O'Dowd, während der Major das Regiment kommandierte. Jedermann hatte sie dort bewundert, jedermann hatte mit ihr getanzt, aber es machte ihr niemand, bei dem die Heirat gelohnt hätte, einen Antrag. Ein paar sehr junge Unteroffiziere und einige bartlose Zivilisten himmelten sie an, aber die wies sie zurück, da sie ihren Ansprüchen nicht genügten; und andere jüngere Jungfrauen verheirateten sich vor ihr. Es gibt Frauen, und noch dazu hübsche Frauen, denen ein solches Los im Leben zufällt. Sie verlieben sich mit der größten Bereitwilligkeit, reiten und gehen mit der halben Rangliste der[124] Armee aus, bis sie nahe an die Vierzig kommen und bringen es doch nicht zu einem Mann. Glorvina behauptete, sie hätte in Madras eine gute Partie machen können, wäre nicht Lady O'Dowds unglückseliger Streit mit der Richtersfrau dazwischengekommen. Der alte Mr. Chutney, das Oberhaupt des Zivildienstes, sei nämlich im Begriff gewesen, ihr einen Antrag zu machen (später heiratete er Miss Dolby, eine junge Dame von dreizehn Jahren, die gerade aus Europa von der Schule gekommen war).

Lady O'Dowd und Glorvina zankten sich täglich unzählige Male und um alle möglichen Angelegenheiten, und hätte Michael O'Dowd nicht eine Engelsgeduld besessen – zwei solche Frauen beständig um sich herum hätten ihn verrückt gemacht. Die beiden Damen waren sich aber in einem einig, nämlich daß Glorvina Major Dobbin heiraten solle, und sie waren entschlossen, ihm nicht eher Ruhe zu lassen, als bis die Sache zustande gebracht sei. Von vierzig bis fünfzig früheren Niederlagen nicht abgeschreckt, eröffnete Glorvina die Belagerung. Unaufhörlich sang sie ihm irische Melodien vor. Sie fragte ihn so häufig und gefühlvoll: »Kommst du in mein Kämmerlein?«, daß es ein Wunder ist, wie ein Mann von Gefühl der Einladung widerstehen konnte. Sie ermüdete nie, zu fragen: »Trübt Kummer deine jungen Tage?« und war bereit, wie Desdemona den Geschichten seiner Gefahren und Feldzüge zu lauschen2 und darüber zu weinen. Wir haben erzählt, daß unser ehrlicher lieber alter Freund in seinem Zimmer oft Flöte spielte; Glorvina bestand darauf, Duette mit ihm zu spielen, und Lady O'Dowd stand stets auf und verließ harmlos das Zimmer, wenn das junge Paar so beschäftigt war. Glorvina zwang den Major, morgens mit ihr auszureiten, und die ganze Station sah die beiden aufbrechen und zurückkehren. Sie schrieb ihm täglich Briefchen in sein Quartier, borgte seine Bücher und unterstrich sentimentale oder humoristische Stellen, die ihr gefielen, dick mit Bleistift. Sie borgte seine Pferde, seine Diener, seine Löffel und seine[125] Sänfte. Kein Wunder also, daß das Gerücht sie ihm zuwies und daß des Majors Schwestern in England sich einbildeten, bald eine Schwägerin zu bekommen.

Der so tapfer belagerte Dobbin nahm das alles inzwischen abscheulich gelassen hin. Er lachte bloß, wenn die jungen Burschen des Regiments ihn mit Glorvinas augenscheinlicher Aufmerksamkeit ihm gegenüber neckten. »Pah«, sagte er, »sie will nur nicht aus der Übung kommen – sie übt sich bei mir wie auf Mrs. Tozers Klavier, weil es das beste Instrument auf der Station ist. Ich bin viel zu abgenutzt und alt für eine so schöne junge Dame wie Glorvina.« Und so ritt er weiter mit ihr aus und schrieb Noten und Verse für ihr Album ab und spielte unterwürfig Schach mit ihr, denn mit diesen einfachen Vergnügungen füllen viele Offiziere in Ostindien ihre Freizeit aus, während andere von nicht so häuslichem Charakter auf die Wildschweinjagd gehen oder Schnepfen schießen oder spielen und Zigarren rauchen und sich der Branntweinflasche ergeben. Sir Michael O'Dowd wurde zwar von seiner Gemahlin und seiner Schwester täglich gedrängt, den Major aufzufordern, daß er sich erklären und ein armes unschuldiges Mädchen nicht fortwährend so schändlich quälen solle, aber der alte Soldat weigerte sich rundweg. Sir Michael wollte mit dieser Verschwörung nichts zu tun haben und sagte: »Meiner Treu, der Major ist alt genug, für sich selbst zu wählen. Wenn er dich haben will, wird er dich schon fragen.« Oder er versuchte die Sache mit einem Scherz abzutun und meinte: »Dobbin ist noch zu jung zum Heiraten; er hat nach Hause geschrieben, um seine Mutter um Erlaubnis zu fragen.« Ja, er ging noch weiter, und in Gesprächen unter vier Augen mit seinem Major warnte er ihn scherzhaft: »Sehen Sie sich vor, mein Junge, die Weiber haben Unheil im Sinne – meine Frau hat eben eine Kiste voll Kleider aus Europa erhalten, und es ist ein Rosaseidenes für Glorvina dabei, das Ihnen den Rest geben wird, Dob, wenn es in der Macht einer Frau oder eines Seidenkleides steht, Sie zu rühren.«[126]

In Wirklichkeit konnten Dob weder Schönheit noch Eleganz erobern. Unser ehrlicher Freund hatte nur ein Frauenideal im Kopf, und dem entsprach Miss Glorvina O'Dowd in rosa Seide nicht im geringsten. Eine sanfte kleine Frau in Schwarz mit großen Augen und braunem Haar, die nur dann sprach, wenn man sie anredete, und dann mit einer Stimme, die gar nicht der von Miss Glorvina glich – eine sanfte junge Mutter, die ein Kind wiegte und den Major lächelnd aufforderte, es zu betrachten – ein rotwangiges Mädchen, das singend in das Zimmer am Russell Square kommt oder glücklich und liebevoll an George Osbornes Arm hängt – nur dieses Bild erfüllte den Sinn unseres ehrlichen Majors bei Tag und bei Nacht und beherrschte ihn ständig. Höchstwahrscheinlich glich Amelia gar nicht dem Bild, das der Major von ihr entworfen hatte; in einem Modejournal seiner Schwestern in England gab es ein Bild, das William heimlich herausgerissen und im Deckel seines Koffers eingeklebt hatte. Er bildete sich ein, in dem Druck eine Ähnlichkeit mit Mrs. Osborne zu erblicken. Ich habe dieses Bild gesehen und kann beschwören, daß es nur die Abbildung eines hochtaillierten Kleides war, über dem ein unmögliches Puppengesicht geziert lächelte – und vielleicht ähnelte Mr. Dobbins sentimentale Amelia sowenig der echten wie der lächerliche kleine Druck, den er wie einen Schatz bewahrte. Aber welcher Verliebte ist da besser unterrichtet? Ist er etwa glücklicher, wenn er seine Verblendung einsieht und zugibt? Dobbin stand unter diesem Zauber. Er belästigte seine Freunde und die Öffentlichkeit nicht groß mit seinen Gefühlen und verlor weder sein Wohlbehagen noch den Appetit deswegen. Sein Kopf ist etwas ergraut, seit wir ihn zuletzt gesehen haben, hin und wieder ziehen sich durch das weiche braune Haar ein paar silberne Fäden. Aber seine Gefühle sind nicht im geringsten verändert oder gealtert, seine Liebe ist so frisch geblieben wie die Erinnerungen eines Mannes an seine Kindheit.

Wir haben erzählt, daß die beiden Miss Dobbin und[127] Amelia, die Korrespondentinnen des Majors in Europa, ihm von England schrieben. Mrs. Osborne gratulierte ihm aufrichtig und herzlich zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit Miss O'Dowd.

Amelia schrieb in ihrem Brief: Ihre Schwester hat mich soeben freundlicherweise besucht und mich von einem, interessanten Ereignis unterrichtet, zu dem ich meine aufrichtigsten Glückwünsche darbringe. Ich hoffe, daß sich die junge Dame, mit der Sie sich, wie ich höre, verbinden wollen, in jeder Hinsicht eines Mannes würdig erweist, der selbst nur Güte und Freundlichkeit ist. Die arme Witwe hat nur ihre Gebete und ihre herzlichsten Wünsche für Ihr Wohlergehen zu bieten! Georgy läßt seinen lieben Patenonkel grüßen und hofft, daß Sie ihn nicht vergessen werden. Ich habe ihm erzählt, daß Sie im Begriff stehen, andere Bindungen einzugehen mit jemandem, der nach meiner Überzeugung Ihre ganze Zuneigung verdient. Aber obgleich solche Bande natürlich die stärksten und heiligsten sein müssen und alle anderen verdrängen werden, bin ich doch überzeugt, daß für die Witwe und das Kind, die Sie stets beschützt und geliebt haben, stets ein Plätzchen bleiben wird.

Der Brief, den wir schon früher erwähnt haben, ging in dieser Tonart weiter und tat von Anfang bis Ende die vollkommene Zufriedenheit der Schreiberin kund.

Dieser Brief, der mit demselben Schiff ankam, das Lady O'Dowds Kleiderkiste mit Putz aus London brachte (man kann überzeugt sein, daß ihn Dobbin vor allen anderen Paketen, die ihm die Post brachte, öffnete), versetzte den Empfänger in einen solchen Seelenzustand, daß ihm Glorvina und ihr Rosaseidenes und alles, was sie betraf, geradezu verhaßt wurde. Der Major verfluchte das Weibergeschwätz und das ganze Geschlecht. An jenem Tage ärgerte ihn alles – die Parade war unerträglich heiß und langweilig. Gütiger Himmel! Sollte ein Mann von Verstand sein Leben Tag für Tag damit verschwenden, daß er Schulterriemen besichtigte und[128] Narren exerzieren ließ? Das sinnlose Gewäsch der jungen Leute in der Offiziersmesse war ihm mehr zuwider als je. Was kümmerte es ihn, einen Mann nahe der Vierzig, wie viele Schnepfen Leutnant Smith geschossen hatte oder was Fähnrich Browns Stute leistete. Die Witze der Tischrunde erfüllten ihn mit Scham. Er war zu alt, um den Scherzen des Assistenzarztes oder den Gemeinheiten der jungen Leute zuzuhören, über die der kahlköpfige, rotgesichtige alte O'Dowd von Herzen lachte. Der alte Mann hatte diesen Späßen seit dreißig Jahren andauern gelauscht – Dobbin selbst sie fünfzehn Jahre lang gehört. Und nach der geräuschvollen Langeweile der Offizierstafel die Streitigkeiten und Skandale der Damen des Regiments. Es war unerträglich, schändlich! Oh, Amelia, Amelia, dachte er, du, der ich so lange treu geblieben bin – du machst mir Vorwürfe! Nur, weil du kein Gefühl für mich hast, schleppe ich dieses langweilige Leben hier weiter. Und du belohnst mich nach jahrelanger Ergebenheit mit deinen Segenswünschen zu meiner Heirat mit dem aufgeputzten irischen Frauenzimmer, wahrhaftig! Dem armen William war übel und weh, er fühlte sich elender und einsamer als jemals. Er wünschte, er hätte das Leben mit all seinen Eitelkeiten hinter sich, so nutzlos und ziellos schien ihm der Kampf, so traurig und freudlos die Aussicht auf die Zukunft. Er verbrachte die Nacht schlaflos voller Sehnsucht nach der Heimat. Amelias Brief hatte ihm einen Dämpfer aufgesetzt. Keine Treue, keine wahre, beständige Liebe vermochte sie zu erwärmen. Sie wollte nicht sehen, daß er sie liebte. Er warf sich in seinem Bett hin und her und sprach laut zu ihr: »Guter Gott, Amelia, weißt du nicht, daß ich auf der Welt nur dich liebe? Dich, die wie ein Stein zu mir ist, dich, die ich in monatelanger Krankheit und Sorge pflegte, die mir mit lächelndem Gesicht Lebewohl sagte und mich vergaß, noch ehe sich die Tür zwischen uns geschlossen hatte!« Die eingeborenen Diener, die außerhalb seiner Veranda lagen, sahen verwundert den sonst so kaltblütigen und ruhigen Major jetzt[129] leidenschaftlich erregt und niedergeschlagen. Hätte sie ihn bemitleidet, wenn sie ihn gesehen hätte? Er las wieder und wieder alle Briefe, welche er je von ihr bekommen hatte: Geschäftliche Briefs über das kleine Vermögen, das ihr angeblich ihr Mann hinterlassen hatte, wie er ihr vorspiegelte, kurze Einladungen – jedes Zettelchen mit ihrer Schrift, das sie ihm geschickt hatte – wie kalt, wie freundlich, wie hoffnungslos, wie selbstsüchtig waren sie!

Hätte es eine gütige sanfte Seele in der Nähe gegeben, die dieses schweigsame, großmütige Herz er kannt und gewürdigt hätte – wer weiß, ob nicht das Reich Amelias vorüber gewesen und die Liebe unseres Freundes William sich in einen zärtlicheren Kanal ergossen hätte. Da war aber nur Glorvina mit den Rabenlocken, die er näher kannte, und dieses glänzende junge Mädchen ging nicht darauf aus, den Major zu lieben, sondern vielmehr ihn dahin zu bringen, sie zu bewundern – ein eitles, hoffnungsloses Bestreben, wenigstens wenn man die Mittel betrachtet, mit denen das arme Mädchen zum Ziel kommen wollte. Sie drehte sich Locken und zeigte ihm ihre Schultern, als wollte sie sagen: Hast du jemals solche rabenschwarzen Locken und solchen Teint gesehen? Sie lachte ihn an, damit er sehen sollte, daß sie gesunde Zähne im Munde hatte – aber er achtete überhaupt nicht auf all diese Reize.

Bald nachdem die Kleiderkiste angekommen war und vielleicht zu deren Ehren, gaben Lady O'Dowd und die Damen des Königlichen Regiments einen Ball für die Regimenter der Ostindischen Kompanie und die Zivilisten der Station. Glorvina trug das unwiderstehliche rosa Kleid, aber der Major, der auch auf der Gesellschaft war und trübselig die Säle durchwanderte, sah das rosa Gewand nicht einmal. Glorvina tanzte mit allen jungen Leutnants der Station wütend an ihm vorüber, aber der Major war nicht im geringsten eifersüchtig auf sie oder ungehalten, weil Hauptmann Bangles von der Kavallerie sie zum Souper führte. Weder[130] Eifersucht noch Kleider, noch Schultern waren imstande, ihn zu bewegen, und etwas anderes besaß Glorvina nicht.

Sie gaben beide ein Beispiel von der Eitelkeit dieses Lebens, da sie sich beide nach dem sehnten, was sie nicht erhalten konnten. Glorvina weinte vor Wut über ihren Mißerfolg. Sie hatte sich den Major in den Kopf gesetzt, »mehr als irgendeinen anderen«, wie sie schluchzend gestand. »Er wird mir noch das Herz brechen, Peggy, ganz bestimmt«, jammerte sie vor ihrer Schwägerin, wenn sie wieder einmal gute Freunde geworden waren, »alle meine Kleider muß ich enger machen lassen. Ich werde noch zu einem richtigen Skelett.« Dick oder mager, lachend oder melancholisch, zu Pferde oder am Klavier – dem Major war alles gleich. Der Oberst, der pfeiferauchend diesen Klagen lauschte, empfahl, Glorvina solle sich mit der nächsten Kiste aus London ein paar schwarze Kleider kommen lassen, und er erzählte eine geheimnisvolle Geschichte von einer Dame in Irland, die vor Kummer über den Verlust ihres Gatten gestorben war, ehe sie überhaupt einen gehabt hatte.

Während der Major sie weiter quälte und sich weder erklärte noch bereit war, sich zu verlieben, kam wieder ein Schiff aus Europa mit Briefen, worunter sich auch ein paar für den herzlosen Mann befanden. Es waren Briefe von zu Hause mit einem früheren Poststempel als die letzten, und Major Dobbin erkannte darunter die Handschrift seiner Schwester. Sie beschrieb die Briefe an ihren Bruder stets kreuz und quer und sammelte alle möglichen schlimmen Nachrichten, die sie nur zusammenbringen konnte, schalt ihn aus und hielt ihm mit schwesterlicher Freimütigkeit Strafpredigten, die ihn, nachdem der »liebste William« eine ihrer Episteln gelesen hatte, für einen Tag elend machten. Um die Wahrheit zu sagen, beeilte sich der »liebste William« nicht, das Siegel auf Miss Dobbins Brief zu erbrechen, sondern wartete auf eine besonders günstige Stunde und Stimmung dazu. Er hatte ihr überdies vor vierzehn Tagen geschrieben und[131] sie gescholten, daß sie Mrs. Osborne so alberne Geschichten erzähle, und er schickte Amelia einen Antwortbrief, worin er sie über die Gerüchte, die von ihm in Umlauf seien, aufklärte und ihr versicherte, daß er gegenwärtig keinerlei Absichten habe, seinen Stand zu ändern.

Ein paar Tage nach der Ankunft des zweiten Briefpäckchens hatte der Major den Abend recht heiter bei Lady O'Dowd verbracht, und Glorvina glaubte, daß er mit mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit dem Lied »Wo sich die Wasser treffen«, dem »Sängerknaben« und einigen anderen Gesängen lauschte, mit denen sie ihn beglückte. In Wirklichkeit hörte er jedoch ebenso wenig auf Glorvina wie auf das Heulen der Schakale im Mondschein draußen, und sie täuschte sich wie immer. Nachdem er seine Partie Schach mit ihr gespielt hatte (Lady O'Dowds Abendvergnügen bestand im Cribbage3 mit dem Regimentsarzt), nahm Major Dobbin zur gewohnten Stunde Abschied von der Familie des Obersten und begab sich nach Hause.

Dort lag vorwurfsvoll der Brief seiner Schwester auf dem Tisch. Er ergriff ihn, etwas beschämt über seine Nachlässigkeit, und bereitete sich auf eine unangenehme Stunde in Unterhaltung mit dieser unleserlich kritzelnden abwesenden Verwandten vor ... Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein, nachdem der Major das Haus des Obersten verlassen hatte. Sir Michael schlief den Schlaf der Gerechten, Glorvina hatte ihre schwarzen Locken in die unzähligen kleinen Papierstückchen gewickelt, mit denen sie sie abends stets zu fesseln pflegte, auch Lady O'Dowd hatte ihr Bett im ehelichen Schlafzimmer im Erdgeschoß aufgesucht und die Moskitovorhänge um ihr schöne Gestalt gestopft, als die Wache am Tor des Kommandeurgebäudes Major Dobbin im Mondlicht erblickte, wie er mit schnellen Schritten aufgeregt dem Hause zueilte. Er ging an der Schildwache vorüber und trat an die Fenster von O'Dowds Schlafzimmer.

»O'Dowd, Oberst!« schrie Dobbin mehrmals.[132]

»Himmel, Major!« rief Glorvina und steckte den lockenwickelgeschmückten Kopf aus dem Fenster.

»Was ist denn los, Dob, mein Junge?« fragte der Oberst, der erwartete, daß Feuer in der Station ausgebrochen oder Marschbefehl vom Hauptquartier gekommen sei.

»Ich – ich muß Urlaub haben. Ich muß nach England gehen, in den dringendsten Privatangelegenheiten«, sagte Dobbin.

Gütiger Himmel! Was mag bloß geschehen sein, dachte Glorvina und zitterte mit allen Papierröllchen.

»Ich muß abreisen – jetzt – heute nacht noch«, fuhr Dobbin fort. Der Oberst stand auf und kam heraus, um mit ihm zu reden.

In der Nachschrift zu Miss Dobbins kreuz und quer beschriebenem Brief war der Major eben zu einem Absatz gekommen, der folgendermaßen lautete:


Ich bin gestern zu Deiner alten Bekannten, Mrs. Osborne, gefahren. Du kennst die erbärmliche Gegend, in der sie seit dem Bankrott wohnen. Mr. S. ist nach einem Messingschild an der Tür seiner Hütte (anders kann man sie nicht nennen) Kohlenhändler. Der kleine Junge, Dein Patensohn, ist gewiß ein hübsches Kind, aber vorlaut und oft ungezogen und starrköpfig. Wir haben uns aber, wie Du es wünschtest, um ihn gekümmert und ihn seiner Tante, Miss O., vorgestellt, der er ganz gut gefallen hat. Vielleicht ließe sich sein Großpapa – nicht der bankrotte, der ist fast schwachsinnig, sondern Mr. Osborne vom Russell Square – bewegen, sich gegenüber dem Kind Deines Freundes, seines irrenden, starrköpfigen Sohnes, erweichen zu lassen. Amelia wird nicht abgeneigt sein, ihn aufzugeben. Die Witwe hat sich getröstet und wird einen Geistlichen, Ehrwürden Binny, einen der Unterpfarrer von Brompton, heiraten. Eine armselige Partie. Aber Mrs. O. wird alt, ich habe ziemlich viel Grau in ihrem Haar gesehen. Sie war sehr gut gelaunt, und Dein kleiner Patensohn hat sich bei uns übergessen. Mama schickt dir viele Grüße mit denen Deiner Dich liebenden Ann Dobbin.

Fußnoten

1 (lat.) Macht sie müde, sie ist der Sache noch nicht überdrüssig.


2 In Shakespeares Tragödie »Othello« berichtet der Titelheld, wie er durch die Erzählung seiner Abenteuer das Herz Desdemonas gewann (I, 3).


3 englisches Kartenspiel.


Quelle:
Thackeray, William Makepeace: Jahrmarkt der Eitelkeit. 2 Bände, Berlin 1964, Band 2, S. 121-133.
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