Dritte Szene

[388] PROFESSOR GISELIUS. Tildchen!

FRAU GISELIUS. Ja?

PROFESSOR GISELIUS. Ich denke gerade darüber nach: wie alt wird denn unser Lottchen?

FRAU GISELIUS. Zwanzig. Deswege mache wir's doch festlicher wie sonst.

PROFESSOR GISELIUS. Dann weiß ich, was mir die ganzen Tage her im Kopf umgegangen ist. Schlägt mit der Hand auf die Stuhllehne. Ja, das war es!

FRAU GISELIUS. Du hast an unser Fest gedacht? Das is nett von dir.

PROFESSOR GISELIUS. Nicht so eigentlich an das Fest ... nein; an etwas anderes, was damit zusammenhängt.

FRAU GISELIUS. Is es wieder dei specicatio?

PROFESSOR GISELIUS. Spe-ci-fi-catio, liebes Kind. Die Verarbeitung einer res mobilis in neue Formen. Schon die Sabinianer waren der Ansicht ...

FRAU GISELIUS unterbrechend. Und was hat das mit Lottche zu schaffe?

PROFESSOR GISELIUS zerstreut. Wie?

FRAU GISELIUS. Du sagst, es hängt mit 'm Geburtstag zusamme.

PROFESSOR GISELIUS. Du hast meinen Gedankengang unterbrochen ... Lottchen wird heute zwanzig; du irrst dich darin nicht?

FRAU GISELIUS gemütlich. Nein.

PROFESSOR GISELIUS aufstehend. Dann ist es höchste Zeit. Ja, nun ist mir alles wieder klar, was Butterweck schrieb.

FRAU GISELIUS. Darf ich's net wisse?

PROFESSOR GISELIUS. Du mußt es sogar erfahren. Auf und ab gehend. Es war vor vier Wochen, ich las damals über Familienrecht, ganz richtig, so war es, und da kam mir nun dieser Aufsatz unseres vortrefflichen Butterweck vor Augen und erinnerte mich an eine Pflicht, die ich als pater familias zu erfüllen habe. An eine unabweisliche Pflicht.

FRAU GISELIUS ist neugierig geworden. Willst du net endlich sage – – ?

PROFESSOR GISELIUS. Die Sache liegt klar. Aus dem Pflichtenkreise der väterlichen Gewalt resultiert gerade diese Obliegenheit[389] ganz unzweifelhaft.

FRAU GISELIUS ungeduldig. Was für e Obliegeheit?

PROFESSOR GISELIUS. Geheimrat Butterweck hat in zwingender Beweisführung dargetan, daß man seine Kinder über gewisse natürliche Dinge aufzuklären hat. Die Folgen der Unterlassung können schrecklich oder beschämend sein. Bleibt stehen. Und siehst du, Tildchen, diese Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Ich werde deshalb unser Lottchen aufklären.

FRAU GISELIUS. Über was willst du sie aufkläre?

PROFESSOR GISELIUS. Nun, über das. Da ihn Frau Giselius noch immer verständnislos ansieht. Über das Zusammenleben, über das eventuelle Zusammenleben mit einem Manne.

FRAU GISELIUS schlägt die Hände zusammen. Haww ich scho so was gehört!

PROFESSOR GISELIUS entschieden. Der Zeitpunkt ist nicht zu früh gewählt. Und nun ist es an mir, ihre Unerfahrenheit zu beheben.

FRAU GISELIUS wie vorher. Hat eens schon so was gehört!

PROFESSOR GISELIUS. Du wunderst dich darüber bloß, weil wir heute zu engherzig erzogen sind. Butterweck weist darauf hin, daß manche Völker des Altertums den jungen Mädchen sogar Unterricht in der Liebe erteilen ließen.

FRAU GISELIUS. Mensch! Otto! Geheimrat!

PROFESSOR GISELIUS. Ich sage das nur zu deiner Beruhigung. Natürlich denkt heute niemand daran, seine Tochter auf zyprische Weise erziehen zu lassen.

FRAU GISELIUS. Vielleicht kommt Ihr mit eurem Butterweck auch noch so weit! Daß en Mann in deine Jahr sich so Zeug aufschwätze läßt.

PROFESSOR GISELIUS. Tildchen, das verstehst du nicht. Gegen den Aufsatz läßt sich nichts einwenden; er war ganz folgerichtig aufgebaut.

FRAU GISELIUS. Meinetwege, aber mußt dann du so was ernst nehme?

PROFESSOR GISELIUS. Welchen Wert haben erkannte Wahrheiten ...

FRAU GISELIUS. Ihr schreibt viel, wenn 's Jahr lang is.

PROFESSOR GISELIUS ruhig verweisend. Welchen Wert haben erkannte Wahrheiten, wenn wir sie im Leben nicht anwenden?[390]

FRAU GISELIUS. Und wie du auf die Idee kommscht, daß unser Lottche noch extra aufgeklärt werde muß?

PROFESSOR GISELIUS verständnislos. Hm?

FRAU GISELIUS. Wer sagt dir dann, daß sie's nötig hat?

PROFESSOR GISELIUS. Hast du mit ihr darüber gesprochen?

FRAU GISELIUS. I wo!

PROFESSOR GISELIUS. Ich auch nicht. Also?

FRAU GISELIUS. Glaubst du wirklich, daß junge Mädche so was lerne müss'n, wie d' Grammatik?

PROFESSOR GISELIUS. Jedenfalls kenne ich keinen Weg, eine Tatsache mitzuteilen, als den der Schrift oder der Sprache.

FRAU GISELIUS. Giselius!

PROFESSOR GISELIUS. Ja, keinen andern Weg.

FRAU GISELIUS. Guckst du gar nie aus deiner Stub raus? Und weißt net mehr, was jung is?

PROFESSOR GISELIUS. Was soll das heißen?

FRAU GISELIUS. Daß man so was fühlt und ahnt ... und ...

PROFESSOR GISELIUS. Bleiben wir bei logischen Begriffen!

FRAU GISELIUS eifrig. Du lieber Gott! Woher's die junge Mädche wisse? Vielleicht singen's ihne die Maikäfer in die Ohre, oder es klingt in der Luft, aber ganz gewiß, an eme schöne Frühlingstag wisse mir alles.

PROFESSOR GISELIUS. Das kann ich mir ja lebhaft vorstellen.

FRAU GISELIUS. Nein! Du kannst dir's net vorstelle. Aber wann du emal Mädche siehst, die lache, und wisse net warum, und die rot werde, und wisse net wie, dann haben sie's grad erfahre.

PROFESSOR GISELIUS ironisch. Soo?

FRAU GISELIUS. Ja.

PROFESSOR GISELIUS. Das sind romanhafte Ideen, die ihr weiß Gott woher nehmt.

FRAU GISELIUS. Was mit der Lieb zu tun hat, muß e bißche romantisch sei.

PROFESSOR GISELIUS. Nein, Tildchen! Alles, was wir tun, soll zweckmäßig sein und ...

FRAU GISELIUS. Ich mag so was net höre ...

PROFESSOR GISELIUS. Bitte. Die Ehe ist ein Vertrag. Darf man es dulden, daß ein schwaches Wesen diesen wichtigen Vertrag eingeht, ohne klare Erkenntnis in die Pflichten, den Endzweck[391] et cetera?

FRAU GISELIUS. Das et cetera kommt von selber.

PROFESSOR GISELIUS. Ich wollte nur, du hättest Butterweck gelesen!

FRAU GISELIUS. Bleib mir ewek mit dem!

PROFESSOR GISELIUS. Seine Logik ist zwingend. Frau Giselius macht eine abwehrende Geste. Ja! Sie ist es. Er schreibt zum Beispiel ... warte ... mir fällt es gleich ein ... Nachdenkend. Es ist grausam, jede Generation ihre Erfahrungen immer auf ein neues erringen zu lassen.

FRAU GISELIUS. Das is doch grad schö!

PROFESSOR GISELIUS. Was ist schön?

FRAU GISELIUS. Die Erfahrung erringe. Man muß aber schon e Gelehrter sei, wenn em das so schrecklich vorkommt.

PROFESSOR GISELIUS verzweifelt. Da fehlt eben alles Positive!

FRAU GISELIUS. Meinswege.

PROFESSOR GISELIUS. Jeder fest abgegrenzte Vorstellungsinhalt.

FRAU GISELIUS. Überhaupt, was brauchst du dich um so Sache zu kümmere? Das kannst du ruhig deim künftige Schwiegersohn überlasse.

PROFESSOR GISELIUS ungeduldig. M-m!

FRAU GISELIUS. Den geht's was an, aber dich net.

PROFESSOR GISELIUS laut und lehrhaft. Wenn nun aber dieser künftige Schwiegersohn ebenso unerfahren ist?

FRAU GISELIUS. Hernach tut er mir leid.

PROFESSOR GISELIUS. Bitte, beantworte mir in strikter Weise meine Frage. Wie dann, wenn er ebenso unerfahren ist?

FRAU GISELIUS die Achseln zuckend. In Gottes Name! Dann könnt'r immer noch komme, du un dei Butterweck.

PROFESSOR GISELIUS. Eine Fülle von peinlichen Momenten wäre die Folge. Für ihn und für sie.

FRAU GISELIUS lacht herzlich. Was müßt das für e Leilaps sei!

PROFESSOR GISELIUS. Mir ist es bitter ernst. Ich weiß persönlich, bis zu welchem Grade man als junger Mann unwissend sein kann.

FRAU GISELIUS gemütlich. Nu also!

PROFESSOR GISELIUS verständnislos. Wie?

FRAU GISELIUS. Und doch is unser Lottche da.

PROFESSOR GISELIUS betroffen. Allerdings. Sie ist da ... Aber[392] warum sollen wir sie nicht im vor hinein auf eine Stufe der Erkenntnis setzen, die wir erst erklimmen mußten?

FRAU GISELIUS heiter. Otto, wenn du schon die Stuf' ...

PROFESSOR GISELIUS energisch. Keine Scherze jetzt! Überdies bist du im Irrtum. Ich will dir nur sagen, ich ermangelte damals nicht gänzlich der Erfahrung.

FRAU GISELIUS lustig. Na! Na! Na!

PROFESSOR GISELIUS eindringlich. Nein, Tildchen!

FRAU GISELIUS. Ich glaub' net an dei Jugendsünde.

PROFESSOR GISELIUS. Wer spricht von so was?

FRAU GISELIUS. Weil du sagst, daß du net ... nu ja, daß du net ...

PROFESSOR GISELIUS. Daß ich nicht gänzlich der Erfahrung ermangelte. Und ich mache dich mit dieser Tatsache nur deshalb bekannt, weil sie hier nützen kann.

FRAU GISELIUS lustig. Mir isch die Tatsach neu.

PROFESSOR GISELIUS. Ich muß offen und deutlich reden.

FRAU GISELIUS hält sich scheinbar die Ohren zu. Hör uff!

PROFESSOR GISELIUS auf und abgehend. Es war damals, am Tage vor unserer Hochzeit. Ich sagte mir, daß ich so rei ignarus, wie ich war, diesen wichtigen Schritt nicht unternehmen dürfe. Frau Giselius sieht ihm lächelnd nach. Und ich beschloß, mir Aufschlüsse zu verschaffen.

FRAU GISELIUS. Aber Otto!

PROFESSOR GISELIUS sehr ernst. Ja, und in meiner Not ging ich zu unserm vortrefflichen Zoologen Dr. Busäus. Ihm verdanke ich es, wenn ich einiges wußte.

FRAU GISELIUS amüsiert. Dem alte Busäus?

PROFESSOR GISELIUS. Ihm, ja. In einer unvergeßlichen Unterredung hat mich der würdige Gelehrte aufgeklärt.

FRAU GISELIUS lachend in einen Stuhl fallend. Der alt, griesgrämig Jungg'sell?

PROFESSOR GISELIUS ernst fortfahrend. Und die Erinnerung an jene Stunde ... Zu Frau Giselius, die noch heftiger lacht. Was hast du?

FRAU GISELIUS. Ei, wenn ich das gewußt hätt! Ich hab ihm net emol gedankt!

PROFESSOR GISELIUS verweisend. Mir gibt diese Erinnerung die ernste Mahnung, daß ich mich meiner Pflicht nicht entziehe.[393]

FRAU GISELIUS. Im Gegenteil; jetzt brauchst du dich gar nimmer zu strapaziere ...

PROFESSOR GISELIUS. Hm?

FRAU GISELIUS. So lang's Zoologe hat!

PROFESSOR GISELIUS. Es ist heute nicht schwer, darüber zu lachen, aber damals habe ich es bitter empfunden, daß so viel von einem Zufalle abhing. Denke dir, wenn Busäus verreist gewesen wäre?

FRAU GISELIUS. Damals?

PROFESSOR GISELIUS. Ja, oder krank? Oder selbst nicht in der Lage?

FRAU GISELIUS steht auf und geht nahe zu ihm. Dann, du Tolpatsch, hätt' ich dir vielleicht was ins Ohr gesagt.

PROFESSOR GISELIUS geht zum Lehnstuhl, nimmt die Zeitung und setzt sich. Wir wollen über all das reden, wenn du einmal ernsthafter gestimmt bist; jedenfalls bin ich mir vollkommen darüber klar, daß und warum ich mit unserm Kinde über diese wichtigen Dinge reden muß. Fängt zu lesen an. Daß und warum, jawohl!


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 388-394.
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