Fürstenbesuche

[583] Im geschmückten Saale prunken

Zweier Völker höchste Spitzen,

Beide scheinen freudetrunken,

Daß sie hier zusammensitzen.

Doch unten, das ist ein Gedränge

In der tausendköpfigen Menge,

Ein Vivat, und hoch sollen leben

Der Friede, und die ihn uns geben!


Austern, Fische, Braten, Weine

Stoßen auf in hohen Mägen,

Und im fürstlichen Vereine

Schlagen Herzen sich entgegen.

Doch unten im dichten Gewühle

Erhitzen sich mehr die Gefühle,

Man singt jetzt begeisterte Lieder

Auf die neugewonnenen Brüder.


Das Menü ist nun zu Ende,

Und man geht in der Verdauung

Zum Balkon, als Gegenstände

Einer frohen Volksbeschauung.

Doch unten bemerkt man die Liebe,

Der Freundschaft aufkeimende Triebe.

Das Volk ist gerührt von der Güte;

Sie schwenken die schmutzigen Hüte.


Wieviel Jahre wohl verfließen,

Und die jetzt zusammen essen,

Lassen aufeinander schießen?

Alle Freundschaft ist vergessen.

Doch unten im dichten Gedränge

Steht die tausendköpfige Menge

Und feiert den Herrscher, der siegte,

Die Brüder von gestern bekriegte.

Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 6, München 1968, S. 583-584.
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