Ein Mädchentagebuch

[303] Wenn wir unsrer Kusine oder unsrer ältern Schwester nur ein Mal jenes braune Lederbuch hätten klauen können, mit dem sie sich immer so geheimnisvoll tat! Was mochte da alles drin sein? Liebesgeschichten? All jene unheimlichen Dinge, die wir von den Mädchen wußten und doch nicht wußten? Es war furchtbar aufregend – aber das Ding war immer gut verschlossen, wir kamen nie heran.

Nun kommen wir doch einmal heran. Der Internationale Psychoanalytische Verlag in Wien hat das ›Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens‹ (ohne Angabe des Verfassers oder der Herausgeberin) ediert, und alles, was ein junges Bürgermädchen aus guter wiener Familie zwischen elf und vierzehneinhalb Jahren erlebt, ist hier von ihr selbst aufgezeichnet. Und was ist das –?

Professor Freud hat sich in der Vorrede zu dem Buch geäußert. Mir ist an diesem großen Gelehrten immer jenes Wort am sympathischsten gewesen, das er einmal von seinen Schülern gesagt haben soll. »Oh daß sie alle nur einen Hintern hätten –!« Wirklich: Oh daß sie . . . ! Sie haben aber leider jeder einen, und auf dem sitzen sie und schreiben Bände und Bände und tragen ihrerseits zu einer lächerlichen Überschätzung der Sexualität bei, die uns grade noch gefehlt hat.

Also, was das kleine Mädchen da aufgemalt hat, ist sehr interessant. Es zeigt doch, wie ein Kind denkt, es zeigt, wie es die Dinge auffaßt, und es zeigt, wie man ein Kind erziehen und vor allem: wie man es nicht erziehen soll. Fast immer, wenn es ratlos ist, hat einer einen pädagogischen Fehler gemacht, über den es in seiner Unschuld schwer hinwegkommt.

Daß Kinderjahre nicht immer glücklich, nicht immer leicht und kummerlos sind, haben wir gewußt. Es ist töricht, anzunehmen. Sorgen über zerbrochene Puppenköpfe schmerzten nicht so wie die Sehnsucht[303] nach einer ausgerissenen Geliebten. Das ist nur in der Art verschieden – in der Intensität gewiß nicht. Das zeigt sich auch hier.

Ja, und das Geschlechtliche . . . Die Psychoanalytiker, die an keiner Tischkante vorbeigehen können, ohne in ihr einen verkappten Phallus zu vermuten, werden ja nun aus dieser Fundgrube mit großen Kochlöffeln schöpfen. Ich habe ganz etwas andres gesehen. (Wenn ich von einer unerhörten Stelle absehe, wo das Kind schildert, wie es zum unfreiwilligen Zeugen einer ausführlichen Liebesszene wird.) Ich sah dies:

Je größer durch Erziehung und Tradition die Spannung zwischen den Geschlechtern wird, desto größer wird eine aufgeblasene Sexualromantik, auf der die Neurosen nur so blühen. Wenn da das leiseste Malheur passiert, ist so ein Menschenkind für sein ganzes Leben unglücklich, und der Ehemann muß es ausbaden: die unverstandene Frau, Man lese einmal nach, zu welch aberwitzigen Vorstellungen die Worte ›geschlechtskrank‹ und ›Folgen haben‹ anschwellen. Das wimmelt von Komplexen und Assoziationen und andern schönen Dingen, aber die Unbefangenheit ist dahin.

Ich bin ein altmodischer Hund und glaube, daß man seinen Kindern den größten Segen erweist, wenn man sie ruhig und vernünftig über den zugefrorenen Bodensee der Sexualität hinüberführt. Sie mögen nachher wissen, worüber sie gegangen sind. Ob und wann man sie aufklärt – darüber läßt sich reden. Worüber sich aber nicht reden läßt, das ist: daß man sie in einer Gespensterfurcht vor der Fortpflanzung hält, tuschelnd das ›grause Geheimnis‹ verschleiert und ihnen vielleicht eine lebenslange Angst und Zwangsvorstellung aufpflanzt.

Dies kleine Tagebuch ist eine Warnung für alle Mütter und solche, die es werden wollen. Lests –!


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 15.04.1920, Nr. 16, S. 444.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 303-304.
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