Der Kranz

[112] Es pflückte Blümlein mannigfalt

Ein Mägdlein auf der lichten Au;

Da kam wohl aus dem grünen Wald

Eine wunderschöne Frau.


Sie trat zum Mägdlein freundlich hin,

Sie schlang ein Kränzlein ihm ins Haar:

»Noch blüht es nicht, doch wird es blühn;

O trag es immerdar!«


Und als das Mägdlein größer ward

Und sich erging im Mondenglanz

Und Tränen weinte, süß und zart,

Da knospete der Kranz.


Und als ihr holder Bräutigam

Sie innig in die Arme schloß,

Da wanden Blümlein wonnesam

Sich aus den Knospen los.


Sie wiegte bald ein süßes Kind

Auf ihrem Schoße mütterlich,

Da zeigten an dem Laubgewind

Viel goldne Früchte sich.


Und als ihr Lieb gesunken war

Ach! in des Grabes Nacht und Staub,

Da weht' um ihr zerstreutes Haar

Ein herbstlich falbes Laub.


Bald lag auch sie erbleichet da,

Doch trug sie ihren werten Kranz,[112]

Da war's ein Wunder, denn man sah

So Frucht als Blütenglanz.


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 112-113.
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