Zweites Capitel.
Der Stolz der Wissenschaft.

[98] Die Reellität des Genfer Kaufmanns ist sprichwörtlich geworden; er zeichnet sich durch die strengste Rechtlichkeit und eine ganz außerordentliche Geradheit aus. Welcher schamvolle Zorn mußte also Meister Zacharius übermannen, als er erlebte, wie seine mit so großer Sorgfalt zusammengesetzten Uhren ihm von allen Seiten zurückgebracht wurden.

Er konnte keinen Augenblick daran zweifeln, daß sämmtliche Uhren plötzlich und ohne einen zu Tage liegenden Grund stehen geblieben waren. Das Räderwerk befand sich noch in gutem Zustande und vollständig in Ordnung, aber die Federn hatten ihre Elasticität verloren, und der Uhrmacher suchte vergeblich sie zu ersetzen – die Räder blieben unbeweglich. Diese unerklärlichen Störungen beunruhigten Meister Zacharius im höchsten Grade. Seine ingenieusen Erfindungen hatten ihn zuweilen in den Verdacht der Zauberei gebracht, und dieser erhielt durch solche unerklärlichen Vorgänge nur noch mehr Nahrung. Ja, das Gerücht drang sogar bis zu Gérande, die für ihren Vater zitterte, sowie übel wollende Blicke sich auf ihn richteten.

Es schien jedoch, als ob Meister Zacharius sich nach der beschriebenen, angstvollen Nacht wieder mit mehr Selbstvertrauen an die Arbeit gemacht hätte; die Morgensonne belebte von Neuem seinen Muth. Aubert gesellte sich ihm alsbald in der Werkstätte zu und erhielt bei seinem Eintritt wie gewöhnlich einen leutseligen Morgengruß.

»Es geht wieder besser mit mir, hub der alte Uhrmacher an; ich weiß nicht, was für ein sonderbarer Kopfschmerz mich gestern quälte, aber heute hat die Sonne ihn mit den Wolken der Nacht davongejagt.

– Wahrhaftig, Meister, ich liebe die Nacht nicht, weder für Sie noch für mich, meinte Aubert.

– Und Du hast Recht, Aubert. Wenn Du einmal berühmt werden solltest, wirst Du begreifen, daß das Licht Dir nothwendig ist wie die Nahrung des[99] Leibes. Ein Gelehrter braucht Anerkennung und Huldigung von seinen Mitmenschen, um Großes zu leisten.

– Meister, jetzt erfaßt Sie wieder der Hochmuthsteufel.

– Der Hochmuth, Aubert! Zerstöre meine Vergangenheit, vernichte meine Gegenwart, nimm mir die Hoffnung auf meine Zukunft, und es wird mir vergönnt sein, in Unbedeutendheit meine Tage hinzubringen. Armer Junge, der Du nichts von den erhabenen Dingen begreifst, mit denen meine Kunst mich enge verknüpft! Bist Du denn nichts weiter, als ein Werkzeug in meinen Händen?

– Sie müssen mir doch zugestehen, Meister Zacharius, daß ich oftmals Ihre Zufriedenheit errungen habe, wenn es mir gelang, die subtilsten Theilchen Ihrer Taschen- und Wanduhren zu adjustiren!

– Gewiß, Aubert, Du bist ein tüchtiger Arbeiter, und ich halte Dich lieb und werth; aber wenn Du arbeitest, hast Du Kupfer, Gold oder Silber in Deinen Händen und fühlst nicht in diesen Metallen den Geist, der für mich in ihnen pulsirt. Auch würdest Du wohl schwerlich an dem Tode Deiner Werke sterben.«

Meister Zacharius schwieg, nachdem er dies gesagt hatte, aber Aubert suchte die Unterhaltung von Neuem anzuknüpfen.

»Ich sehe Ihnen gar zu gern zu, wenn Sie so rastlos arbeiten, Meister, begann er; Sie werden zu unserem Innungsfest fertig sein, Ihre Arbeit an der Krystall-Uhr schreitet rüstig vorwärts.

– Wir wollen es hoffen, Aubert; es wird keine geringe Ehre für mich sein, daß ich diesen Stoff, der so hart ist wie Diamant, geschnitten und geschliffen habe. Ja, Ludwig Berghem hat wohl daran gethan, die Diamantschleiferei zu vervollkommnen; nur mit Hilfe seiner Kunst konnte ich die härtesten Steine glätten und durchbohren!«

Meister Zacharius hielt kleine Stücken Uhrmacherwerks aus geschliffenem Krystall von ganz vorzüglicher Arbeit in den Händen. Das Räderwerk, die Angeln, das Gehäuse der Uhr, Alles war aus demselben Material; er hatte ein fast unglaubliches Talent in diesem schwierigen Werk entfaltet.

Man sah, wie die Wangen des alten Uhrmachers sich vor Erregung färbten, als er jetzt sagte?

»Wie schön wird es sein, diese Uhr durch ihre krystallhelle Umhüllung arbeiten zu sehen und die Schläge ihres Herzens zu zählen![100]

– Ich will darauf wetten, Meister, daß sie nicht um eine Secunde im Jahr abweichen wird, rief der junge Mann.

– Und Du würdest Deine Wette gewinnen! Habe ich nicht mein eigenstes Wesen hineingelegt? weicht vielleicht mein Herz ab?«

Aubert wagte nicht, in diesem Augenblick den Meister anzusehen.

»Sage mir aufrichtig, fuhr der Alte melancholisch fort, hast Du mich nie für wahnwitzig gehalten? Du glaubst, daß ich zuweilen in eine unheilvolle Raserei verfalle, nicht wahr? Wie oft habe ich in Deinen und meiner Tochter Augen dies Urtheil über mich gelesen! Ach, es thut weh, wenn man nicht einmal von den Menschen, die man am Meisten liebt, verstanden wird! Dir aber, Aubert, werde ich klar darlegen, daß ich Recht habe. Schüttle nicht ungläubig den Kopf; ich sage Dir, Du wirst staunen! An dem Tage, da Du meine Worte verstehen lernst, wirst Du sehen, daß ich die Geheimnisse des Daseins, die Geheimnisse der mysteriösen Vereinigung von Seele und Leib ergründet habe!«

Als Meister Zacharius so redete, sah man ihm an, daß sich auch Hochmuth in seinen Stolz mischte. Die Augen glänzten in fast unnatürlichem Feuer, und der Stolz durchzuckte seinen ganzen Körper. Und allerdings, wenn Eitelkeit je gerechtfertigt war, so konnte man das bei Meister Zacharius sagen.

Bis zu seiner Zeit war die Uhrmacherkunst eigentlich noch in ihrer Kindheit geblieben. Seit dem Tage, wo Plato vierhundert Jahre vor der christlichen Zeitrechnung die Nachtuhr, eine Art Wasseruhr (Klepsydra), erfand, welche die Stunden der Nacht durch den Ton und das Spiel einer Flöte angab, blieb diese Wissenschaft fast stationär. Die Meister arbeiteten mehr auf die Kunst als auf die Mechanik hin, und man construirte schöne Uhren aus Eisen, Kupfer, Holz oder Silber, die so sein und köstlich geschnitzt waren, wie eine Wasserkanne Cellini's. So entstanden Meisterwerke der Ciselirarbeit, die zwar als Zeitmesser äußerst unvollkommen waren, aber doch in Bezug auf die Kunst befriedigten. Wenn die Gestaltungskraft des Künstlers weniger nach plastischer Vollendung strebte, so verfiel sie darauf, jene Uhren mit beweglichen Gruppen und Figuren, mit melodischen Glocken zu schaffen, die oft in sehr ergötzlicher Weise die Zahl der Stunden anzeigten oder abriefen. Wer kümmerte sich denn auch zu jener Zeit darum, den Gang der Zeit zu reguliren? Rechtsverjährungsfrist war noch nicht erfunden; die physischen und astronomischen Wissenschaften begründeten ihre Rechnungen nicht auf scrupulös genaue[101] Maße; es gab keine Etablissements, die zu bestimmter Stunde geschlossen werden mußten, und noch viel weniger Eisenbahnzüge, die auf die Secunde abfuhren. Des Abends hörte man auf den Klang der Feierglocke, und Nachts, während des tiefen, allgemeinen Schweigens, wurden die Stunden abgerufen. Man lebte wohl weniger Zeit, wenn die Existenz nämlich nach der Menge der vollendeten Dinge abgemessen wird, aber man lebte besser. Der Geist bereicherte sich an den edeln Gefühlen, die aus der Betrachtung von Kunstwerken ihre Nahrung schöpfen, und die Kunst erstand nicht im Fluge. Man baute zwei Jahrhunderte an einer Kirche; die Maler fertigten nur wenige Gemälde im Lauf ihres Lebens; ein Dichter verfaßte vielleicht nur ein hervorragendes Werk, aber das waren ebensoviel Meisterwerke, und die Generationen von Jahrhunderten machten es sich zur Aufgabe, sie nach ihrem Werthe zu schätzen.

Als endlich die exacten Wissenschaften Fortschritte machten, folgte auch die Uhrmacherkunst ihrem Aufschwunge, obgleich sie immer noch von einer unübersteiglichen Schwierigkeit, der regelmäßigen und continuirlichen Messung der Zeit, aufgehalten wurde.

Gerade während dieses Stillstandes erfand Meister Zacharius die Hemmung, die ihm gestattete, eine mathematische Regelmäßigkeit zu erzielen, dadurch, daß er die Bewegung des Pendels einer constanten Kraft unterwarf; und diese Erfindung hatte dem alten Uhrmacher den Kopf verwirrt. Der Stolz in seinem Herzen, der aufstieg, wie das Quecksilber im Thermometer, hatte die Temperatur des transscendentalen Wahnsinns erreicht, und so war der alte Mann von materialistischen Ansichten hingerissen worden und bildete sich ein, bei der Fabrikation seiner Uhren die Geheimnisse der Vereinigung von Seele und Leib erfaßt zu haben.

An jenem Tage, als er sah, daß Aubert ihm aufmerksam zuhörte, sagte er in einfachem, überzeugendem Ton:

»Weißt Du, was das Leben ist, mein Soku? Hast Du die Thätigkeit der Federn, die das Dasein erzeugen, begriffen? Hast Du in Dich selbst geschaut? Nein, denn sonst würdest Du mit dem Auge der Wissenschaft die innige Beziehung zwischen dem Werke Gottes und meinem Werke wahrgenommen haben; habe ich doch nach seinem Geschöpf die Verbindung des Räderwerks in meinen Uhren copirt.

– Meister, fiel hier Aubert lebhaft ein, können Sie eine Maschine von Kupfer und Stahl mit dem Hauch Gottes, den wir Seele nennen, vergleichen?[102] diesem Hauch, der den Körper belebt, wie ein Luftzug den Blumen Bewegung verleiht? Kann es unsichtbare Räder geben, die unsere Arme und Beine in Bewegung setzen? Welche Stücke könnten so gut zusammengepaßt sein, daß sie Gedanken in uns erzeugten!

– Darum handelt es sich nicht, entgegnete ruhig, aber mit dem Eigensinn des Blinden, der auf den Abgrund zuschreitet, Meister Zacharius. Wenn Du mich verstehen willst, so erinnere Dich an den Zweck der von mir erfundenen Hemmung. Als ich die Unregelmäßigkeit im Gange der Uhren gewahrte, sah ich ein, daß die Bewegung in dem Werk nicht ausreichend sei, und daß man sie der Regelmäßigkeit einer andern unabhängigen Kraft unterwerfen müsse; ich sagte mir, daß dies mit einem Pendel zu erzielen sei, wenn es gelänge, seine Schwankungen genau zu regeln. War es nun nicht ein erhabener Gedanke, ihm seine verlorene Kraft durch die nämliche Bewegung der Uhr wiederzugeben, die er selbst regeln sollte?«

Aubert machte ein Zeichen der Zustimmung.

»Jetzt, Aubert, fuhr der alte Uhrmacher lebhafter fort, wirf einen Blick auf Dich selbst! Begreifst Du nicht, daß es zwei verschiedene Kräfte in uns giebt, nämlich die Kraft der Seele und die des Körpers, also eine Bewegung und einen Regulator? Die Seele ist das Princip des Lebens, also ist sie die Bewegung. Ob dieselbe nun durch ein Gewicht, durch eine Feder oder eine immaterielle Einwirkung erzeugt wird, sie sitzt nichtsdestoweniger im Herzen. Ohne den Körper aber würde diese Bewegung ungleich, unregelmäßig, ja unmöglich sein! So regulirt der Körper die Seele und ist, wie der Pendel, regelmäßigen Schwankungen unterworfen; und daß dies sich so verhält, geht daraus hervor, daß man sich schlecht befindet, wenn Essen, Trinken, Schlafen oder sonstige körperliche Functionen nicht gehörig geregelt sind. So giebt, wie bei meinen Uhren, die Seele dem Körper die durch seine Schwankungen verlorene Kraft wieder. Wodurch wird diese innige Vereinigung des Körpers und der Seele hervorgebracht, wenn nicht mit einer wunderbaren Hemmung, durch die das Räderwerk des einen in das Räderwerk der andern eingreift. Und das ist es, was ich errathen und für meine Zwecke angewandt habe; es giebt kein Geheimniß mehr für mich in diesem Leben, das Alles in Allem doch nur eine sinnreiche Mechanik ist!«

Meister Zacharius war erhaben anzuschauen, als er so seine Hallucinationen, die ihn zu den verborgensten Geheimnissen des Unendlichen führten, offenbarte. Seine Tochter Gérande, die auf der Thürschwelle stehen geblieben war, hatte Alles gehört; sie stürzte jetzt ihrem Vater in die Arme, und er drückte sie krampfhaft an seine Brust.


 »Du wirst sehen, daß ich die Geheimnisse des Daseins ergründet habe!« (S. 101.)
»Du wirst sehen, daß ich die Geheimnisse des Daseins ergründet habe!« (S. 101.)

[103] »Du wirst sehen, daß ich die Geheimnisse des Daseins ergründet habe!« (S. 101.)


»Was fehlt Dir, liebe Tochter? fragte er.

– Wenn ich hier nur eine Feder hätte, würde ich Dich nicht so sehr, so sehr lieben können, mein Vater!« sagte sie, und legte die Hand auf ihr Herz.
[104]

 »Vater, lieber Vater! was ist Dir?« (S. 105.)
»Vater, lieber Vater! was ist Dir?« (S. 105.)

Meister Zacharius sah seine Tochter mit starrem Blick an und antwortete nicht. Plötzlich aber schrie er laut auf, fuhr heftig mit der Hand zum Herzen und fiel ohnmächtig auf sein altes Ledersopha zurück.

»Vater, lieber Vater! was ist Dir?

– Hilfe! rief Aubert, Scholastica!«

Aber die Magd eilte nicht sogleich herbei; sie war gerade zur Hausthüre gegangen, um zu öffnen, denn es hatte soeben gepocht, und als sie einige[105] Augenblicke später in die Werkstätte trat, war der alte Uhrmacher wieder zur Besinnung gekommen und rief ihr entgegen:

»Ich will darauf wetten, meine alte Scholastica, daß Du mir wieder eine von den verwünschten Uhren bringst, die in Unordnung gerathen sind!

– Ach, Jesus! es ist freilich die Wahrheit, bestätigte Scholastica und übergab Aubert eine Taschenuhr.

– Mein Herz kann sich nicht darin täuschen!« seufzte der Alte.

Inzwischen hatte Aubert die Uhr mit größter Sorgfalt aufgezogen, er konnte sie jedoch nicht zum Gehen bringen.

Quelle:
Jules Verne: Meister Zacharius. In: Eine Idee des Doktor Ox. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 87–136, S. 98-106.
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