XV. Port-Clarence.

[145] Port-Clarence ist der am weitesten gegen Nordwesten vorgerückte Hafen, welchen Nordamerika an der Beringstraße besitzt. Südlich vom Prince-of-Wales-Kap gelegen, nimmt es eben den Teil des Ufergebietes ein, welcher die Nase des durch die alaskische Küste dargestellten Profils bildet. Der Hafen bietet vorzüglichen Ankergrund und ist daher von den Seefahrern und besonders von den Walfischfängern, deren Schiffe ihr Glück im Polarmeere suchen, hoch geschätzt.

Die »Belle-Roulotte« hatte an dem steilen Ufer des inneren Hafens, nächst der Mündung eines kleinen Flusses, im Schutze hoher, von mageren Birken gekrönter Felsen Posto gefaßt. Dort sollte der längste Aufenthalt der ganzen Reise genommen werden. Dort sollte die Rast der kleinen Truppe sich in die Länge ziehen, – eine erzwungene Rast, bedingt durch den Zustand der Meerenge, welche um diese Jahreszeit noch nicht zugefroren war.[145]

Überflüssig, zu erwähnen, daß der Wagen nicht auf einem jener kleinen Fahrzeuge hinübergeschafft werden konnte, welche in Port-Clarence den Seedienst versehen und eigentlich nur Fischerkähne von sehr geringem Tonnengehalte sind. Man mußte bei dem Plane bleiben, erst dann nach der asiatischen Küste aufzubrechen, wenn das Meer in ein ungeheures Eisfeld verwandelt sein würde.

Die Rast war nicht unwillkommen, bevor man den zweiten Teil der Reise antrat, wo man ernsten physischen Schwierigkeiten, dem Kanipse gegen Kälte und Schneestürme, ausgesetzt sein würde, – wenigstens so lange, bis die Belle-Roulotte die wirtlicheren Gebiete Südsibiriens erreichte. Bis dahin würde man einige sehr schwere Wochen, vielleicht Monate, durchzumachen haben, und man konnte sich nur dazu Glück wünschen, daß man Zeit behielt, die Vorbereitungen zu einer so mühseligen Fahrt zu vollenden. Denn wenn man auch gewisse Gegenstände bei den Indianern des Fort Noulato anzukaufen vermocht hatte, so fehlten doch andere noch, welche Herr Cascabel entweder bei den Kaufleuten oder bei den Eingeborenen in Port-Clarence zu finden hoffte.

Demzufolge empfand sein Personal große Befriedigung, als er sein gewohntes:


»Halt!... Beim Fuß!... Ruht!«


erschallen ließ.

Und diesem, bei militärischen Märschen oder Manövern immer günstig aufgenommenen Kommando folgte sofort ein zweites, welches der junge Xander mit lauter Stimme erteilte:

»Auseinander!«


Man kann sich denken, wie schnell der Befehl ausgeführt wurde.

Selbstverständlich konnte die Ankunft der Belle-Roulotte in Port-Clarence nicht unbemerkt bleiben. Noch niemals hatte ein ähnliches Fuhrwerk sich soweit – bis an die äußerste Grenze Nordamerikas – vorgewagt. Zum erstenmal erschienen französische Gaukler vor den verwunderten Blicken der Eingeborenen.

Eben zu jener Zeit befand sich außer der gewöhnlichen, aus Eskimos und Kaufleuten bestehenden Bevölkerung, eine gewisse Anzahl russischer Beamten in Port-Clarence. Es waren diejenigen, welche nach der Annektierung Alaskas durch die Vereinigten Staaten den Befehl erhalten hatten, sich über die Meerenge zurück entweder auf die Tschuktschen-Halbinsel an der asiatischen Küste, oder aber nach Petropawlowsk, der Hauptstadt von Kamtschatka, zu begeben. Diese Beamten schlossen sich der ganzen Bevölkerung an, um der Familie Cascabel einen guten Empfang zu bereiten; und man muß gestehen, daß die Aufnahme insbesondere seitens der Eskimos eine sehr herzliche war.[146]

Es waren dies dieselben Eskimos, welchen der berühmte Seefahrer Nordenskjöld zwölf Jahre später, zur Zeit seiner kühnen Entdeckung der nordöstlichen Durchfahrt, in diesen Landstrichen begegnen sollte. Damals waren einige dieser Eingeborenen bereits mit Revolvern und Schnellfeuergewehren, den ersten Gaben der amerikanischen Civilisation, bewaffnet.

Da die Sommersaison kaum beendet war, hatten die Einwohner von Port-Clarence ihre Winterwohnungen noch nicht bezogen. Sie hausten in kleinen Zelten, die aus dickem, buntem Baumwollenzeuge elegant hergestellt und durch Kräutergeslechte gefestigt waren. Im Innern derselben fand sich mancherlei Küchengeräte aus Kokosnüssen vor.

Als Clou-de-Girofle dies Geräte zum erstenmal erblickte rief er:

»Sieh da! in den Wäldern des Eskimolandes wachsen Kokospalmen!«

»Wenn...« antwortete ihm Herr Sergius, »diese Nüsse nicht etwa durch die Walfischfänger, die Port-Clarence anlaufen, von den Inseln des Stillen Oceans herübergebracht und hier gegen andere Waren ausgetauscht worden sind.«

Und Herr Sergius hatte recht. Überhaupt war der Verkehr zwischen Amerikanern und Eingeborenen zu dieser Zeit bereits ein sehr reger. Es vollzog sich eine Fusion zwischen ihnen, welche der Entwicklung der Eskimorasse zum großen Vorteil gereichen sollte.

Mit Bezug auf letztere ist zu bemerken und wird späterhin ersichtlich sein, daß keine Ähnlichkeit in Typus oder Sitten zwischen den Eskimos amerikanischen Ursprungs und den Eingeborenen Sibiriens besteht. Die alaskischen Stämme verstehen nicht einmal die Sprache, welche westlich von der Beringstraße gesprochen wird. Da ihr Idiom indessen stark mit englischen und russischen Wörtern versetzt ist, fiel es nicht allzu schwer, sich mit ihnen zu unterhalten.

So kam es denn, daß die Familie Cascabel schon in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft mit den um Port-Clarence verstreut lebenden Eingeborenen in Verbindung zu treten suchte. Und als sie in den Zelten dieser wackeren Leute gastfreundlich aufgenommen wurde, zögerte sie nicht, ihnen die Pforten der Belle-Roulotte zu öffnen – was sie nicht zu bereuen hatte.

Diese Eskimos sind übrigens auch viel civilisierter, als man im allgemeinen annimmt. Auf Grund der Kleidung, welche sie besonders während der kalten Jahreszeit tragen, stellt man sie sich als eine Art redender Seehunde, als Amphibien mit Menschengesichtern vor. Aber da irrt man sehr; und in Port-Clarence sind Repräsentanten der Eskimorasse weder abstoßend in ihrer Erscheinung, noch unangenehm im Umgang. Einige von ihnen treiben ihre Achtung vor der Mode sogar soweit, sich beinahe europäisch zu kleiden. Die meisten gehorchen einer gewissen Koketterie, welche den Anzug aus Renntier-[147] oder Seehundsfell, den »Pask« aus Murmeltierpelz, die Tätowierung des Gesichts, das heißt einige leichte, Farbenzeichnungen auf dem Kinn, zuläßt. Die Männer haben kurze oder gar keine Bärte; in den Mundwinkeln gestatteten ihnen drei kunstvoll gestochene Löcher, kleine Ringe aus geschnitztem Bein zu tragen; der Nasenknorpel erhält ebenfalls einige Zieraten dieser Art.

Kurz, die Eingeborenen, welche der Familie Cascabel ihre Aufwartung zu machen kamen, hatten kein widerliches Aussehen – wie es bei den Samojeden oder anderen Bewohnern des asiatischen Küstengebiets nur zu oft der Fall ist. Die jungen Mädchen trugen Perlenschnüre in den Ohren und recht sein gearbeitete Armbänder von Eisen oder Kupfer an den Armen.

Auch waren es ehrliche Leute, rechtlich in ihrem geschäftlichen Verkehr, wenngleich sie übermäßig zu feilschen und zu betteln pflegten. Aber schließlich würde man zu streng verfahren, wenn man den Bewohnern der Polarregion diesen Fehler zum Vorwurf machen wollte.

Die vollkommenste Gleichheit herrscht unter ihnen. Sie haben nicht einmal Stammesoberhäupter. Was ihre Religion betrifft, so ist sie eine heidnische. Als Gottheiten beten sie geschnitzte, rot angestrichene Pfosten an, welche verschiedenartige Vögel mit weit ausgebreiteten Flügeln vorstellen. Sie haben reine Sitten, sehr entwickeltes Familiengefühl, Achtung vor den Eltern, Liebe zu den Kindern, Ehrfurcht vor den Toten, deren der Luft ausgesetzte Leichen in Festgewänder gehüllt sind und Waffen und Kähne bei sich haben.

Die Cascabels fanden diese täglichen Spaziergänge in der Umgebung von Port-Clarence sehr anziehend. Öfters besuchten sie auch eine alte, seinerzeit von Amerikanern gegründete Ölmühle, die damals noch in Betrieb war.

Das Land ist nicht arm an Bäumen und Pflanzen und bietet daher einen ganz andern Anblick, als die Tschuktschen-Halbinsel jenseits der Meerenge. Das rührt daher, daß eine aus den heißen Strichen des Stillen Oceans kommende warme Strömung längs der Küste von einer, dem nördlichen Polarmeere entstammenden, kalten Strömung bespült wird.

Selbstverständlich hegte Herr Cascabel nicht die Absicht, den Einwohnern von Port-Clarence Vorstellung zu geben. Er traute der Sache nicht, und das mit Grund. Man bedenke: Wenn sich unter ihnen ebenso bedeutende Akrobaten, Gaukler, Clowns, wie unter den Indianern vom Fort Youkon befunden hätten!

Es war besser, den Ruf der Familie nicht ein zweites Mal auf's Spiel zu setzen.

Inzwischen vergingen die Tage, und es wurden deren wirklich mehr, als die kleine Truppe zum Ausruhen benötigte. In der That wären alle nach einwöchentlichem Aufenthalte in Port-Clarence imstande gewesen, den Anstrengungen einer Reise auf sibirischem Boden zu trotzen.


Die Familie Cascabel wollte sich mit den Eingeborenen in Verbindung setzen. (Seite 147.)
Die Familie Cascabel wollte sich mit den Eingeborenen in Verbindung setzen. (Seite 147.)

Aber die Meerenge war noch immer unwegsam für die Belle-Roulotte. Wenn die Temperatur zu Ende[148] September und in diesen Breiten auch bereits unter Null gesunken war, so fror der Meerarm, welcher Asien von Amerika trennt, doch noch nicht zu. Zahllose Eisschollen trieben vorüber, welche sich an den Grenzen des Beringmeeres gebildet hatten und von der aus dem Stillen Ocean kommenden Strömung an der alaskischen Küste hin nach Norden[149] getragen wurden. Aber man mußte warten, bis diese Schollen, gefestigt und aneinander gefroren, ein einziges ungeheures, unbeweglich und fahrbar zwischen beiden Kontinenten eingekeiltes Eisfeld ausmachten.

Es war offenbar, daß die Belle-Roulotte und ihr Personal auf dieser Eisfläche, die widerstandsfähig genug wäre, um den Übergang eines Artillerie-Trains auszuhalten, keinerlei Gefahr laufen würde. Überdies betrug die Entfernung am schmalsten Punkte der Meerenge zwischen dem ein wenig oberhalb von Port-Clarence befindlichen Prince-of-Wales-Kap und dem an der sibirischen Küste gelegenen kleinen Hafen von Numana höchstens zwanzig Meilen.

»Teufel!« sagte Herr Cascabel eines Tages, »es ist wirklich ärgerlich, daß die Amerikaner keine Brücke gebaut haben!«

»Eine Brücke von zwanzig Meilen!« rief Xander.

»Warum nicht?« meinte Jean. »Die kleine Insel Diomedes inmitten der Meerenge könnte ihr als Stützpunkt dienen...«

»Es wäre nicht unmöglich,« bemerkte Herr Sergius, »und wir dürfen immerhin glauben, daß es eines Tages dazu kommen wird, wie zu allem, was von der Intelligenz der Menschen abhängt.«

»Man denkt ja doch daran, eine Brücke über den Pas-de-Calais zu bauen,« sagte Jean.

»Allerdings, mein Freund,« antwortete Herr Sergius. »Aber wir müssen doch zugeben, daß die Brücke über die Beringstraße weniger nützlich als die Brücke von Calais nach Dover sein würde. Sie würde sich entschieden nicht bezahlt machen!«

»Wenn sie den Reisenden im allgemeinen wenig Nutzen brächte,« versetzte Cornelia, »so wäre sie doch wenigstens für uns sehr bequem...«

»Das sollt' ich meinen!« erwiderte Herr Cascabel. »Aber während zwei Dritteilen des Jahres existiert unsere Brücke ja, eine Eisbrücke, die ebenso solid, wie irgend eine beliebige Brücke von Stein oder Eisen ist. Nach ihrem Zusammensturze baut Frau Natur sie alljährlich von neuem auf; und sie verlangt keinen Brückenzoll!«

Mit seiner Gewohnheit, die Dinge von der guten Seite zu betrachten, sprach Herr Cascabel die Wahrheit. Wozu eine Brücke, die Millionen kosten würde, wenn man nur den günstigen Augenblick abzuwarten brauchte, um zu Fuß wie zu Wagen sicher hinüberzukommen.

Es konnte ja nicht mehr lange anstehen. Man mußte nur ein wenig Geduld haben.

Zu Anfang Oktober war der Winter in diesen hohen Breiten endgiltig eingezogen. Es schneite häufig. Jede Spur von Vegetation war verschwunden. Die wenigen Bäume des Küstengebietes verloren ihre letzten Blätter und bedeckten sich mit Reis. Man sah nichts mehr von den verkümmerten der Polargegenden,[150] deren Gattungen so nahe verwandt mit denen Skandinaviens sind, und auch keine jener Linaria1, welche fast ausschließlich den Kräuterschatz der Polarflora bilden. Und wenn die Eisschollen auch, von der schnellen Strömung getragen, noch immer durch die Meerenge trieben, so nahmen sie doch an Größe und Dicke zu. Wie es nur einer kurzen Erhitzung bedarf, um Metalle anzuschweißen, so würde es auch hier nur einer kurzen Erkaltung bedürfen, um die Eisstücke zu verbinden. Es konnte jeden Tag dazu kommen.

Aber wenn die Familie Cascabel auch Eile hatte Port-Clarence zu verlassen, und wenn es ihr auch große Freude machen würde, endlich das alte Festland zu betreten, so hatte diese Freude trotz alledem eine Beimischung von Trauer. Handelte es sich doch um die Trennungsstunde. Gewiß würde man Alaska verlassen; aber Herr Sergius würde dort zurückbleiben, da er nicht weiter nach Westen vorzudringen gedachte. Sobald der Winter vorüber war, würde er seine Ausflüge in jenem Teil von Amerika, dessen Erforschungen er zu vollenden wünschte, wieder aufnehmen, indem er die nördlich vom Youkon und jenseits der Berge gelegenen Gebiete besuchte.

Eine grausame Trennung für die einen, wie für die andern, denn sie waren alle nicht allein durch gegenseitige Sympathie, sondern auch durch eine innige Freundschaft verbunden.

Man wird unschwer erraten, daß Jean am allerbetrübtesten war. Konnte er doch nicht vergessen, daß Herr Sergius Kayette mit sich fortnehmen werde! Aber lag es nicht im Interesse der jungen Indianerin, daß ihre Zukunft der Sorge ihres neuen Vaters anheimgestellt blieb? Bei wem konnte sie besser aufgehoben sein, als bei Herrn Sergius? Er hatte sie an Kindesstatt angenommen; er würde sie nach Europa bringen, sie unterrichten lassen, ihr eine Stellung sichern, wie sie ihr eine arme Gauklerfamilie niemals bieten könnte. Hätte man angesichts solcher Vorteile zögern dürfen? Nein, gewiß nicht! und Jean war der Erste, es einzusehen. Aber er empfand trotzdem einen Kummer darüber, der sich in seiner wachsenden Traurigkeit verriet. Wie hätte er sich auch zu beherrschen vermocht? Sich von Kayette trennen – sie nicht mehr sehen – nicht einmal auf ein Wiedersehen mit ihr hoffen dürfen, wenn sie ihm physisch und moralisch so weit entrückt sein, wenn sie ihren Platz in der eigenen Familie des Herrn Sergius eingenommen haben würde – die süße Gewohnheit, mit einander zu plaudern, zu arbeiten, stets beisammen zu sein, aufgeben müssen – es war zum Verzweifeln!

Wenn Jean sehr unglücklich war, so konnten seine Eltern und Geschwister sich auch ihrerseits nicht in den Gedanken finden, ihre innig geliebte Kayette und Herrn Sergius verlieren zu sollen. Sie hätten, wie Herr Cascabel sagte,[151] viel darum gegeben, Herrn Sergius bis ans Ziel ihrer Reise zum Gefährten zu haben. Da könnte man noch einige Monate mit ihm verbringen und dann... hernach... würde man ja sehen...

Wie bereits erwähnt, hatten die Einwohner von Port-Clarence die Familie sehr liebgewonnen. Sie sahen nicht ohne Besorgnis den Augenblick herannahen, wo sie sich wirklich ernsten Gefahren in den Steppen aussetzen würden. Aber wenn die Eingebornen diesen in so große Ferne ziehenden Franzosen Sympathie bezeigten, so waren dagegen einige der vor kurzem an der Meerenge eingetroffenen Russen geneigt, dem Personal der Truppe und insbesondere Herrn Sergius aus ganz anderen Gründen Aufmerksamkeit zu schenken.

Man wird sich erinnern, daß eben damals eine gewisse Anzahl jener Beamten in Port-Clarence weilte, welche die Annexion von Alaska nötigte, sich nach Sibirien zurückzubegeben.

Unter diesen Beamten waren zwei mit einer ganz speziellen Mission auf den der moskowitischen Verwaltung unterstehenden amerikanischen Gebieten betraut gewesen. Dieselbe bestand in der Überwachung der politischen Flüchtlinge, welchen Neu-England ein Asyl gewährte, und die versucht sein könnten, die alaskische Grenze zu überschreiten. Nun erschien ihnen dieser Russe, welcher der Gefährte und Gast einer Gauklerfamilie geworden war, dieser Herr Sergius, der knapp an der Grenze des Zarenreichs Halt gemacht hatte, ein wenig verdächtig. Sie verloren ihn denn auch nicht aus den Augen, vermieden aber sorgfältig, sich etwas anmerken zu lassen.

Herr Sergius ahnte demzufolge nicht, daß er der Gegenstand eines gewissen Mißtrauens sei. Er fürchtete ebenfals nichts, als die nahe Trennung. War er unschlüssig, ob er seine Forschungsreise durch Westamerika wieder aufnehmen, oder aber seine neuen Freunde nach Europa begleiten solle? Es wäre schwer gewesen, das zu entscheiden. Indessen beschloß Herr Cascabel, da er ihn ziemlich nachdenklich sah, eine Auseinandersetzung über diesen Gegenstand herbeizuführen.

Eines Abends, am elften Oktober, wandte er sich nach dem Nachtmahl zu Herrn Sergius und bemerkte, als ob er etwas Neues vorbrächte:

»Nebenbei gesagt, Herr Sergius, Sie wissen, daß wir bald nach Ihrem Vaterlande aufbrechen werden?«

»Allerdings, meine Freunde... Das ist eine abgemachte Sache...«

»Jawohl... Wir gehen nach Rußland... und werden Perm passieren..., wo Ihr Vater wohnt, wenn ich nicht irre...«

»Und ich sehe Sie nicht ohne Bedauern und ohne Neid dahin abreisen!«

»Herr Sergius,« sagte Cornelia, »gedenken Sie noch lange in Amerika zu bleiben?«

»Lange?... Ich weiß es kaum...«[152]

»Und welchen Weg werden Sie einschlagen, wenn Sie nach Europa zurückkehren?«

»Den Weg durch den Far West... Meine Forschungsreise wird mich unfehlbar in die Nähe von New-York führen und dort werde ich mich mit Kayette einschiffen...«

»Mit Kayette!« murmelte Jean mit einem Blick auf die junge Indianerin, welche den Kopf senkte.

Ein sekundenlanges Schweigen entstand. Dann begann Herr Cascabel mit unsicherer Stimme:

»Hören Sie, Herr Sergius... ich werde mir erlauben, Ihnen einen Vorschlag zu machen... Oh, ich weiß wohl, daß die Reise durch jenes verteufelt große Sibirien sehr beschwerlich sein wird... Aber mit Mut und Willenskraft...«

»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »seien Sie versichert, daß mich weder Gefahren noch Anstrengungen erschrecken und daß ich sie gern mit Ihnen teilen würde, wenn...«

»Warum sollten wir die Reise nicht zusammen beenden?« fragte Cornelia.

»Wie nett das wäre!« fügte Xander hinzu.

»Ich würde Ihnen einen Kuß geben, wenn Sie Ja sagten!...« rief Napoleone.

Jean und Kayette sprachen kein Wort und ihre Herzen pochten heftig.

»Mein lieber Cascabel,« sagte Herr Sergius, nachdem er einige Sekunden nachgedacht, »ich möchte Sie und Ihre Frau um eine Unterredung bitten.«

»Wir stehen zu Diensten... sofort...«

»Nein... morgen,« antwortete Herr Sergius.

Daraufhin suchte jedermann, sehr unruhig und sehr gespannt zugleich, sein Lager auf.

Worüber wünschte Herr Sergius eine Unterredung zu haben? Dachte er seine Pläne zu ändern, oder wollte er die Familie nur in den Stand setzen, ihre Reise unter günstigeren Bedingungen anzutreten, indem er sie zwang eine kleine Geldsumme von ihm anzunehmen?

Jean und Kayette schlossen die ganze Nacht kein Auge.

Am folgenden Morgen fand die Unterredung statt. Nicht aus Mißtrauen gegen die Kinder, sondern aus Furcht, von den Eingeborenen oder anderen Leuten, welche ein- und ausgingen, belauscht zu werden, hatte Herr Sergius Herrn und Frau Cascabel gebeten, ihn in einige Entfernung von dem Lager zu begleiten. Ohne Zweifel war das, was er ihnen zu sagen hatte, etwas Wichtiges, das geheim bleiben sollte.

Alle drei schlugen den Weg nach der Ölfabrik ein und nun entspann sich folgende Unterredung.[153]

»Meine Freunde,« sagte Herr Sergius, »hören Sie mich an und überlegen Sie wohl, bevor Sie auf den Vorschlag antworten, den ich Ihnen machen werde. Ich zweifle nicht an Ihren guten Herzen, und Sie haben mir bewiesen, wieweit Ihre Opferwilligkeit gehen kann. Aber in dem Augenblick, wo Sie eine endgiltige Entscheidung treffen sollen, müssen Sie wissen, wer ich bin...«

»Wer Sie sind?... Ei! ein wackerer Mann,« rief Herr Cascabel.

»Sei's drum... ein wackerer Mann,« antwortete Herr Sergius, »aber ein wackerer Mann, der die Gefahren Ihrer sibirischen Reise nicht durch seine Gegenwart vergrößern will.«

»Ihre Gegenwart... eine Gefahr... Herr Sergius?« antwortete Cornelia.

»Ja, denn ich heiße Graf Sergius Narkine... Ich bin ein politischer Flüchtling!«

Und Herr Sergius erzählte in kurzen Worten seine Geschichte.

Graf Sergius Narkine gehörte einer reichen Familie des Gouvernements von Perm an.

Für Wissenschaften und geographische Entdeckungen schwärmend, hatte er, wie er schon früher erwähnt, seine Jugendjahre auf Reisen in sämtliche Weltteile verwendet.

Unglücklicherweise blieb er nicht bei diesen kühnen Zügen, welche ihm wahre Berühmtheit hätten eintragen können. Die Politik griff in sein Leben ein, und im Jahre 1857 wurde er in einer geheimen Gesellschaft, in welche seine Beziehungen ihn geführt hatten, kompromittiert. Um es kurz zu sagen: die Mitglieder dieser Gesellschaft wurden arretiert, mit aller der moskowitischen Verwaltung eigenen Energie zur Verantwortung gezogen und größtenteils zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt.

Auch Sergius Narkine befand sich unter den Verurteilten. Er mußte nach Jakutsk, dem ihm angewiesenen Verbannungsorte, aufbrechen und seinen einzigen lebenden Verwandten, seinen Vater, den Fürsten Wassili Narkine, verlassen, der jetzt achtzig Jahre zählte und auf seiner Besitzung Walska in der Nähe von Perm wohnte.

Nachdem er fünf Jahre in Jakutsk verbracht hatte, gelang es dem Gefangenen zu entkommen und Okholsk an der Küste des gleichnamigen Meeres zu er reichen. Dort vermochte er sich auf einem eben abgehenden Fahrzeuge einzuschiffen und in einem kalifornischen Hafen zu landen.


Ich bin ein politisch Verbannter. (Seite 154.)
Ich bin ein politisch Verbannter. (Seite 154.)

So hatte Graf Sergius Narkine denn seit sieben Jahren teils in den Vereinigten Staaten, teils in Britisch-Amerika gelebt und sich immer wieder Alaska genähert, wohin er zu gehen dachte, sobald es amerikanisch geworden wäre. Ja! erhegte die geheime Hoffnung, durch Sibirien nach Europa zurückzukehren, – genau dasselbe, was Herr Cascabel geplant hatte und that. Man kann sich vorstellen, was er empfand, als er hörte, daß diese Familie, der er seine Rettung verdankte, auf dem Wege nach der Beringstraße sei, um nach Asien hinüber zu gehen.

Begreiflicherweise empfand er den lebhaftesten Wunsch, sie zu begleiten. Aber durfte er sie den Repressalien der russischen Regierung aussetzen? Was würde geschehen, wenn man entdeckte, daß sie die Rückkehr eines politischen Verurteilten nach Rußland begünstigt habe? Und doch, sein Vater war sehr bejahrt, er sehnte sich, ihn wiederzusehen...

»Kommen Sie, Herr Sergius, kommen Sie mit uns!« rief Cornelia.

»Ihre Freiheit, meine Freunde, vielleicht Ihr Leben steht auf dem Spiele, wenn man erfährt...«

»Was liegt daran, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel., Jeder von uns hat da oben eine laufende Rechnung, nicht wahr? Nun denn, sehen wir zu, daß möglichst viele gute Handlungen darin eingetragen werden!... Das hebt die schlechten auf!«

»Mein lieber Cascabel, bedenken Sie wohl...«

»Und übrigens wird man Sie nicht erkennen, Herr Sergius! Wir sind auch schlau, und hol mich der Henker, wenn wir die Späher der russischen Polizei nicht zum Narren halten!«

»Trotzdem...« erwiderte Herr Sergius.

»Und am Ende... falls es nötig ist... werden Sie sich als Gaukler kleiden... wenn Sie sich dessen nicht etwa schämen...«

»O!... mein Freund!...«

»Und wer wird je auf den Gedanken kommen, daß Graf Narkine unter dem Personal der Familie Cascabel figuriere?«

»Sei es denn; ich willige ein, meine Freunde!... Ja!... ich willige ein!... Und ich danke Ihnen...«

»Schon gut! schon gut!« rief Herr Cascabel. »Dank!... Glauben Sie etwa, daß wir Ihnen nicht ebensoviel zu danken haben?... Also, Herr Graf...«

»Nennen Sie mich nicht Graf!... Für alle Welt... selbst für Ihre Kinder... muß ich einfach Herr Sergius bleiben...«

»Sie haben recht... Die Kinder brauchen nichts davon zu wissen... So ist es denn abgemacht, wir nehmen Sie mit, Herr Sergius!... Und ich, Cäsar Cascabel, mache mich anheischig, Sie nach Perm zu führen; ich setze meinen Namen daran, – und Sie werden zugeben, daß es ein unersetzlicher Verlust für die Kunst wäre, wenn ich ihn einbüßte!«[156]

Was die Aufnahme betrifft, welche Herrn Sergius bei seiner Rückkehr in die Belle-Roulotte zuteil wurde, als Jean, Kayette, Xander, Napoleone und Clou vernahmen, daß er sie nach Europa begleiten werde, so kann man sich dieselbe auch ohne nähere Beschreibung vorstellen.

Fußnoten

1 Linaria = Leinkraut.


Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 157.
Lizenz:

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