Zehntes Capitel.
Eine ununterbrochene Reihe von Ortschaften, arabische Hütten. (S. 105.)
Eine ununterbrochene Reihe von Ortschaften, arabische Hütten. (S. 105.)

[104] Um zwölf Uhr fünfzehn hat unser Zug die Station Kari-Bata hinter sich gebracht, die schon mehr einer Haltestelle der Eisenbahn zwischen Neapel und Sorrent gleicht, wegen der italienischen Dächer der Häuser. Hier fällt mir ein großes asiatisch-russisches Lager in die Augen, dessen Fahnen im frischen Winde[104] flattern.


Von hier strahlt noch ein Ueberbleibsel jener Localfarbe aus. (S. 108.)
Von hier strahlt noch ein Ueberbleibsel jener Localfarbe aus. (S. 108.)

Wir haben die Oase von Merv erreicht, die bei einer Länge von hundertfünfundzwanzig Kilometern zwölf Kilometer breit ist und sechshunderttausend Hektaren umfaßt .... Der Leser wird zugestehen, daß es meinen Angaben nicht an der nöthigen Genauigkeit fehlt.

Rechts und links wohlbestellte Felder, Gruppen von schönen Bäumen, eine ununterbrochene Reihe von Ortschaften, arabische Hütten im Dickicht halb verborgen, Obstgärten zwischen den Häusern, und auf den ausgedehnten Weiden sich tummelnde Schaf- und Rinderheerden ... Die fruchtbare Landschaft war von[105] dem Murgab – dem »Weißen Wasser« – und durch dessen Nebenarm berieselt, und überall schwärmen hier Fasanen umher, wie die Krähen auf den Ebenen der Normandie.

Um ein Uhr Nachmittag hält der Zug im Bahnhof von Merv an, das von Uzun-Ada achthundertzweiundzwanzig Kilometer entfernt ist. Die Fackel des Krieges hat Turkestan nicht verschont. In früherer Zeit war dasselbe, wie es scheint, ein Mörder- und Räubernest, und es ist für den armen Ki-Tsang bedauerlich, daß er nicht zu jener Zeit gelebt hat. Vielleicht wäre ein richtiger Genghiz-Khan aus ihm geworden.

Der Major Noltitz citirt mir bei dieser Gelegenheit ein turkmenisches Sprichwort:

»Wenn Du einen Mervier und eine Viper antriffst, so tödte zuerst den Mervier und schaffe die Giftschlange nachher aus der Welt!«

Ich glaube, seit Mervien russisch ist, wird man wohl die Vipern zuerst umbringen müssen.

In Merv sieben Stunden Aufenthalt. Ich werde Zeit haben, diese merkwürdige Stadt zu besuchen, deren physische und moralische Umwandlung, Dank den freilich etwas willkürlichen Maßregeln der russischen Behörden, eine wirklich erstaunliche ist.

Es ist ein Glück, daß ihre, acht Kilometer im Umfang messenden Festungswerke, die erst 1873 von Nur-Verdy errichtet worden sind, dem Sturme der Truppen des Czaren nicht zu widerstehen vermochten. So ist aus dem Verbrecherneste eine der wichtigsten Städte Transcaspiens geworden.

Ich wende mich an den Major Noltitz.

»Wenn es kein Mißbrauch Ihrer Gefälligkeit ist, so darf ich Sie wohl um Ihre Begleitung bitten ....

– Recht gern, antwortet er, ich freue mich selbst darauf, Merv einmal wiederzusehen.«

Wir sind schnellen Schrittes aufgebrochen.

»Ich muß Sie übrigens dahin aufklären, bemerkt da der Major, daß wir nur die neue Stadt sehen werden.

– Warum nicht zuerst die alte? ... Das wäre logischer und auch chronologischer ...

– Weil das alte Merv von dem neuen dreißig Kilometer entfernt liegt, und Sie werden es ein wenig im Vorüberfahren zu sehen bekommen. Verlassen[106] Sie sich nach dieser Seite völlig auf die so vortreffliche Schilderung Ihres großen Geographen Elisée Reclus.«

Die Leser werden bei diesem Tausche nichts einbüßen.

Die Entfernung des Bahnhofs vom neuen Merv ist nur gering. Doch welch' abscheulicher Staub! Die Handelsstadt ist auf dem linken Flußufer erbaut – eine Stadt nach amerikanischem Muster, die Fulk Ephrjuell gefallen muß. Breite, nach der Schnur gezogene Straßen, die sich in rechten Winkeln schneiden; geradlinige Alleen mit Baumreihen; ein Getümmel von orientalisch gekleideten Händlern, von Israeliten, Mercantis der verschiedensten Stämme; sehr viele Kameele und Dromedare, die letzteren sehr gesucht wegen ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Ermüdung, und die mit dem Hintergestell wesentlich von ihren Stammesverwandten in Afrika abweichen. Wenige Frauen auf den sonnenübergossenen Straßen, die bis zur Weißglut erhitzt erscheinen. Immerhin habe ich einige recht bemerkenswerthe weibliche Typen gesehen, die in halb militärischer Tracht und weichen Stiefeln nach circassischer Mode Patronenbehälter auf der Brust tragen. Uebrigens hüte man sich hier vor den umherschweifenden Hunden, ausgehungerten, langhaarigen Thieren mit beunruhigenden Spitzzähnen. Sie gehören einer Rasse an, die man Hunde vom Kaukasus nennt, und diese Thiere haben ja wohl, wie der Ingenieur Boulangier berichtet, einen russischen General aufgezehrt?

»Nicht ganz und gar, antwortet mir der Major, die Thatsache bestätigend. Sie haben seine Reiterstiefeln übrig gelassen!«

Im Handelsquartiere, im Hintergrunde dunkler Räume zu ebener Erde, die von Persern und Juden bewohnt werden, sowie im Innern elender Schuppen, werden jene unglaublich seinen und wunderbar künstlerisch gefärbten Teppiche verkauft, die größtentheils von alten Frauen und ohne Jacquard'sche Cartons gewebt werden.

An beiden Ufern des Murgab haben die Russen ihre Militäretablissements errichtet. Hier paradiren die turkmenischen Soldaten im Dienste des Czaren. Sie tragen blaue Mützen und weiße Achselkappen mit der gewöhnlichen Uniform und exercieren unter der Leitung russischer Officiere.

Eine fünfzig Meter lange Brücke, deren Bahn auf Holzböcken ruht, überspannt den Fluß. Sie ist nicht nur für Fußgänger, sondern auch für Bahnzüge berechnet, und über ihrer Brustwehr ziehen sich die Telegraphendrähte hin.[107]

Auf dem andern Flußufer liegen die Verwaltungsgebäude, die eine große Anzahl von Civilbeamten enthalten, welche alle gleichmäßig die russische Mütze tragen.

Von großem Interesse ist der Besuch eines Anhängsels der Stadt, des Dorfes Teke, einer Enclave von Merv, deren Bewohner den Verbrechertypus der aussterbenden Rasse bewahrt haben und die sich durch muskulösen Körper, weit abstehende Ohren, dicke Lippen und schwarzen Bart auszeichnen. Von hier strahlt noch ein Ueberbleibsel jener Localfarbe aus, die der neuen Stadt gänzlich fehlt.

An der Biegung einer Straße des Mercanti-Quartiers stoßen wir auf den amerikanischen Mäkler und die englische Mäklerin.

»Herr Ephrjuell! rufe ich. In diesem modernen Merv giebt es eigentlich nichts Sehenswerthes!

– Im Gegentheil, Herr Bombarnae, die Stadt ist fast Yankee, und wird es gänzlich sein, wenn die Russen sie einmal mit Pferdebahnen und Gaslaternen versehen haben.

– Das wird nicht ausbleiben.

– Ich hoffe es, und Merv wird dann Anspruch auf den Namen einer wirklichen City haben.

– Ich für meinen Theil, Herr Ephrjuell, hätte lieber einen Ausflug nach der alten Stadt gemacht und ihre Moscheen, ihre Festungen und ihre Paläste besucht. Leider ist sie etwas weit von hier; der Zug hält daselbst auch nicht an; ich bedaure ...

– Pah! machte der Yankee; was ich bedaure, ist allein, daß im Lande der Turkmenen nichts zu verdienen ist. Die Menschen hier haben doch Gebisse..

– Und die Frauen schleppen sich mit einem Haarwuchs, wie noch nie, setzt Miß Horatia Bluett hinzu.

– Nun dann, Miß, kaufen Sie doch solches Haar ein, da würden Sie ja Ihre Zeit nicht verloren haben.

– Das wird das Haus Holmes-Holme in London unzweifelhaft thun, erwidert mir die Reisende, sobald wir die Vorräthe des Himmlischen Reiches erschöpft haben.«

Hiermit verläßt uns das Paar.

Ich schlage jetzt – es ist bereits sechs Uhr – dem Major Noltitz vor, in Merv vor Abgang des Zuges noch zu speisen. Er nimmt an, hat aber damit Unrecht gethan.[108]

Ein Unstern hat uns nach dem »Hôtel Slave« geführt, das weit unter unserm Dining-car steht – wenigstens bezüglich der Qualität seiner Speisen. Hier gab es besonders ein Nationalgericht, den »Bortch«, der aus saurer Milch bereitet wird, den ich mich aber hüten werde, den Feinschmeckern des »XX. Jahrhundert« zu empfehlen.

Doch, in Bezug auf mein Journal und die Depesche, die den mit uns geführten todten Mandarinen betrifft? ... Wird Popof aus den Stummen, die ihn begleiten, den Namen dieser hohen Persönlichkeit herausgelockt haben?

Ja, endlich. Kaum befinden wir uns auf dem Perron des Bahnhofs, als er auf mich mit den Worten zugelaufen kommt:

»Ich weiß den Namen.

– Und dieser lautet? ...

– Yen-Lou ... der Groß-Mandarin Yen-Lou, von Peking.

– Danke, Popof!«

Ich stürze nun nach dem Telegraphenbureau, durch das ich an das »XX. Jahrhundert« folgende Depesche entsende:


Merv, den 16. Mai, 7 Uhr Abends.


Zug der Groß-Transasiatischen wird gleich Merv verlassen. In Duchak die Leiche des Groß-Mandarinen Yen-Lou eingenommen, die von Persien kommt und nach Peking bestimmt ist.

Die Depesche kostet ein Heidengeld, doch man wird zugeben, sie war es auch werth.

Der Name Yen-Lou hat sich sofort unter den Reisenden verbreitet, und es scheint mir, daß der Seigneur Farusklar lächelte, als er ihn aussprechen hörte.

Wir haben den Bahnhof genau um 8 Uhr verlassen. Vierzig Minuten später kommen wir an dem alten Merv vorüber; bei der dunkeln Nacht konnte ich aber nichts davon erkennen. Es giebt hier übrigens eine Festung mit viereckigen Thürmen und einer Schutzmauer aus an der Sonne gebrannten Lehmsteinen, Ruinen von Gräben und Palästen, Reste von Moscheen, kurz, eine Menge archäologischer Dinge, die wenigstens in meinem Berichte zweihundert Zeilen kleiner Schrift eingenommen hätten.

»Trösten Sie sich, sagt mir da der Major Noltitz. Ihre erhoffte Befriedigung wäre doch keine vollkommene gewesen, denn das alte Merv ist viermal neu aufgebaut. Hätten Sie die vierte Stadt gesehen, das Bairam-Ali der persischen Zeit, so hätten Sie doch die dritte Stadt nicht mehr gesehen, die mongolisch[109] war, noch weniger die zweite Stadt aus der muselmanischen Epoche, die Sultan-Sandjar-Kala hieß, und natürlich ebensowenig die der allerersten Zeit. Die letztere nennen die Einen Iskander-Kala nach dem Namen des Macedoniers Alexander, des Gründers der Religion der Magier, etwa tausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung. Ich rathe Ihnen also, Ihr Bedauern in den Papierkorb zu werfen.«

Das that ich denn auch, da mir doch nichts Andres übrig blieb.

Unser Zug eilt jetzt nach Nordosten hin. Die Stationen liegen zwanzig bis dreißig Werst von einander. Ihre Namen werden nicht ausgerufen, da daselbst kein Aufenthalt vorgesehen ist, und ich bin darauf beschränkt, sie nach meinem Fahrplan aufzuführen. Sie heißen Keltchi, Ravina – wie kommt dieser italienische Name hierher nach Turkestan? – Peski, Repetek u.s.w. Wir durchmessen die Wüste, die reine Wüste ohne einen Wasserfaden. Man hat deshalb artesische Brunnen angelegt, die die Wasserbehälter der Bahn hinlänglich speisen.

Der Major berichtet mir, daß die Ingenieure hier große Schwierigkeiten gehabt haben, die Dünen neben der Strecke der Bahn festzulegen. Wären die dazu dienenden Palissaden nicht schräg aufgestellt gewesen, wie der Bart einer Gänsefeder, so würde die Bahn sehr bald vom Sande überweht und damit jeder Verkehr unterbrochen worden sein. Nachdem diese Dünengegend überwunden ist, werden wir die ganz horizontale Ebene vorfinden, wo die Schienenlegung ungemein schnelle Fortschritte gemacht hatte.

Allmählich schlafen meine Reisegefährten ein und unser ganzer Waggon ist in einen Sleeping-car verwandelt.

Ich komme nun auf meinen Rumänen zurück. Soll ich versuchen, ihn diese Nacht wieder zu sehen? Unzweifelhaft, und zwar nicht allein, um eine sehr natürliche Neugier zu befriedigen, sondern auch, um ihn aus seiner Unruhe zu reißen. Wenn er nun im Bewußtsein, daß der, der ihn durch die Wände seines Kastens ansprach, doch sein Geheimniß kennen mußte, wenn ihm einfiel, auf irgend einer Station heimlich auszusteigen, seine Reise zu opfern, auf das Zusammentreffen mit Fräulein Zinca Klork zu verzichten, um der Bestrafung durch die Bahngesellschaft zu entgehen .... Das ist Alles in Allem wohl denkbar, und dann wäre meine Intervention für den armen Jungen schädlich gewesen ... ohne zu rechnen, daß ich meine Nummer 11 verlöre, die eine der kostbarsten meiner Sammlung ist.[110]

Ich bin also entschlossen, ihm vor Anbruch des Morgens einen Besuch abzustatten. Aus übergroßer Klugheit denk' ich zu warten, bis der Zug die Station Tchardjui passirt hat, wo er um zwei Uhr siebenundzwanzig Morgens ankommen muß. Hier ist dann ein viertelstündiger Aufenthalt, ehe es nach dem Amu-Darja weiter geht. Popof wird sich dann sicherlich nach seinem Coupé begeben, und ich kann, ohne Furcht bemerkt zu werden, in den Packwagen schlüpfen.

Wie lang erscheinen mir doch die Stunden! Manchmal war ich nahe daran einzuschlafen. Deshalb bin ich zwei- bis dreimal nach der Plattform gegangen, um mich durch die Zugluft zu erfrischen.

Zur vorgeschriebenen Minute rollt der Zug in den Bahnhof von Tchardjui, an der tausendundfünften Werst, ein. Das ist eine wichtige Stadt des Khanats der Bukharei, die die Transcaspische Bahn gegen Ende November 1886, siebzehn Monate nach Legung der ersten Querschwelle, erreichte. Wir sind nur noch zwölf Werst vom Amu-Darja, und jenseits des Stromes will ich mein Vorhaben ausführen.

Ich sagte, daß der Aufenthalt in Tchardjui eine Viertelstunde währte. Einige Reisende steigen aus, denn sie wollen nach dieser Stadt, deren Bevölkerung sich auf dreißigtausend Seelen beläuft. Andere steigen ein, um sich nach Bukhara und Samarkand zu begeben, doch ausschließlich in Wagen zweiter Classe. Es herrscht auf dem Perron demnach eine ziemliche Bewegung.

Ich bin ebenfalls ausgestiegen und gehe neben dem vorderen Packwagen einher, als dessen Thür sich öffnet und geräuschlos wieder schließt. Ein Mann schleicht auf die Plattform und eilt nach dem, kaum von einigen Petroleumlampen erhellten Bahnhofsgebäude.

Das ist mein Rumäne ... das kann nur er sein .... Gesehen worden ist er nicht und nun bereits im Gewühle der Passagiere verschwunden .... Warum diese Flucht? Will er seinen Mundvorrath erneuern? Oder sollte seine Absicht nicht vielmehr die sein, wie ich befürchte, unserer Gesellschaft den Rücken zu kehren?

Nun, ich werde ihn schon daran zu hindern wissen .... Ich gebe mich ihm zu erkennen ... verspreche ihm Hilfe und Unterstützung ... ich werde ihn französisch, englisch, deutsch oder russisch – ganz nach seiner Wahl anreden .... »Ich verrathe Sie nicht, werd' ich zu ihm sagen ... Lebensmittel stecke ich Ihnen in der Nacht zu ... Herzstärkungen werd' ich Ihnen auch noch verschaffen![111]

Vergessen Sie nicht, daß Fräulein Zinca Klork, offenbar die allerhübscheste Rumänin, Sie in Peking erwartet.« ... u.s.w.

So folge ich ihm denn unauffällig. Bei dem vielen Hin- und Hergehen läuft er nicht viel Gefahr, bemerkt zu werden. Weder Popof noch sonst einer der Beamten konnten in ihm Einen vermuthen, der die Gesellschaft hintergangen hat. Wenn er sich nach der Ausgangsthür wendete ... mir entwischte? ...

Nein, er hat sich nur einmal die Beine auslaufen wollen; mehr, als er es vielleicht in der Nacht im Packwagen thun kann. Nach seiner Einkerkerung, die schon seit der Abfahrt von Baku dauert ... das heißt, seit sechzig Stunden ... hat er wohl ein Anrecht auf zwei Minuten Freiheit.

Es ist ein Mann von mittlerer Größe, gewandten Bewegungen, aber, wenigstens hier, schleichendem Gang. Er krümmt sich zusammen, macht mit dem Rücken einen Bogen wie eine Katze und wird in seinem Kasten wohl nicht aufrecht sitzen können. Als Kleidung hat er eine bräunliche Jacke, im Gürtel festgehaltene Beinkleider und trägt dazu eine Pelzmütze, alles von dunkler Farbe.

Ich habe mich über seine Absichten beruhigt. Er kehrt nach dem Packwagen zurück, erklimmt den Auftritt nach der Plattform, er schlüpft in den Wagen, und ganz sanft schließt sich hinter ihm wieder dessen Thür. Wenn der Zug im Gange ist, werde ich an die Wand seines Kastens klopfen, und diesmal ... ein neuer Zwischenfall: statt eine Viertelstunde zu dauern, dehnt sich der Aufenthalt in Tchardjui auf drei Stunden aus, weil eine kleine Beschädigung an der Bremse der Locomotive ausgebessert werden muß. Trotz der Einsprache des deutschen Barons verlassen wir den Bahnhof also doch erst um einhalb vier Uhr, wo es schon zu dämmern beginnt.

Dafür, daß ich nun meinen Besuch aufgeben mußte, bekam ich wenigstens den Amu-Darja zu sehen. Der Amu-Darja, d.i. der Oxus der Alten, ist der Rivale des Indus und des Ganges. Früher in einem noch auf Landkarten zu findenden Bette dem Caspisee zuströmend, bildet er jetzt einen Zufluß des Aralsees. Von der Schneeschmelze und dem Regen des Pamir-Gebiets ernährt, schiebt er seine Wassermassen langsam zwischen thonigen und sandigen Ufern dahin. Er ist das »Strom-Meer« in turkmenischer Sprache und sein Lauf erstreckt sich über zweitausendfünfhundert Kilometer.

Der Zug fährt auf einer den Amu-Darja überspannenden, fast fünf Kilometer langen Brücke, etwa elf Meter über der Wasserfläche hin.


Der Zug fährt auf einer den Amu-Darja überspannenden Brücke. (S. 112.)
Der Zug fährt auf einer den Amu-Darja überspannenden Brücke. (S. 112.)

Unter seinem[112] Drucke erzittert die ganze Brückenbahn auf ihren tausenden von Pfeilern, die zu je fünf die neun Meter langen Querträger stützen.

Der General Annenkof hat binnen zehn Monaten und mit einem Aaswand von nur fünfunddreißigtausend Rubeln diese Brücke hergestellt, die größte aller, die die Transasiatische Bahn überschreitet.

Der Strom führt ein gelbliches Wasser. Bis über Sehweite hinaus tauchen da und dort kleine Inseln darin auf.

Popof zeigt mir die Wachtposten, die an der Brustwehr errichtet sind.[113]

»Wozu sind denn diese Häuschen?

– Zur Unterbringung der Leute, denen ausschließlich die Aufgabe zufällt, im Fall einer Entzündung der Holzbrücke Lärm zu schlagen, und die deshalb auch mit Löschapparaten versehen sind.«

Das ist ja eine weise Vorsicht; denn nicht die Funken und Abfälle der Maschinen allein haben da und dort schon einen kleinen Brand angerichtet, sondern es sind hier auch noch andere Möglichkeiten in Rechnung zu ziehen. Auf dem Amu-Darja verkehren stromauf- und stromabwärts viele Flußschiffe mit Petroleum, und es kommt nicht so selten vor, daß diese sich in flammende Brander verwandeln. Eine fortwährende Ueberwachung ist hier also gewiß angezeigt, denn wenn die Brücke zerstört würde, verginge mehr als ein Jahr, ehe sie wieder fahrbar sein könnte, und das Uebersetzen der Reisenden über den großen Strom wäre mit den größten Schwierigkeiten verknüpft.

Endlich hat der Zug die lange Brücke mit verminderter Schnelligkeit überschritten. Bis zur zweiten Station Karakul dehnt sich nun wieder die Wüste aus.

Weiterhin erblickt man die Windungen eines Zuflusses des Amu-Darja, des Zaraschaue, »des Flusses, der Gold führt« und dessen Lauf sich bis zum Thale von Sogd in der fruchtbaren Oase mit der glänzenden Stadt Samarkand fortsetzt.

Um fünf Uhr Morgens macht der Zug in der Hauptstadt des Khanats der Bukharei Halt und ist damit eintausendeinhundertundsieben Werst von Uzun-Ada entfernt.

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 104-114.
Lizenz:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon