Zweites Capitel.
Oberst Munro.

[18] »Aber, lieber Maucler, begann der Ingenieur Banks zu mir, Sie sprechen von Ihrer Reise auch kein Sterbenswörtchen. Man sollte glauben, Sie hätten Paris noch gar nicht verlassen. Wie finden Sie Indien?

– Indien? erwiderte ich, ja, um davon sprechen zu können, müßte ich das Land doch wenigstens gesehen haben.

– Sehr schön! versetzte der Ingenieur. Sind Sie nicht von Bombay nach Calcutta durch die ganze Halbinsel gekommen? Nun, und wenn Sie nicht blind waren...

– Das bin ich nicht, lieber Banks, wohl aber war ich während jener Fahrt geblendet...

– Geblendet?...

– Gewiß! Geblendet durch den Rauch, den Dampf, den Staub, noch mehr aber durch die Schnelligkeit der Fortbewegung. Ich will die Eisenbahnen nicht lästern, es ist ja Ihr Beruf, solche zu bauen, mein bester Banks; aber sich in das Coupé eines Waggons einzupferchen, als Gesichtsfeld nichts als die Scheiben der Wagenthür zu haben, Tag und Nacht mit einer mittleren Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde dahin zu jagen, jetzt über hohe Viaducte in Gesellschaft von Adlern und Lämmergeiern, nachher durch Tunnels in Gesellschaft von Ratten und Fledermäusen, nur an den Bahnhöfen anzuhalten, die einer so aussehen wie der andere, von Städten weiter nichts zu sehen als die[18] Außenseite der Mauern und die oberste Spitze der Minarets, und das Alles unter dem unaufhörlichen Lärmen des Pustens der Locomotive, unter dem Pfeifen des Kessels, dem Aechzen der Schienen und dem Knarren der Bremsen – nennen Sie das etwa reisen?

– Sehr richtig! rief der Kapitän Hod. Nun antworten Sie darauf, Banks, wenn Sie es können. Was meinen Sie dazu, Herr Oberst?«

Der Oberst, an den Kapitän Hod seine Worte richtete, neigte den Kopf ein wenig und sagte nur:

»Ich wäre begierig, zu hören, was Banks unserem Gaste, Herrn Maucler, für eine Antwort geben kann.

– O, das setzt mich keineswegs in Verlegenheit, meinte der Ingenieur, ich gebe ja zu, daß Maucler vollkommen Recht hat.

– Nun, fiel Kapitän Hod ein, wenn dem so ist, warum erbauen Sie Eisenbahnen?

– Um es Ihnen, Kapitän, zu ermöglichen, binnen sechzig Stunden von Calcutta nach Bombay gelangen zu können, wenn Sie Eile haben.

– Ich habe niemals Eile.

– Schön, dann wählen Sie die Great Trunk-Straße, antwortete der Ingenieur. Wählen Sie diese, Hod, und reisen Sie zu Fuß!

– Das beabsichtige ich auch zu thun.

– Wann?

– Sobald der Herr Oberst zustimmt, mich bei einem herrlichen Spaziergange von acht- bis neunhundert Meilen quer durch die Halbinsel zu begleiten!«

Der Oberst lächelte still und verfiel in seine gewohnte lange Träumerei, aus der ihn selbst seine besten Freunde, wie der Ingenieur Banks und Kapitän Hod, nur mit Mühe zu erwecken vermochten.

Seit einem Monate war ich in Indien angelangt, hatte aber, da ich von Bombay über Allahabad nach Calcutta die Great Indian Peninsular-Bahnlinie benutzte, von der Halbinsel so gut wie nichts kennen gelernt.

Meine Absicht ging jedoch dahin, zunächst deren nördlichen Theil, jenseit des Ganges, zu durchstreifen, die großen Städte daselbst zu besuchen, die hervorragendsten Denkmäler zu studieren und dieser Untersuchung die erforderliche Zeit zu widmen, um sie gründlich durchzuführen.

Den Ingenieur Banks hatte ich in Paris kennen gelernt. Seit einigen Jahren schon verband uns eine innige Freundschaft, welche der nähere vertraute[19] Umgang nur steigern konnte. Ich versprach ihm seinerzeit nach Indien zu kommen, sobald die Vollendung der Scind Punjab and Delhi-Linie, deren Bau er leitete, ihm einige Muße gönnen würde. Das war nun jetzt der Fall. Banks hatte gerechten Anspruch auf eine mehrmonatliche Erholung, und ich kam nun mit dem Vorschlage, diese Ruhe auf einer anstrengenden Reise durch Indien zu genießen. Es versteht sich von selbst, daß er auf meinen Wunsch mit voller Begeisterung einging. In einigen Wochen schon, wenn die günstigere Jahreszeit eintrat, wollten wir aufbrechen.

Bei meiner Ankunft in Calcutta, im März 1867, hatte Banks mich mit einem seiner ehrenwerthen Kameraden, dem Kapitän Hod, bekannt gemacht, und später mich auch seinem Freunde, dem Oberst Munro vorgestellt, bei dem wir eben die Abendstunden verbracht hatten.

Der damals siebenundvierzigjährige Oberst bewohnte im europäischen Stadtviertel ein etwas vereinsamt liegendes Haus, fern dem Getümmel, das die Handelsstadt und die schwarze Stadt, die beiden Bestandtheile der Hauptstadt Indiens, kennzeichnet. Jenes Quartier wird zuweilen die »Stadt der Paläste« genannt, und wirklich fehlt es demselben an letzteren nicht, wenn man diese Bezeichnung auf Wohnungen anwenden darf, die von Palästen freilich nichts weiter als Hallen, Säulen und Terrassen haben. Calcutta ist der Sammelpunkt aller Baustyle, welche der englische Geschmack in den Städten der Alten und Neuen Welt mit Vorliebe verwendet.

Was die Wohnstätte des Obersten betrifft, so war diese ein sogenannter »Bungalow« in einfachster Form, das heißt ein auf einem Ziegelunterbau errichtetes Haus nur mit Erdgeschoß, dessen Dach pyramidenartig hoch aufstieg. Rings um dasselbe lief eine von leichten Säulen getragene Veranda. An den Seiten bildeten die Küchen, Schuppen und Dienerwohnungen zwei ausspringende Flügel. Das Ganze lag inmitten eines mit schönen Bäumen bestandenen und von niedrigen Mauern umgebenen Gartens.

Das Haus des Obersten verrieth die Wohlhabenheit des Besitzers. Das Dienstpersonal war so zahlreich, wie es die Lebensweise der indo-englischen Familien mit sich bringt. Mobiliar, Stoffe, innere Einrichtung, Alles zeigte in der Auswahl und dem wohl erhaltenen Zustande, daß hier zuerst die Hand einer verständigen Hausfrau gewaltet, aber daneben auch, daß diese Frau hier nicht mehr weilen könne. Bezüglich der Aufsicht der Dienstleute und der allgemeinen Führung des Hauswesens verließ sich der Oberst vollständig auf[20] einen seiner alten Waffengenossen, einen Schotten, früheren »Conductor« der königlichen Armee, den Sergeanten Mac Neil, mit dem er alle Feldzüge in Indien durchgefochten hatte, eines jener braven Herzen, die in der Brust Derjenigen zu schlagen scheinen, denen sie sich einmal ergeben haben. Es war das ein großer, starker Mann von fünfundvierzig Jahren, mit Vollbart wie alle Bergschotten. Seiner Haltung, dem Gesichtsausdrucke, sowie dem althergebrachten Costüm nach war er mit Leib und Seele Highlander geblieben, obwohl er den Militärdienst gleichzeitig mit Oberst Munro quittirte. Beide hatten seit 1860 ihren Abschied genommen. Statt aber zu den »Glens« der Heimat, in die Mitte der alten »Clans« ihrer Vorfahren zurückzukehren, waren Beide in Indien geblieben und lebten in einer Art Zurückgezogenheit und Einsamkeit, welche eine breitere Erklärung erfordern.

Als Banks mich dem Oberst Munro vorstellte, empfahl er mir nur eines:

»Erwähnen Sie mit keiner Silbe des Sipahi-Aufstandes, sagte er, und vorzüglich sprechen Sie niemals den Namen Nana Sahib aus!«

Der Oberst Edward Munro gehörte einer alten schottischen Familie an, deren Vorfahren sich in der Geschichte des Vereinigten Königreiches einen Namen gemacht hatten. Zu seinen Ahnen zählte er jenen Sir Hector Munro, der im Jahre 1760 die Armee von Bengalen befehligte und eine Empörung niederwarf, welche die Sipahis, fast genau ein Jahrhundert später, wieder erneuern sollten. Major Munro erstickte den Aufstand mit unerbittlicher Energie und scheute nicht davor zurück, an einem Tage achtundzwanzig Rebellen vor die Mündung von Kanonen binden und in Stücke schießen zu lassen – eine entsetzliche Hinrichtungsart, welche 1857 wiederholt zur Anwendung kam und deren Erfinder vielleicht der Ahnherr des Obersten war.

Zur Zeit, als die Sipahis sich erhoben, befehligte Oberst Munro das 93. Regiment schottischer Infanterie der königlichen Armee. Er wohnte fast dem ganzen Feldzuge unter dem Oberbefehle Sir James Outram's bei, jenes Helden dieses Krieges, der sich den Namen des »Bayard der indischen Armee« verdiente, wie Sir Charles Napier ihn bezeichnete. Mit diesem befand sich Oberst Munro also in Khanpur; er nahm Theil an dem zweiten Feldzuge Colin Campbell's in Indien, wohnte der Belagerung von Laknau bei und verließ diesen berühmten Soldaten erst, als Outram zum Mitgliede des Rathes von Indien in Calcutta ernannt worden war. Im Jahre 1858 sehen wir den Oberst Sir Edward Munro als Commandeur des Sternes von Indien, »the Star of India (K.C.S.J.)«.[21]

Er war zum Baronet erhoben worden und seine Gattin hätte damit den Titel Lady Munro1 erhalten, wenn die Unglückliche nicht am 15. Juli 1857 bei dem schauerlichen Gemetzel in Khanpur – eine Blutthat, die sich unter den Augen und auf Befehl Nana Sahib's vollzog – umgekommen wäre.

Lady Munro – des Obersten Freunde nannten sie niemals anders – wurde von ihrem Gatten angebetet. Sie zählte kaum siebenundzwanzig Jahre, als sie, gleichzeitig mit zweihundert anderen Opfern, bei jener abscheulichen Schlächterei spurlos verschwand. Die nach der Einnahme von Laknau wie durch ein Wunder geretteten Mistreß Orr und Miß Jackson hatten die Eine ihren Gatten, die Andere ihren Vater überlebt. Lady Munro sollte dem Oberst Munro nicht zurückgegeben werden. Es war sogar unmöglich, ihre, mit denen der zahlreichen Opfer in dem Schachte von Khanpur vermengten Ueberreste wieder aufzufinden und ihr ein christliches Begräbniß zu bereiten.

In seiner Verzweiflung erfüllte Sir Edward Munro nur noch ein Gedanke, der einzige, Nana Sahib, den die englische Regierung allerwärts suchen ließ, aufzufinden und den ihn verzehrenden, gerechten Durst nach Rache zu löschen. Um in dieser Richtung minder beschränkt zu sein, hatte er den Abschied genommen. Der Sergeant Mac Neil folgte ihm auf Schritt und Tritt. Von demselben Geiste beseelt, von demselben Gedanken getrieben und ein und dasselbe Ziel im Auge, verfolgten die beiden Männer jede Spur und forschten der geringsten Andeutung weiter nach, waren dabei aber nicht glücklicher als die englischindische Polizei. Nana Sahib entging allen ihren Nachforschungen. Nach drei Jahren fruchtlosen Bemühens mußten sich der Oberst und der Sergeant entschließen, vorläufig von weiteren Schritten abzusehen. Uebrigens verbreitete sich zu eben jener Zeit in Indien das Gerücht von Nana Sahib's Tode, und zwar diesmal mit einem solchen Grade von Glaubwürdigkeit, daß man es nicht wohl länger bezweifeln durfte.

Sir Edward Munro und Mac Neil kehrten also nach Calcutta zurück, wo sie sich in dem isolirten Bungalow festsetzten. Hier lasen sie weder Bücher noch Journale, welche an die blutige Zeit des Aufruhrs hätten erinnern können,[22] und verließen niemals die Wohnung, in der der Oberst gleich einem Manne mit einem ziel- und zwecklosen Leben dahin vegetirte.

Die Nachricht von dem Wiedererscheinen Nana's in der Präsidentschaft Bombay – eine Neuigkeit, welche schon mehrere Tage von Mund zu Mund ging – schien nicht zur Kenntniß des Obersten gekommen zu sein. Und das war ein Glück zu nennen, denn er hätte den Bungalow sofort verlassen.

Hierin bestanden etwa Bank's Mittheilungen, bevor er mich in jenes Haus einführte, aus dem die Freude für immer verbannt war. Ebendeshalb sollte jede Andeutung an die Empörung der Sipahis und deren grausamsten Anführer Nana Sahib vermieden werden.

Nur zwei Freunde – zwei allseitig erprobte Freunde – besuchten fleißig das Haus des Obersten, der Ingenieur Banks und der Kapitän Hod.

Banks hatte, wie erwähnt, eben die ihm bei der Erbauung der Great Indian Peninsular-Eisenbahn übertragenen Arbeiten vollendet. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, in der ganzen Kraft seines Alters. Zwar sollte er nun auch an der, zur Verbindung des arabischen Golfs mit der Bai von Bengalen zu errichtenden Madras-Bahn thätigen Antheil nehmen, doch konnten diese Arbeiten vor Ablauf eines Jahres schwerlich beginnen. Er genoß diese Muße also in Calcutta, immer beschäftigt mit mechanischen Problemen, denn in ihm wohnte ein rastloser, fruchtbarer Geist, der stets mit irgend einer neuen Erfindung schwanger ging. Außer dieser Thätigkeit widmete er jede Stunde dem Obersten, mit dem ihn eine zwanzigjährige Freundschaft verband. Fast jeden Abend verbrachte er unter der Veranda des Bungalow in Gesellschaft Sir Edward Munro's und des Kapitän Hod, der eben einen zehnmonatlichen Urlaub erhalten hatte.

Hod stand bei der 1. Escadron der Karabiniers der königlichen Armee und hatte den ganzen Feldzug 1857-58 mitgemacht, erst unter Sir Colin Campbell in Audh und Rohilkhande, dann unter Sir H. Rose in den Centralstaaten – ein Kampf, der mit der Einnahme von Gwalior endigte.

Der in der rauhen Schule Indiens erzogene Kapitän Hod, eines der hervorragendsten Mitglieder des Clubs von Madras, rothblond von Bart und Haar, zählte nicht mehr als dreißig Jahre. Obwohl er der königlichen Armee zugehörte, hätte man ihn wohl für einen Officier der eingebornen Truppen halten können. Ihm erschien Indien als das Reich von Gottes Gnaden, das gelobte Land, das einzige, in dem ein Mann leben könnte und sollte. Hier[23] konnte er alle seine Neigungen befriedigen. Soldat von Temperament, bot sich ihm unausgesetzt Gelegenheit, sich zu schlagen. Verweilte er als ausgedienter Jäger nicht in dem Lande, wo die Natur alles Raubgethier der Schöpfung neben allem Pelz- und Federwild der Neuen und Alten Welt vereinigt zu haben schien? Hatte er als leidenschaftlicher Bergsteiger nicht die imposante Kette von Thibet zur Hand, in der die höchsten Gipfel der Erde emporstreben? Was hinderte ihn als unerschrockenen Reisenden den Fuß dahin zu setzen, wohin vor ihm noch Niemand gedrungen war, in jenen unnahbaren Regionen der Himalaya-Grenze? Fehlten ihm als enthusiasmirten Turfisten die Rennbahnen Indiens, die in seinen Augen denen von Marche und Epsom gleichkamen? In letzterer Beziehung gingen seine und Banks' Ansichten allerdings weit auseinander. Als Vollblut-Mechaniker interessirte sich der Ingenieur nur sehr wenig für die Pferde-Heldenthaten eines »Gladiator« oder einer »Tochter der Luft«.

Eines Tages, als ihm Kapitän Hod deshalb besonders zusetzte, erwiderte Banks, daß die Wettrennen eigentlich nur unter einer Bedingung ein höheres Interesse erwecken könnten.

»Und diese wäre? fragte Hod.

– Die Aufstellung der Bedingung, erklärte Banks ganz ernsthaft, daß der zuletzt ankommende Jockey am Pfosten sofort füsilirt würde!

– Das nenne ich eine Idee!...« antwortete einfach Hod.

Er wäre auch der Mann dazu gewesen, persönlich auf das Wagstück einzugehen.

Solcher Art waren die beiden fleißigen Gäste in Sir Edward Munro's Bungalow. Der Oberst hörte sie gern über allerlei plaudern, und ihre zäh fortgesetzten Reden und Gegenreden lockten manchmal sogar ein Lächeln auf seine Lippen.

Die beiden wackeren Leute begegneten sich jedoch in dem einen Wunsche, den Oberst zu einer Reise zu bestimmen, die ihm einige Zerstreuung bieten könnte. Schon wiederholt hatten sie den Vorschlag gemacht, nach dem Norden der Halbinsel zu gehen, um mehrere Monate in der Nähe jener. »Sanitarien« zuzubringen, in welche sich die reiche anglo-indische Gesellschaft während der heißen Jahreszeit freiwillig flüchtet. Der Oberst war nie darauf eingegangen.

Auch bezüglich der von mir und Banks geplanten Reise hatten wir seine Meinung zu erforschen gesucht. Eben an jenem Abend kam das Gespräch wieder auf dieselbe. Der Leser weiß bereits, daß Kapitän Hod von nichts Geringerem


Mac Neil. (S. 30.)
Mac Neil. (S. 30.)

sprach als von einer weitläufigen Fußtour nach dem Norden Indiens. Wenn Banks die Pferde nicht liebte, so war Hod ein Feind der Eisenbahnen. Beide befanden sich also in Widerspruch.

Ein Mittelweg hätte sich damit finden lassen, daß man, wie und wann es eben beliebte, im Wagen oder Palankin reiste, was auf den schönen und wohlerhalte[24] nen Hauptstraßen von Hindostan ohne Schwierigkeit auszuführen ist.

»Reden Sie mir nicht von ihren Geschirren mit Ochsen oder bucklichen Zebus! rief Banks. Ohne uns wären Sie noch heute auf diese primitiven Fuhrwerke[25] beschränkt, von denen man in Europa schon seit fünfhundert Jahren nichts mehr wissen mochte.

– Oho, Banks, erwiderte Kapitän Hod, mit Ihren Waggons und ihren Cramptons können sie sich wohl messen! Solche große Büffel, welche im tüchtigen Galopp gehen und die man an jeder Poststation von zwei zu zwei Stunden wechselt...

– Und die so eine Art vierrädriger Tartanen ziehen, in denen man mehr umhergeworfen wird, als die Fischer in ihren Booten auf bewegtem Wasser!

– Ich sprach nicht von Tartanen, Banks, antwortete Kapitän Hod. Giebt es denn keine Wagen mit zwei, drei oder vier Pferden, die an Schnelligkeit mit Euern. »Convois«, welche diesen traurigen Namen mit Recht führen,2 wetteifern. Ich würde den einfachen Palankin vorziehen...

– Nun gar Ihre Palankins, Kapitän Hod, wahrhafte Särge von sechs Fuß Länge und vier Fuß Breite, in denen man wie ein Leichnam eingebettet liegt!

– Zugegeben, Banks, aber da giebt es kein Schütteln und kein Stoßen; man kann nach Belieben lesen, schreiben, schlafen, ohne an jeder Station aufgeweckt zu werden. In einem Palankin mit vier bis sechs bengalischen Gamals (Name der Palankinträger in Indien) legt man bequem vier und eine halbe Meile (gegen acht Kilometer) zurück, ohne, wie bei Ihren unbarmherzigen Expreßzügen, Gefahr zu laufen, daß man fast eher am Ziel anlangt, als man abgefahren ist.

– Das Beste, warf ich da ein, wäre doch, gleich sein Haus mitführen zu können!

– Als Schnecke! rief Banks.

– Lieber Freund, antwortete ich, eine Schnecke, die ihr Haus nach Belieben verlassen und auch wieder in dasselbe eintreten könnte, wäre wohl nicht allzu schwer zu beklagen. In seinem Hause zu reisen, das nach Wunsch da oder dorthin rollt, das wäre ja die höchste Potenz des Fortschritts im Reisen!

– Vielleicht, sagte da Oberst Munro; von der Stelle zu kommen, während man immer in seinen vier Pfählen weilt, seine ganze Umgebung und alle Erinnerungen, die daran hängen, mit sich zu nehmen, den Horizont, den Gesichtspunkt, Atmosphäre und Klima mit anderen zu vertauschen, ohne seine gewohnte Lebensweise zu ändern... ja, ja,... vielleicht![26]

– Da umgeht man die für Reisende bestimmten Bungalows, fuhr Kapitän Hod fort, in denen der Comfort immer zu wünschen übrig läßt, und worin man nur mit Erlaubniß der Ortsbehörden verweilen darf!

– Ebenso wie die abscheulichen Gasthäuser, in denen Einem moralisch und physisch das Fell über die Ohren gezogen wird! bemerkte ich dazu nicht ohne Grund.

– Der Wagen der Quacksalber und Marktschreier! rief Kapitän Hod, aber in modernisirter Façon! Welch' schöner Traum! Anzuhalten, wenn man will, abzufahren, wenn es beliebt, zu Fuß neben her zu gehen, wenn man spazieren will, im Galopp zu fahren, wenn es darauf ankommt, nicht nur ein Schlafzimmer mitzunehmen, sondern auch den Salon, das Speise- und Rauchzimmer und vor Allem Küche und Koch dazu, das wäre ein Fortschritt, Freund Banks! Versuchen Sie, das zu widerlegen, Herr Ingenieur, versuchen Sie es!

– Ei, ei, Freund Hod, antwortete Banks, ich wäre ja vollkommen Ihrer Ansicht, wenn...

– Wenn?... wiederholte der Kapitän achselzuckend.

– Wenn Sie in Ihrem Fortschritts-Schnelllauf nur nicht urplötzlich angehalten hätten.

– Es giebt also noch Besseres?

– Nun, hören Sie. Sie erklären das bewegliche Haus für überlegen dem Waggon, dem Salonwagen, sogar den Sleping-cars der Eisenbahn. Sie haben recht, lieber Kapitän, wenn man Zeit zu verlieren hat, wenn man zum Vergnügen und nicht in Geschäften reist. Ich glaube, hierin stimmen wir Alle überein?

– Alle!« bestätigte man.

Der Oberst Munro nickte mit dem Kopfe als Zeichen seiner Zustimmung.

»Das ist also abgemacht, fuhr Banks fort. Nun weiter. Angenommen, Sie hätten sich an ein Doppelwesen, einen Wagenbauer-Architekten, gewendet und er erbauete Ihnen das gewünschte rollende Haus. Da steht es nun im besten Chic, allen Anforderungen eines Freundes des Comforts entsprechend. Es ist nicht allzu hoch, wodurch ihm das Umfallen erspart bleibt, nicht zu breit, um auf jedem Wege fort zu können, und sinnreich auf Federn befestigt, um leicht und bequem darin zu fahren. Mit einem Worte, es ist vollkommen. Ich nehme an, es wäre für unseren Freund, den Obersten, hergestellt worden. Er ladet uns Alle ein. Wir wollen meinetwegen die nördlichen Theile Indiens besuchen,[27] als Schnecken, aber als solche Schnecken, deren Schwanz nicht untrennbar mit dem Gehäuse verwachsen ist. Alles ist bereit. Man hat nichts vergessen... nicht einmal den Koch und die Küche, die dem Kapitän so sehr am Herzen liegen. Der Tag der Abreise ist gekommen; man schickt sich dazu an. All right!... Ja, wer wird es aber ziehen, Euer rollendes Haus, mein bester Freund?

– Wer? rief Kapitän Hod. Nun, Maulesel, Esel, Pferde, Büffel!

– Gleich zu Dutzenden? fragte Banks.

– Elephanten! versetzte Kapitän Hod, Elephanten! Das wäre herrlich und majestätisch! Ein Haus gezogen von einem Elephantengespann, von wohldressirten, stolzen Thieren, welche davongehen und galoppiren trotz der besten Kutschpferde der Welt!

– Das wäre großartig, Herr Kapitän.

– Ein Rajah-Zug auf dem Lande, Herr Ingenieur.

– Gewiß! Aber...

– Aber... was? Giebt es noch ein Aber? fiel ihm Kapitän Hod in's Wort.

– Ein großes Aber!

– O, über diese Ingenieurs! Sie taugen zu nichts, als überall Schwierigkeiten zu wittern!...

– Und sie zu beseitigen, wenn das überhaupt möglich ist, erwiderte Banks.

– So schaffen Sie sie beiseite!

– Das werde ich, und zwar folgendermaßen. Alle jene bewegenden Kräfte, lieber Munro, welche der Kapitän da aufgezählt hat, sie gehen wohl, sie schleppen, sie ziehen, aber – sie ermüden auch. Sie werden widerspenstig, eigenwillig, vorzüglich aber brauchen alle – Futter. Sobald nun Mangel an Weiden eintritt, da man doch nicht wohl fünfhundert Acres Wiesen mitnehmen kann, so steht das Gespann still, verliert die Kräfte, stürzt, stirbt vor Hunger, das rollende Haus bewegt sich nicht weiter und bleibt ebenso auf demselben Flecke, wie der Bungalow, in dem wir jetzt darüber sprechen. Daraus folgt, daß besagtes Haus nicht eher praktisch brauchbar werden wird, als bis es in der Gestalt eines Dampfhauses auftritt.

– Das natürlich auf Schienen läuft! rief der Kapitän achselzuckend.

– Nein, auf allen Wegen, entgegnete der Ingenieur, indem es von einer verbesserten Straßenlocomotive gezogen wird.[28]

– Bravo! jubelte der Kapitän, bravo! Von der Stunde an, wo Ihr Dampfhaus nicht mehr auf einem Schienenwege rollt und gehen kann, wohin es will, ohne jenem gebieterischen Eisenstrang folgen zu müssen, bin ich gern dabei!

– Aber, warf ich Banks noch ein, wenn Maulesel, Esel, Pferde, Büffel und Elephanten fressen, so braucht eine Maschine auch Nahrung, denn wenn es ihr an Brennmaterial fehlt, wird sie ebenso unterwegs stehen bleiben.

– Ein Dampfroß, antwortete Banks, entwickelt die Kräfte von drei bis vier gewöhnlichen Pferden, und diese Leistung kann im Nothfall auch noch gesteigert werden. Das Dampfroß unterliegt keiner Ermüdung, keiner Krankheit. Jederzeit, unter jeder Breite, jeder Sonne, unter Regen und Schnee geht es ohne Erschöpfung weiter. Es braucht nicht einmal die Angriffe wilder Thiere zu fürchten, nicht den Biß der Schlangen, nicht den Stich der Bremsen oder anderer lästiger Insecten. Es bedarf nicht des Stachels des Büffeltreibers, nicht der Peitsche der Wagenführer. Ihm ist auszuruhen unnöthig, der Schlaf unbekannt. Das aus der Hand des Menschen hervorgegangene Dampfroß ist, wenn man nur dessen Zweck im Auge behält und nicht auch von ihm erwartet, daß es einmal am Spieße gebraten werden könne, allen Zugthieren überlegen, welche die Vorsehung den Menschen gegeben hat. Etwas Oel oder Fett, ein wenig Kohle oder Holz, das ist Alles, was es verzehrt. Sie wissen aber, meine Freunde, daß auf der indischen Halbinsel an Wäldern kein Mangel ist und das Holz Jedem gehört, der es nimmt.

– Sehr schön, rief Kapitän Hod. Ein Hurrah dem Dampfrosse! Ich sehe schon des Ingenieur Banks' rollendes Haus auf den Landstraßen Indiens dahingezogen, wie es durch die Dschungeln dringt, schnaubend tief in die Wälder zieht, sich vorwagt bis zu der Höhle des Löwen, des Panthers, Tigers, des Bären, Leoparden und des Guepards; unter dem Schutze seiner Mauern erlegen wir Hekatomben von Raubthieren und stechen die Anderson, Gérard, Pertuiset, Chassaing und alle Nimrods der Welt aus! O, Banks, mir läuft das Wasser im Munde zusammen, Sie lassen es mich bedauern, nicht fünfzig Jahre später geboren zu sein!

– Und weshalb, Herr Kapitän?

– Weil Ihr Traum in fünfzig Jahren in Erfüllung gehen und das Dampfhaus gebaut sein wird.

– Das ist schon so gut wie geschehen, antwortete einfach der Ingenieur.

– Geschehen und vielleicht durch Sie?[29]

– Durch mich, und ich fürchte dabei nur das Eine, daß es Ihren Traum noch übertreffen dürfte...

– An's Werk, Banks, an's Werk!« rief Kapitän Hod, der wie von einem elektrischen Schlage getroffen aufsprang und zur Abreise schon bereit schien.

Der Ingenieur beruhigte ihn durch eine Handbewegung, dann wendete er sich mit ernster Stimme an Sir Edward Munro.

»Edward, sagte er, wenn ich Dir ein rollendes Haus zur Verfügung stelle, wenn ich nach einem Monat bei Eintritt der besseren Jahreszeit komme und zu Dir sage: Hier ist Dein Zimmer, das sich fortbewegt und geht, wohin Du willst, hier Deine Freunde, Maucler, Kapitän Hod und ich, welche lebhaft wünschen, Dich auf einem Ausfluge nach dem Norden Indiens zu begleiten, wirst Du mir dann antworten: »Brechen wir auf, Banks, brechen wir auf, und möge der Gott der Reisenden uns behüten?«

– Ja, meine Freunde, antwortete Oberst Munro nach kurzer Ueberlegung. Banks, ich stelle Dir die nöthigen Mittel zur Verfügung. Halte Dein Versprechen! Bring' uns das ideale Dampfhaus, das Hod's Träume noch übertrifft, und wir streifen durch ganz Indien!

– Hurrah! Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, und wehe dem Raubzeug an den Grenzen von Nepal!«

Da erschien, herbeigelockt durch die Hurrahs des Kapitäns, der Sergeant Mac Neil in der Thür.

»Mac Neil, redete der Oberst ihn an, wir reisen in einem Monat nach dem Norden von Indien ab. Du bist doch dabei?

– Selbstverständlich, Herr Oberst, da Sie ja dabei sind!« antwortete der Sergeant Mac Neil.

Fußnoten

1 Eine Frau ohne Titel, welche einen Baronet oder Ritter heirathet, erhält den Titel Lady vor dem Namen ihres Mannes. Diese Bezeichnung als Lady darf aber nicht dem Taufnamen vorgesetzt werden, was allein den Töchtern der Peers gestattet ist.


2 Ein unübersetzbares Wortspiel, da »convoi« im Französischen sowohl »Eisenbahnzug«, als auch »Trauergeleite« bezeichnet.


Quelle:
Jules Verne: Das Dampfhaus. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXV–XXXVI, Wien, Pest, Leipzig 1882, S. 31.
Lizenz:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon