Elftes Capitel.
Am 19. März.

[135] An der jetzt erreichten Stelle war der, halb zu Fuß, halb auf dem Flosse zurückgelegte Weg etwa auf eine Strecke von zweihundert Kilometern zu schätzen Bedurfte es noch ebenso vieler Mühsal, den Ubanghi zu erreichen? Der Ansicht des Forelopers nach nicht. Die zweite Hälfte der Reise sollte schneller überwunden werden, wenn nur kein Hinderniß die Fahrt auf dem Flusse unterbrach.[135]

Mit Tagesanbruch ging es wieder weiter; der neue Ankömmling, von dem sich Llanga nicht hatte trennen wollen, wurde mitgenommen. Der Knabe hatte ihn unter das Blätterdach getragen und wollte bei ihm bleiben, um ihn die Augen öffnen zu sehen.

Max Huber und John Cort zweifelten auch jetzt noch nicht daran, es mit einem Zugehörigen der Vierhänderfamilien, der Schimpansen, Gorillas, Mandrillassen, der Paviane und anderer zu thun zu haben. Sie hatten gar nicht daran gedacht, ihn näher zu besichtigen oder ihm sonst eine größere Aufmerksamkeit zu widmen. Das Geschöpfchen interessierte sie nicht weiter. Llanga hatte den Burschen gerettet und wünschte ihn zu behalten, wie man einen aus Mitleid aufgenommenen Hund behält... er sollte seinen Willen haben. Daß er ihn zu seinem Gefährten machte, zeugte ja für sein gutes Herz. Kurz, da die beiden Freunde den jungen Eingebornen adoptiert hatten, mußte auch diesem gestattet sein, einen kleinen Affen zu adoptieren. Fand dieser Gelegenheit, in den Wald zu entwischen, so würde er seinen Retter schon verlassen. verlassen mit der Undankbarkeit, worauf die Menschen ja nicht das alleinige Monopol haben.

Freilich, hätte Llanga gegen John Cort und Max Huber oder auch nur gegen Khamis geäußert: Er kann sprechen dieser Affe!... Er hat schon drei- oder viermal das Wort »Ngora« wiederholt, so wäre vielleicht deren Aufmerksamkeit, wenigstens deren Neugier erregt worden. Vielleicht hätten sie ihn sorgsamer betrachtet... das kleine Thier! Vielleicht hätten sie in ihm den Vertreter einer noch unbekannten Rasse, der der sprechenden Affen entdeckt!

Llanga schwieg aber noch, da er sich getäuscht, falsch gehört zu haben fürchtete. Er nahm sich nur noch ernster vor, seinen Schützling zu beobachten, und wenn ihm dann das Wort »Ngora« oder ein anderes über die Lippen käme, wollte er seinem Freund John und seinem Freund Max sofort davon Mittheilung machen.

Das war einer der Gründe, der ihn unter dem Schutzdache hielt, er bemühte sich aber auch, seinem durch langes Fasten aufs äußerste erschöpften Schützling etwas Nahrung beizubringen. Ihn zu ernähren, wenn es ein Affe war, mußte allerdings schwierig werden, da Affen nur Früchte verzehren, und von solchen hatte Llanga nichts zu bieten. Ein Stückchen Antilopenfleisch würde er jedenfalls verschmähen. Uebrigens hätte ein heftiges Fieber ihn jetzt überhaupt gehindert, etwas zu sich zu nehmen, denn er lag noch immer in tiefer Betäubung vor seinem Lebensretter.[136]

»Na, wie geht's denn Deinem Affen? fragte Max Huber Llanga, als dieser sich eine Stunde nach der Abfahrt einmal sehen ließ.

– Er schläft noch immer, Herr Max.

– Und Du willst ihn wirklich behalten?...

– Wenn Sie nichts dagegen haben... ja!

– Ich?... Ich habe nichts dagegen, Llanga. Hüte Dich nur, daß er Dich nicht kratzt!

– O... lieber Herr Max![137]

– Solchen Burschen soll man mißtrauen, sie sind heimtückisch wie die Katzen!

– Dieser nicht. Er ist noch so jung und hat ein so sanftes Gesicht.

– Na, wenn Du ihn denn zu Deinem Kameraden erheben willst, solltest Du doch auch einen Namen für ihn wählen.

– Einen Namen?... Welchen denn?

– Nun, sapperment: Jocko!... Alle Affen heißen ja Jocko!«

Wahrscheinlich paßte dem Knaben dieser Name nicht. Er gab keine weitere Antwort, sondern wendete sich wieder seinem Schützling zu.


Der Büffel schnüffelte eifrig die Luft durch die weiten Nasenlöcher ein. (S. 140.)
Der Büffel schnüffelte eifrig die Luft durch die weiten Nasenlöcher ein. (S. 140.)

Im Laufe dieses Vormittags ging die Fahrt recht angenehm vor sich und man hatte auch nicht von der Hitze zu leiden. Die Wolkenschichten waren so dick, daß sie kein Sonnenstrahl durchdringen konnte. Das war um so werthvoller, als der Rio Johausen zuweilen durch große Lichtungen hinfloß. Auch nahe am Ufer wäre kein Schutz zu finden gewesen, da an diesen nur vereinzelte Bäume standen. Der Erdboden wurde allmählich sumpfig. Nach rechts und nach links hin hätte man wohl einen halben Kilometer weit gehen müssen, um das nächste Waldesdickicht zu erreichen. Heute war höchstens ein, wie gewöhnlich, heftiger Niederschlag zu fürchten, der Himmel öffnete jedoch seine Schleusen nicht.

Wasservögel schwärmten zwar scharenweise über dem Sumpfe, Wiederkäuer aber zeigten sich kaum, was Max Huber sehr bedauerte. Die Enten und Trappen der vorhergehenden Tage hätte er so gern wieder durch Sassabys-Antilopen, Inyalas, Wasserböcke oder andere Vierfüßler ersetzt. Immer hielt er sich deshalb auch mit dem schußfertigen Gewehre, wie ein Jäger auf dem Anstand, vorn auf dem Flosse auf und spähte das Ufer ab, dem sich Khamis je nach den Windungen des Flusses gerade mehr näherte.

Man mußte sich also zum Mittagsessen wohl oder übel mit Keulen und Flügeln von Vögeln begnügen. Verwunderlich war es ja nicht, daß die Theilnehmer an der Karawane des Portugiesen Urdax ihrer täglichen Nahrung etwas überdrüssig wurden. Nichts als gebratenes, geröstetes oder gekochtes Fleisch und dazu einfaches Wasser, kein Obst, kein Brod, kein Körnchen Salz! Zuweilen wohl Fisch, doch in nicht schmackhafter Zubereitung. Sie sehnten sich recht sehr, nach den ersten Ansiedlungen am Ubanghi zu kommen, wo sie alle diese Entbehrungen, dank der großen Gastfreundlichkeit der Missionäre, gewiß bald vergessen würden.[138]

Am heutigen Tage suchte Khamis vergeblich nach einem geeigneten Halteplatze. Die mit hohem Gesträuch bestandenen Ufer erschienen völlig ungangbar. Wie sollte es an ihrem halb erweichten unteren Theile möglich sein, sie zu betreten? Für das Vorwärtskommen war dieser Umstand sogar günstig, denn das Floß setzte infolgedessen seine Fahrt ununterbrochen fort.

So ging es bis gegen fünf Uhr weiter. John Cort und Max Huber plauderten inzwischen von den Erlebnissen während der Reise. Sie erinnerten sich der verschiedenen Vorfälle seit dem Aufbruche aus Libreville, der anregenden und erfolgreichen Jagden im Gebiete des oberen Ubanghi, der reichen Beute an Elefanten, der Gefahren des Zuges, die sie im Laufe von zwei Monaten so glücklich überstanden hatten, und ferner ihrer unbehinderten Rückkehr bis zu dem Tamarindenhügel, der beweglichen Feuer, des Auftauchens der Pachydermenherde und ihres Angriffes auf die Karawane, sowie der Flucht der Träger, des traurigen Endes des Händlers Urdax, der nach dem Sturz des Baumes elend zertreten wurde, und der Verfolgung durch die Elefanten, die erst am Waldessaum aufhörte.

»Ein trauriger Ausgang des so glücklich begonnenen Zuges, schloß John Cort. Und wer weiß, ob ihm nicht ein zweiter und eben so schlimmer noch bevorsteht?

– Das ist wohl möglich, meiner Ansicht nach aber nicht wahrscheinlich, lieber John.

– Nun ja, ich übertreibe vielleicht etwas.

– Nein, sogar bestimmt, denn dieser Wald birgt nicht mehr Geheimnisse als Euere großen Waldungen im fernen Westen, und wir haben obendrein nicht einmal einen Ueberfall durch Rothhäute zu besorgen! Hier giebt es weder Nomaden, noch Ansässige, keine Chiloux, Denkas oder Monbullus, jene wilden Sippen, die durch die Gebiete des Nordostens ziehen und »Fleisch! Fleisch!« rufen, wie echte Menschenfresser, die zu sein sie ja eigentlich nicht aufgehört haben. Nein, und dieser Wasserlauf, dem wir den Namen Rio Johausen gegeben haben, den des Mannes, dessen Spuren ich so gern nachgegangen wäre, dieser friedliche, sichere Fluß wird uns mühelos bis zu seiner Einmündung in den Ubanghi tragen.

– Den Ubanghi, lieber Max, an den wir auch auf dem Wege um den Wald herum gekommen wären, wie das der arme Urdax sich vorgenommen hatte, und dann noch dazu in einem bequemen Wagen, wo es uns bis zum Ziele der Reise an gar nichts gefehlt hätte![139]

– Du hast ja recht, bester John, das wäre besser gewesen. Entschieden gehört dieser Wald auch zu denen der alltäglichsten Sorte und verdient keinen besonderen Besuch. Es ist eben ein Gehölz, ein großes Gehölz, weiter aber auch nichts! Du erinnerst Dich ja der Fackeln, die sich an seinem Rande hin und her bewegten und zwischen dem Gezweig der vordersten Bäume aufleuchteten... dann, als wir dahin kamen... nichts, keine Seele mehr zu entdecken!... Wohin zum Kuckuck, mögen jene Neger nur verschwunden sein!... Zuweilen kommt mir wirklich der Gedanke, sie in den Kronen der Baobabs, Bombax, Tamarinden und anderer Riesen des Waldes zu suchen... Nein, wahrlich, kein Mensch!

– Max! unterbrach ihn da John Cort.

– John? antwortete Max Huber.

– Willst Du einmal dort hinaus, stromabwärts sehen... dort am linken Ufer....

– Wie?... Ein Eingeborner?

– Ja, doch einer mit vier Beinen!... Sieh, da draußen über dem Gebüsch, ein paar prächtige, kielförmig gestaltete Hörner...«

Auch der Foreloper wandte seine Aufmerksamkeit jetzt derselben Stelle zu.

»Ein Büffel... sagte er.

– Hei, ein Büffel! wiederholte Max, das Gewehr ergreifend. Das giebt einmal ein leckeres Gericht, wenn ich den Burschen in gute Schußweite bekomme!«

Khamis legte das Steuer mit kräftiger Hand um. Das Floß trieb schräg auf die Uferwand zu; sehr bald war es nur noch etwa dreißig Meter davon entfernt.

»Also endlich ein gutes Beefsteak in Aussicht, murmelte Max Huber, der die Feuerwaffe gegen das linke Knie gestützt hatte.

– Du magst den ersten Schuß haben, Max, sagte John Cort, ich begnüge mich mit dem zweiten, wenn der nöthig würde.«

Der Büffel schien nicht geneigt, von der Stelle, wo er stand, zu weichen. Wohl schnüffelte er eifrig die Luft durch die weiten Nasenlöcher ein, erkannte aber nichts von der Gefahr, die ihm drohte. Da man nicht nach dem Herzen des Thieres zielen konnte, mußte der Kopf als Ziel gewählt werden, und das that auch Max Huber, als er das Thier gut ins Visier bekam.

Der Schuß krachte, der Schwanz des Büffels peitschte hinter dem Gebüsch die Luft und gleichzeitig erscholl ein schmerzhaftes Gebrüll, nicht das gewöhnliche, rauhe Blöken der Büffel... ein Beweis, daß dieser tödtlich getroffen war.[140]

»Hat gesessen!« jubelte Max Huber in befriedigter Jagdlust.

John Cort brauchte nicht erst noch zu feuern, was eine zweite Patrone ersparte. Das zwischen dem Gesträuch zusammengebrochene Thier glitt den Uferabhang hinunter und ein Blutstrom färbte längs des Ufers das klare Wasser des Rio.

Um das köstliche Beutestück nicht einzubüßen, steuerte das Floß nach der Stelle, wo der Wiederkäuer erlegt worden war, und der Foreloper machte sich daran, ihn zu zerlegen, um nur die eßbaren Theile mitzunehmen.

Die beiden Freunde bewunderten voller Freude dieses Exemplar der Wildochsen Afrikas, das von erstaunlicher Größe war. Wenn diese Thiere in Herden von zwei- bis dreihundert Köpfen über die Ebene dahinstürmen, kann man sich wohl vorstellen, welch wüthende Galoppade inmitten der von ihnen aufgewühlten Staubwolken das geben mag.

Hier handelte es sich aber um einen »Onga«, mit welchem Namen die Eingebornen die vereinzelt als Hagestolze umherschweifenden männlichen Büffel bezeichnen, die ihre europäischen Namensverwandten an Größe weit übertreffen. Die hiesigen haben auch eine mehr gerade Stirne, eine verlängerte Schnauze und mehr oval zusammengedrückte Hörner. Die Haut des Büffels dient zur Anfertigung vorzüglich guter Lederarbeiten, seine Hörner liefern das Material zu Tabakdosen und Kämmen, sein zähes schwarzes Fellhaar benutzt man zum Polstern von Stühlen und Sesseln, seine Filets, Coteletten und Rippenstücke aber geben eine ebenso schmackhafte wie stärkende Nahrung, gleichgiltig ob es sich um afrikanische, asiatische oder amerikanische Büffel handelt. Kurz, Max Huber hatte einen glücklichen Schuß gethan. Fällt ein Büffel aber nicht auf den ersten Schuß, so wird er zum furchtbaren Feinde, wenn er sich auf den Jäger stürzt.

Mit Hilfe des Beiles und seines Messers nahm Khamis die Ausweidung des Thieres vor, wobei seine Gefährten ihm so gut wie möglich helfen mußten. Das Floß durfte nicht unnöthigerweise überlastet werden, und zwanzig Kilogramm dieses appetitlichen Fleisches versprachen ja für mehrere Tage auszureichen.

Während nun diese wichtige Arbeit vor sich ging, war Llanga, der sonst immer gern beobachtete, was seine Freunde Max und John interessierte, diesmal unter dem Bananendache, und zwar aus folgendem Grunde zurückgeblieben:

Bei dem Knalle des Flintenschusses war sein kleiner Pflegling ein wenig aus der langen Betäubung erwacht und hatte mit den Armen eine leichte Bewegung gemacht. Hoben sich seine Lider dabei auch nicht in die Höhe, so entfloh[141] seinen entfärbten Lippen doch nochmals das einzige Wort, das Llanga bisher von ihm vernommen hatte:

»Ngora!... Ngora!«

Diesmal täuschte Llanga sich nicht. Das Wort traf sein Ohr ganz deutlich und er erkannte auch eine eigenthümliche Aussprache, eine Art Schnarrens, bei dem »r« in »Ngora«.

Ergriffen von dem schmerzlichen Ton des armen Wesens, faßte Llanga nach dessen Hand, die noch immer fieberhaft heiß war. Er füllte die Tasse mit frischem Wasser und versuchte, ihm einige Tropfen davon einzuflößen. Vergeblich. Die Kinnladen, die zwei Reihen blendend weißer Zähne zeigten, wichen nicht von einander. Da befeuchtete Llanga ein Bäuschchen trocknes Gras und netzte dem Kleinen vorsichtig die Lippen, was diesem recht wohlzuthun schien. Seine Hand drückte leise die, die ihn hielt, und noch einmal flüsterte er das Wort »Ngora«.

Der Leser erinnert sich ja, daß die Eingebornen dieses congolesische Wort gebrauchen, um den Begriff »Mutter« zu bezeichnen. Rief nun das kleine fremdartige Wesen wohl nach der seinen?...

Von Natur schon mitleidig, empfand Llanga noch eine Verdoppelung seiner Theilnahme bei dem Gedanken, daß dieses Wort vielleicht zum letzten Seufzer des armen Kleinen werden könne. – Ein Affe wäre es? hatte Max Huber behauptet.

... Nein, das war kein Affe. Llanga hätte es sich bei seinem Mangel an geistiger Ausbildung nicht erklären können.

Eine Zeit lang blieb er noch sitzen, streichelte einmal die Hand seines Pfleglings, benetzte ihm dann wieder die Lippen und stand nicht eher auf, als bis dieser wieder in tiefen Schlaf gesunken war.

Jetzt aber entschlossen, seinen Freunden alles mitzutheilen, näherte er sich den beiden jungen Männern, als das eben vom Ufer abgestoßene Floß wieder in die Strömung einlenkte.

»Na, fragte Max Huber nochmals lächelnd, wie steht's denn mit Deinem Affen?«

Llanga sah ihn ernst an, als zögere er zu antworten. Dann legte er aber die Hand auf Max Huber's Arm:

»Das ist kein Affe, sagte er bestimmt.

– Wie?... Kein Affe? wiederholte John Cort.[142]

– Laß ihn! Unser Llanga hat sich nun einmal auf seine Ansicht versteift, meinte Max Huber. Nicht wahr, Du bildest Dir ein, es sei ein Kind wie Du?

– Ein Kind... nicht wie ich... aber doch ein Kind!

– Ueberlege Dir, Llanga, fuhr John Cort in ernsterem Tone als sein Gefährte fort, Du behauptest, daß es ein Kind sei?...

– Ja... er hatte gesprochen... schon in vergangener Nacht.

– Er hat etwas gesprochen?

– Gewiß... und eben jetzt wieder.

– Und was sagt es denn, das kleine Wunderkind? fragte Max Huber.

– Er sagte leise »Ngora«...

– Wie, dasselbe Wort, das ich auch schon gehört habe? rief John Cort, der seine Verwunderung nicht verbergen konnte.

– Jawohl... »Ngora«,« versicherte der junge Eingeborne.

Jetzt war nur zweierlei möglich: entweder war Llanga das Opfer einer Sinnestäuschung oder er hatte den Verstand verloren.

»Das müssen wir untersuchen, sagte John Cort, und wenn es sich bestätigte, wäre es wenigstens etwas ganz außergewöhnliches, lieber Max!«

Beide traten unter das Schutzdach und betrachteten den kleinen Schläfer.

Auf den ersten Blick hin hätte wohl jeder erklärt, daß dieser zum Geschlechte der Affen gehöre. John Cort bemerkte aber bald, daß er hier keinen Vierhänder, sondern einen Zweihänder vor sich hatte. Nach Blumenbach's allgemein angenommener Eintheilung des Thierreiches weiß man aber, daß ganz allein der Mensch zur Ordnung der Zweihänder gehört. Dieses merkwürdige Geschöpf besaß nun bloß zwei Hände, während die Affen ohne Ausnahme deren vier haben, auch seine Füße schienen zum Gehen eingerichtet und nicht zum Greifen, wie die aller Affentypen.

John Cort wies Max Huber auf diese Unterscheidungszeichen hin.

»Merkwürdig... sehr merkwürdig!« sagte der Franzose.

Die Körperlänge des kleinen Wesens überstieg kaum fünfundsiebzig Centimeter. Es schien noch sehr jung, höchstens im fünften oder sechsten Lebensjahre zu sein. Seine Haut trug keine eigentliche Behaarung, sondern nur einen leichten Flaum. Auch Stirn, Kinn und Wangen waren frei von jedem Haarwuchs, der sich nur auf der Brust und den Ober- und Unterschenkeln zeigte. Seine Ohren gingen in einen runden, weichen Hautanhang aus, abweichend von den Affen, die keine Ohrläppchen haben. Die Arme erschienen nicht übermäßig lang. Die[143] Natur hatte es auch nicht mit einem »fünften Gliede« ausgestattet, wie die meisten Affen, mit einem Schwanze, der diesen zum Tasten und Festhalten dient. Sein mehr rundlicher Kopf zeigte einen Gesichtswinkel von ziemlich achtzig Graden, die Nase war stumpf, die Stirn wenig abfallend. Den Schädel bedeckten keine schlichten Haare, sondern eine Art Vlies, gleich dem der Eingebornen Centralafrikas. Offenbar wies an ihm alles, der äußeren Erscheinung und jedenfalls auch dem inneren Körperbau nach, weit mehr auf einen Menschen, als auf einen Affen hin.

Leicht wird man sich das Erstaunen vorstellen können, das Max Huber und John Cort erfüllte, als sie sich hier einem völlig neuen Wesen gegenüber sahen, das noch kein Anthropolog beobachtet hatte und das die Mitte zwischen dem Menschen und dem Thiere zu halten schien.

Ferner hatte Llanga versichert, daß der Kleine gesprochen habe, wenn da nicht darauf hinauskam, daß der junge Eingeborne für articulierte Laute gehalten hatte, was nur ein Schrei gewesen war, der keinerlei Gedanken ausdrückte, nur ein Schrei, der vom Instinct, nicht von der Intelligenz eingegeben war.

Die beiden Freunde standen schweigend beieinander und warteten, daß der Mund des Kleinen sich nochmals aufthun sollte, während Llanga diesem zärtlich Stirn und Schläfen wärmte. Seine Athmung war jetzt übrigens weniger keuchend, die Haut weniger heiß... das Fieber schien sich seinem Ende zu nähern. Endlich bewegten sich schwach die blutlosen Lippen.

»Ngora!... Ngora!« kam es klagend hervor.

»Sapperment, stieß Max Huber hervor, das geht einem doch über allen Verstand!«

Weder der eine noch der andere wollte glauben, was sie eben gehört hatten.

Wie, mochte dieses Geschöpf, das sicherlich nicht auf der höchsten Stufe des Thierreichs stand, sein, was es wollte... es besaß doch die Gabe des Wortes! Hatte es bisher auch nur jenes einzige Wort der congolesischen Sprache vernehmen lassen, so war doch nicht ausgeschlossen, daß es auch noch andere kannte, daß es eines Gedankens fähig war, dem es Ausdruck zu verleihen vermochte!

Bedauerlich blieb es vorläufig nur, daß es die Augen nicht aufschlug, den Spiegel der Seele, in dem man so vieles erkennen kann. Die Lider blieben jedoch geschlossen, und nichts deutete darauf hin, daß sie sich bald öffnen sollten.[144]

Ueber den Kleinen niedergebeugt, harrte John Cort gespannt auf jedes Wort, auf jeden Schrei, der ihm entschlüpfen könnte. Er hob seinen Kopf etwas empor, ohne daß der Kleine aufwachte, wie groß war aber seine Ueberraschung, als er entdeckte, daß eine Schnur um dessen Hals gewunden war.

Er ließ diese Schnur aus Seidenfäden durch die Finger gleiten, um den Knoten zu finden, der sie hielt. Sofort rief er aber da:

»Eine Medaille!

– Eine Medaille?« wiederholte Max Huber.

John Cort löste den Knoten der Schnur.

Da fiel ihm eine Denkmünze aus Nickel in der Größe eines Sous in die Hand, mit einem Namen auf der einen und einem Gesichtsprofil auf der anderen Seite.

Der Name war der Johausen's, das Profil das Bild des Doctors.

»Er! rief Max Huber, und das Bürschchen hier geschmückt mit dem Orden des deutschen Gelehrten, dessen Hütte wir so leer aufgefunden haben!«


Alle wurden hinuntergeschleudert in den tosenden Strudel. (S. 149.)
Alle wurden hinuntergeschleudert in den tosenden Strudel. (S. 149.)

Daß diese Denkmünzen in der Gegend von Kamerun eine weite Verbreitung gefunden hätten, das war ja nichts erstaunenswerthes, da der Doctor viele solche an Frauen und Männer im Congobecken ausgetheilt hatte; daß sich ein solches Abzeichen aber gerade am Halse dieses merkwürdigen Bewohners von Ubanghi vorfand...

»Das ist rein phantastisch, erklärte Max Huber, vorausgesetzt, daß die Halbmenschen-Halbaffen diese Medaille nicht aus dem Kasten des Doctors gestohlen haben.«

Er winkte den Foreloper herbei, um ihm ihre außerordentliche Entdeckung mitzutheilen und ihn zu fragen, was er wohl von der Sache denke.

Fast gleichzeitig ließ sich aber auch die Stimme des Forelopers vernehmen.

»Herr Max!... Herr John!« tönte es herein.

Die beiden jungen Männer traten unter dem Schutzdache hervor und gingen auf Khamis zu.

»Horchen Sie einmal!« sagte dieser.

Fünfhundert Meter stromabwärts bog der Fluß schroff nach rechts hin ab, an einer Stelle, die wieder ein dichterer Baumbestand bedeckte. Lauschte man in dieser Richtung hin, so vernahm man ein dumpfes, unausgesetztes Geräusch, das mit dem Blöken von Wiederkäuern oder dem Brüllen von Raubthieren[147] nicht zu verwechseln war. Es erschien wie ein wüster Lärm, der mit der Annäherung des Flosses immer zunahm.

»Ein verdächtiger Lärm, sagte John Cort.

– Dessen Natur ich nicht zu errathen vermag, setzte Max Huber hinzu.

– Vielleicht befindet sich da draußen ein Wasserfall oder eine Stromschnelle, meinte der Foreloper. Der Wind weht aus Süden und ich fühle, daß die Luft auffallend feucht, fast nässend ist.«

Khamis täuschte sich nicht. Ueber den Rio hin trieben Wolken von Wasserstaub, die nur von einer heftigen Bewegung desselben herrühren konnten.

War der Fluß hier durch ein Hinderniß gesperrt und wurde der Weiterfahrt dadurch ein Ende gemacht, so war das ein so ernstes Ding, daß Max Huber und John Cort an Llanga und dessen Schützling gar nicht mehr dachten.

Das Floß trieb jetzt ziemlich geschwind weiter, und jenseit der Biegung mußte sich die Ursache des entfernten Geräusches ja bald zeigen.

Als die Biegung hinter ihnen lag, erwies sich die Befürchtung des Forelopers leider allzusehr begründet.

Etwa hundert Toisen weiter unten bildete eine Anhäufung dunkler Felsmassen eine von einem Ufer zum anderen reichende Barre, außer einer Oeffnung in der Mitte, durch die das Wasser schaumbekrönt hindurchrauschte. Im übrigen schlug es auf beiden Seiten gegen diesen Naturdamm an oder brandete stellenweise darüber hinweg. Hier befand sich also eine Stromschnelle in der Mitte, und stürzten Wasserfälle an den Seiten hinunter. Gelangte das Floß nicht nach einer der Uferwände und konnte es da nicht festgelegt werden, so wurde es mit hinweggerissen und mußte an der Barre in Trümmer gehen, wenn es nicht gar in der Strömung kenterte.

Alle hatten ihr ruhiges Blut bewahrt. Jetzt galt es aber, keinen Augenblick zu verlieren, denn die Schnelligkeit der Strömung nahm zusehends zu.

»Ans Ufer!... Ans Ufer!« rief Khamis.

Es war jetzt halb sieben Uhr und bei dem dunstigen Wetter herrschte schon bei Beginn der Dämmerung ein unbestimmtes Zwielicht, das die Unterscheidung aller Gegenstände erschwerte.

Die Sachlage wurde hierdurch nur noch verfänglicher.

Vergeblich bemühte sich Khamis, das Floß nach dem Ufer zu lenken. Seine Kräfte reichten dazu nicht aus. Max Huber sprang ihm zu Hilfe, um aus der Strömung zu kommen, die in gerader Linie auf die Mitte der Barre zu verlief.[148]

Zu Zweien erzielten sie wohl einigen Erfolg und es wäre ihnen schließlich gelungen, das Floß aus der Strömung zu drängen, wenn nicht das Steuer gebrochen wäre.

»Haltet Euch bereit, auf die Steine zu springen, ehe wir in die Stromschnelle gerathen... commandierte Khamis.

– Es bleibt uns nichts anderes übrig!« antwortete John Cort.

Auf diese laut ausgesprochenen Worte hin trat Llanga unter der Schutzdecke hervor. Er sah sich um und erkannte offenbar die drohende Gefahr, doch statt an sich zu denken, dachte er an den anderen, den armen Kleinen. Ihn nahm er in die Arme und kniete am Hintertheile des Fahrzeuges nieder.

Nach einer weiteren Minute war dieses wieder völlig in die Strömung hineingerissen. Vielleicht stieß es doch nicht gegen den Felsendamm und gelangte ohne umzuschlagen glücklich hindurch.

Doch nein, das Unglück kam heran und mit ungeheuerer Wucht prallte das gebrechliche Fahrzeug gegen einen der Blöcke an der linken Seite. Vergeblich versuchten Khamis und die anderen, sich an der Barre, auf die sie den Kasten mit Patronen, die Waffen und ihre wenigen Geräthe geworfen hatten, noch festzuhalten.

Alle wurden hinuntergeschleudert in den tosenden Strudel, als das Floß in Stücke ging, dessen Trümmer inmitten des schäumenden Wassers stromabwärts verschwanden.

Quelle:
Jules Verne: Das Dorf in den Lüften. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 135-145,147-149.
Lizenz:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon